Übersichtsarbeiten - OUP 01/2023
Diagnostik und Therapie der idiopathischen Skoliose
Florian Völlner
Zusammenfassung:
In der Gruppe der Skoliosen stellt die idiopathische Skoliose mit einem Anteil von ca. 80–90 % die größte Gruppe dar. Die idiopathischen Skoliosen werden in die idiopathische infantile (0–3 Jahre), juvenile (4–10 Jahre) und die Adoleszentenskoliose (> 10 Jahre) unterteilt. Die Diagnostik umfasst neben einer ausführlichen Anamnese, eine ausführliche körperliche Untersuchung sowie bildgebende Verfahren, wie die Oberflächenrasterstereometrie und Röntgenbildgebung. Die Therapie erfolgt in Abhängigkeit der Wahrscheinlichkeit der Progredienz der Skoliose, dem Cobb-Winkel der Wirbelsäulenkrümmung und Skelettalter. So werden milde Skoliosen konservativ, idealerweise mittels Krankengymnastik, Sport und evtl. dem konsequenten Tragen eines Korsetts behandelt. Hochgradige Skoliosen sollten operativ versorgt werden, wobei die Indikationsstellung individuell zu stellen ist und neben den Operationsrisiken eine ausführliche Aufklärung über die natural history der Skoliose, die postoperativen Einschränkungen, die das gesamte Leben betreffen, beinhalten sollte. Grundsätzlich stehen bei vorhandenem Wachstumspotential verschiedene Techniken wie traditionelle Wachstumsstäbe, magnetisch verlängerbare Wachstumsstäbe, aber auch neuere Techniken wie das vertebral body tethering zu Verfügung. Bei Skoliosen > 50° und einem ausgewachsenen Skelett sollte bei einer absehbaren Progredienz der Krümmungen zu einer Fusion geraten werden.
Schlüsselwörter:
Idiopathische Skoliose, Deformität, Korsett, konservative Therapie, operative Therapie
Zitierweise:
Völlner F: Diagnostik und Therapie der idiopathischen Skoliose.
OUP 2023; 12: 18–24
DOI 10.53180/oup.2023.0018-0024
Summary: In the scoliosis group, idiopathic scoliosis represents the largest group with a share of approximately 80–90 %. The group of idiopathic scoliosis itself is further divided into idiopathic infantile (0–3 years), juvenile, (4–10 years) and adolescent scoliosis (> 10 years), depending on the occurrence of the scoliosis. The therapy depends on the probability of progression of the scoliosis, the Cobb angle of the spinal curvature and skeletal parameters. Scoliosis in mild stages is treated conservatively, ideally with physiotherapy, sports and bracing. Servere scoliosis should be treated surgically, whereby the indication must be made individually. In principle, if there is growth potential, various techniques such as traditional growing rods, magnetically extendable growing rods or the vertebral body tethering are available. In the case of scoliosis > 50° and a fully grown skeleton, a fusion should be recommended, if a progress of the curvature is expected.
Keywords: Scoliosis, deformity, brace, conservative treatment, surgical treatment
Citation: Völlner F: Treatment of idiopathic scoliosis.
OUP 2023; 12: 18–24. DOI 10.53180/oup.2023.0018-0024
Medartes, Neutraubling
Definition der
idiopathischen Skoliose
Die idiopathische Skoliose ist definiert als eine strukturelle dreidimensionale Wirbelsäulendeformität mit einem Cobb-Winkel in der Frontalebene von mindestens 10° und eine Rotations- bzw. Torsionskomponente der Wirbelkörper. Die Skoliose ist (teil-)fixiert und kann weder aktiv noch passiv vollständig korrigiert werden. Davon abzugrenzen sind funktionelle Skoliosen oder „skoliotische“ Fehlhaltungen. Es handelt sich hierbei um eine alleinige Verkrümmung der Wirbelsäule in der Frontalebene ohne erkennbare strukturelle Veränderung oder eine Rotation der Wirbelkörper. Ursachen einer funktionellen Skoliose sind z.B. lokale Schmerzen im Sinne einer Lumbalgie oder eine Beinlängendifferenz mit konsekutivem Beckenschiefstand. Die funktionelle Skoliose ist dabei mit der Behandlung der Grundpathologie reversibel. Eine Sonderform der funktionellen Skoliose stellt die Säuglingsskoliose dar. Sie zeichnet sich durch einen langstreckigen, meist linkskonvexen Bogen aus und tritt im Alter von wenigen Monaten auf. Der Bogen ist in Bauchlage des Säuglings in beide Richtungen flexibel, eine Spontanheilung ist in 95 % der Fälle zu erwarten.
Ätiopathogenese und
Epidemiologie der Skoliose
Im Bereich der Skoliosen unterscheidet man die idiopathischen Skoliosen von den sekundären Skoliosen. Die Ätiologie für die idiopathischen Skoliosen ist weitgehend unbekannt. Aufgrund der erhöhten Inzidenz bei Verwandten ersten Grades (7–16 %) im Vergleich zu Normalbevölkerung (1,8 %) scheint eine genetische Prädisposition sicher. Darüber hinaus werden individuelle Störungen der Neuromodulation oder ein disproportionales Wachstum der vorderen und hinteren Anteile der Wirbel diskutiert [3]. Die idiopathische Skoliose ist mit 80–90 % aller Fälle die größte Gruppe der Skoliosen. In Abhängigkeit des Entstehungsalters der Skoliose wird die idiopathische Skoliose weiter in
3 Subtypen unterteilt: Die infantile Skoliose (0–3 Jahre), die juvenile Skoliose (4–10 Jahre) und die adoleszente Skoliose (> 10 Jahre). Der Anteil der infantilen Skoliosen beträgt 1–2 % an den idiopathischen Skoliosen. Wegen der starken Progredienz ist die Prognose trotz frühzeitiger Korsettbehandlung schlecht, vor allem auch wegen der Einschränkung der Lungenfunktion. Die Skoliose ist meist linkskonvex und häufig mit einer
Kyphose assoziiert. Der Anteil der juvenilen Skoliosen beträgt 10–20 %. Auch sie haben aufgrund der Progredienz eine schlechte Prognose. Nur 5 % der Skoliosen sind nicht progredient, die übrigen nehmen bis zum 10. Lebensjahr jährlich um 1–3°, während des pubertären Wachstumsschubes um 5–10° pro Jahr zu [14]. Aufgrund des ähnlichen Progredienzverhaltens und ähnlicher Behandlungsstrategien werden die infantilen Skoliosen und die juvenilen Skoliosen daher auch zu den Early-Onset-Skoliosen (EOS) zusammengefasst. In der Gruppe der idiopathischen Skoliosen ist die Adoleszentenskoliose mit 80–90 % wiederum die größte Untergruppe. Die Prävalenz beträgt in unseren Breitengraden etwa 2–3 % für Skoliosen mit einem Cobb-Winkel von > 10° bzw. für Skoliosen mit einem Cobb-Winkel > 20° ca. 0,5 %. Das Verhältnis weiblich/männlich variiert
zu Ungunsten des weiblichen Geschlechts und beträgt für gering ausgeprägte Krümmungen 1:1, hingegen für moderate Verkrümmungen > 20° 4:1 und für schwere und sehr schwere Verkrümmungen 7:1.