Übersichtsarbeiten - OUP 02/2024
Glenoiddefekte in der Primären und Revisionsendoprothetik des SchultergelenksMetallischer oder knöcherner Aufbau mittels Allo- und Autograft
Roderich Heikenfeld
Zusammenfassung:
In den letzten Jahren hat eine erhebliche Entwicklung verfügbarer Glenoidimplantate im Rahmen der Primären oder Revisionsendoprothetik des Schultergelenks stattgefunden. Hierdurch ergeben sich neue Möglichkeiten der Adressierung von knöchernen Defekten. Zum einen kann eine metallische Defektauffüllung in Frage kommen durch Implantate mit keilförmiger Rückfläche [Wedge Glenoide) oder in sehr schwierigen Fällen als patientenindividuelles Implantat. Zum anderen kann eine knöcherne Rekonstruktion mit Autografts – hier in erster Linie der Humeruskopf oder Beckenkamm – oder Allografts erfolgen, die üblicherweise in Form eines thermodesinfizierten Hüftkopfes verwendet werden. Unter Berücksichtigung der jeweils unterschiedlichen Indikationen lassen sich auch für komplexe Versorgungen zuverlässige Ergebnisse erzielen.
Schlüsselwörter:
Glenoid, Glenoidrekonstruktion, Allograft, Autograft, Schulterprothese
Zitierweise:
Heikenfeld R. Glenoiddefekte in der Primären und Revisionsendoprothetik des Schultergelenks. Metallischer oder knöcherner Aufbau mittels Allo- und Autograft
OUP 2024; 13: 56–60
DOI 10.53180/oup.2024.0056-0061
Summary: In recent years there has been a significant development of available glenoid implants as part of primary or revision arthroplasty of the shoulder joint. This opens up new possibilities for addressing bony defects. On the one hand, a metallic defect filling can be considered using implants with a wedge-shaped back surface or, in very difficult cases, as a patient-specific implant. On the other hand, bony reconstruction can be carried out with autografts – here primarily the humeral head or iliac crest – or allografts, which are usually used in the form of a thermodisinfected femoral head. Taking into account the different indications, reliable results can be achieved even for complex restorations.
Keywords: Glenoid, bone loss, glenoid reconstruction, autologous bone graft, alleologous bone graft, shoulder arthroplasty. Metallic or bony augmentation with alleologous or autologous grafts
Citation: Heikenfeld R. Glenoid bone loss in primary and revision shoulder arthroplasty
OUP 2024; 13: 56–61. DOI 10.53180/oup.2024.0056-0060
Zentrum für Schulter-, Ellenbogen- und Handchirurgie, Zentrum für Orthopädie und Unfallchirurgie, St. Anna Hospital Herne
Einleitung
Im Rahmen des endoprothetischen Ersatzes des Schultergelenks stellt die Rekonstruktion von knöchernen Defekten des Glenoids eine Herausforderung dar. Neben einer insuffizienten Fixierung der Glenoidkomponente kann eine nicht korrekte Rekonstruktion von knöchernen Defekten zu einer erhöhten Komplikationsrate in Form von Instabilität, Luxationen, Scapular Notching und frühzeitiger Lockerung führen. Des Weiteren sind die funktionellen Ergebnisse bei dem Prothesentyp angepasster Lateralisation besser. Es gilt, so viele Anteile des M. Deltoideus wie möglich in korrekter Vorspannung und mit ausreichendem Hebelarm für die aktive Bewegung zu rekrutieren [3]. Implantatseitig haben sich in den letzten Jahren deutliche Entwicklungen ergeben. Hier sind zunächst modulare Glenoide mit variabler Peg-Länge zu erwähnen sowie augmentierte Glenoide mit unterschiedlichen Wedges. Instrumentarien für die Entnahme und Präparation eines strukturellen Grafts aus dem – wenn noch vorhandenem – Humeruskopf oder Allograft-Hüftkopf ermöglichen ein standardisiertes Vorgehen. Individuell angefertigte Glenoidimplantate können helfen, auch höchst schwierige Versorgungen durchzuführen. Diese Rekonstruktionen sind in fast allen Fällen als inverse Versorgung möglich. Nur in Ausnahmefällen wird eine anatomische Prothese mit Glenoidaufbau möglich sein, da ein korrektes Weichteilbalancing technisch sehr schwierig ist oder aufgrund einer insuffizienten Rotatorenmanschette nicht möglich ist.
Präoperative Planung
Erster Schritt der Planung eines endoprothetischen Ersatzes am Schultergelenk ist die Identifikation und Einordnung eines möglichen Glenoiddefektes. Erste Hinweise liefert sicherlich schon eine Röntgenaufnahme, z.B. durch eine Medialisierung des Gelenks (Abb. 1). Es ist aber empfehlenswert, in allen fraglichen Fällen ein CT zu veranlassen, da sich komplexe Defekte nur computertomografisch sicher darstellen lassen. Coronare, sagittale und 3D-Rekonstruktionen gehören inzwischen zum Standard. Zudem lassen sich die CT-Daten in unterschiedliche Planungssoftwareplattformen implementieren (Abb. 2). Zur Klassifikation der Glenoidmorphologie bei der Primärimplantation hat sich die Einteilung von Walch bewährt [2]. Gohlke entwickelte eine Klassifikation, initial für den Revisionsfall gedacht, die gleichzeitig Empfehlungen für eine mögliche Aufbaustrategie gibt [6]. Weitere gebräuchliche Einteilungen sind die Antuna-Klassifikation [1] sowie die von Williams [13]. Ist bei einer Primärimplantation ein knöcherner Aufbau geplant, bietet sich die Verwendung des zu
resezierenden Humeruskopfes als Transplantat an.
Entwicklung der
Glenoidimplantate
Im letzten Jahrzehnt ist von Seiten der Industrie eine enorme Weiterentwicklung der Glenoidimplantate vorangetrieben worden. Historisch ist ein knöcherner Glenoidaufbau bereits durch Neer mit zementierten, anatomischen Glenoiden in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts durchgeführt worden [9]. Allerdings handelte es sich nicht um eine routinemäßige Verwendung dieser Technik, zumal eine knöcherne Augmentation in Verbindung mit einem zementierten Implantat biomechanisch keine optimale Lösung darstellt. Die zunehmende Verbreitung der inversen Prothese – und damit des zementfreien Metal Backs – schuf neue Möglichkeiten in dieser Hinsicht. Es stellte sich aber heraus, dass die Peg-Länge des Glenoidimplantats entscheidend ist, da eine Mindestlänge im nativen Glenoid verankert sein muss. Walch stellte frühzeitige Lockerungen des Glenoids bei der knöchernen Auffüllung von B2-Glenoiden bei inverser TEP fest, da die Länge des Peg nicht ausreichte, um nach Einsetzen des Knochenspans eine ausreichende Stabilität im nativen Glenoid zu gewährleisten [8]. Von mehreren führenden Anbietern sind in der Zwischenzeit Implantate mit verschiedenen Längen und Durchmessern des Pegs auf den Markt gebracht worden. Je nach Hersteller wird dies als einteiliges oder modulares Glenoid realisiert. Viele Operateure streben eine Verankerung des Pegs von mindestens 10 mm im nativen Glenoid an [7]. Das 3-Säulen-Modell stellt schematisch das Prinzip der Verankerung mit gleichzeitigem knöchernem Aufbau dar (Abb. 3). Ziel ist es, eine maximal mögliche Kompression auf den Span auszuüben, um eine sichere Einheilung zu ermöglichen.