Übersichtsarbeiten - OUP 01/2016

Evidenzbasierte Therapie der proximalen Humerusfraktur3
Wann konservativ, wann operativ?When non-operative – when surgical treatment?

Christian Krettek1, Nael Hawi2, Ulrich Wiebking1

Zusammenfassung: Etwa 80 % der proximalen Humerusfrakturen sind wenig oder nicht disloziert. Studien belegen, dass diese Frakturen in allen Altersgruppen mit sehr gutem Ergebnis konservativ behandelt werden können.

Etwa 80 % der Patienten mit proximalen Humerusfrakturen sind über 60 Jahre alt. In mehreren (n = 4) prospektiv randomisierten Studien konnte gezeigt werden, dass die konservativ behandelten Patienten trotz verbleibender Fehlstellung in der Altersgruppe der über 60-Jährigen vergleichbare Behandlungsergebnisse erzielen wie die operativ mit Plattenosteosynthese oder Schulterprothese versorgten Patienten.

In der Vergangenheit wurde bei dislozierten Frakturen (> 1 cm, > 45°) des älteren Patienten ein operatives Vorgehen (Platte, Nagel, Frakturprothese) empfohlen. Dieses Vorgehen kann heute unter Kenntnis der neueren prospektiv randomisierten Studien nicht mehr empfohlen werden, vielmehr müssen hier die konservative Behandlung oder die inverse Prothese in Betracht gezogen werden.

Winkelstabile Platte und Verriegelungsnagel haben bei hohen Komplikationsraten um 30 % und Revisionsraten um 20 % die Erwartungen vor allem beim älteren Patienten nicht erfüllen können.

In allen Altersgruppen gibt es Frakturen mit zwingender OP-Indikation aufgrund der Begleitumstände wie Luxationsfrakturen, manche Headsplit-Frakturen, Serienverletzungen, offene und pathologische Frakturen.

Schlüsselwörter: proximale Humerusfraktur, konservative Behandlung, operative Behandlung, Review

Zitierweise
Krettek C, Hawi N, Wiebking U: Evidenzbasierte Therapie der proximalen Humerusfraktur. Wann konservativ, wann operativ?
OUP 2016; 1: 022–032 DOI 10.3238/oup.2015.0022–0032

Summary: Approximately 80 % of proximal humerus
fractures are un- or minimally displaced. Several studies show, that the large majority of these fractures have good or excellent results after non-operative treatment.

Also approximately 80 % of patients with proximal humerus fractures are above 60 years. Several (n = 4) prospective randomized clinical trials show, that in this age group – despite malalignment – the results are not different from surgical treatment (locking plate, prosthesis). Therefore the recommendation for surgery in these fractures is not any longer supported, since surgical treatment (locking plate) has much more problems (30 % complications, 20 % revisions).

In all age groups, there are fractures where surgical treatment has clear benefits. These are fracture dislocations, some head split fractures, serial fractures, open as pathologic fractures.

Keywords: proximal humerus fracture, non operative treatment, operative treatment, review

Citation
Krettek C, Hawi N, Wiebking U: Evidence based therapy of proximal humerus fractures. When non-operative – when surgical treatment? OUP 2016; 1: 022–032 DOI 10.3238/oup.2015.0022–0032

Einleitung

Die proximale Humerusfraktur ist eine der häufigsten Frakturen des Menschen. Etwa 80 % der Frakturen sind wenig oder nicht disloziert. Etwa 80 % der Patienten sind über 60 Jahre alt. In der Vergangenheit wurde bei dislozierten Frakturen (> 1 cm, > 45°) des älteren Patienten das operative Vorgehen (Platte, Frakturprothese) empfohlen. Dieses Vorgehen kann heute unter Kenntnis der neueren prospektiv randomisierten Studien nicht mehr empfohlen werden, vielmehr müssen hier die konservative Behandlung oder die inverse Prothese in Betracht gezogen werden.

Klassifikation

In der Neer-Klassifikation werden die Frakturen nach Anzahl und Lokalisation der dislozierten Fragmentblöcke eingeteilt. Eine Fragmentverschiebung von mehr als 1 cm und/oder Achsabweichung von mehr als 45° werden als ’disloziert’ eingestuft, darunter liegende Verschiebungen gelten als minimal disloziert, unverschobene Frakturen als undisloziert [23].

Bei allen bis heute existierenden Klassifikationen konnte eine nur relativ schwache Intra- und Interobserver-Verlässlichkeit und -Reproduzierbarkeit gefunden werden. Dies gilt auch bei Einsatz von 3D-CT-Bildern. Beide Klassifikationen bieten nur eine begrenzte Hilfestellung für die Therapieentscheidung. Der Wert der Neer-Klassifikation liegt vor allem in der besseren Einschätzbarkeit und Beurteilbarkeit von jüngsten Studien mit dislozierten Frakturen nach der Neer-Klassifikation [10, 11, 26, 27].

Therapieempfehlungen auf Basis der kontrovers diskutierten Definition von ’wenig disloziert’ (< 1 cm, < 45°) müssen ggf. auf Basis neuer zukünftiger Studien vor allem beim jungen Patienten kritisch überdacht werden [4, 22]. Hier ist die Toleranz für Fehlstellungen geringer im Vergleich zum älteren Patienten. Bis heute ist wenig klar, bis zu welchem Ausmaß Fehlstellungen toleriert werden.

Indikationsstellung
und Therapie

Court-Brown et. al. haben gezeigt, dass beim älteren Patienten Alter, Dislokationsgrad und Frakturtyp die wesentlichen Prädiktoren für das funktionelle Behandlungsergebnis nach proximaler Humerusfraktur sind. Die Art des Behandlungsverfahrens (Osteosynthese oder nicht operative Behandlung) hatten dagegen keinen Einfluss auf das Behandlungsergebnis [7].

Für die Behandlung dislozierter Frakturen steht eine Reihe von Optionen zur Verfügung. Die chirurgischen Behandlungsmöglichkeiten beinhalten offene oder geschlossene Reposition und Stabilisierungsverfahren unter Verwendung von Drähten, Cerclagen, Nägeln, Fixateur externe und Schrauben. Prothetischer Gelenkersatz unter Verwendung konventioneller oder inverser Prothesen oder konservative Therapie sind weitere Möglichkeiten [1, 3, 20, 25, 28, 29, 32].

Plattensysteme mit nicht winkelstabiler Platten-Schraubenverbindung sind insbesondere beim Patienten mit schwerer Osteoporose durch eine hohe Repositionsverlustrate kompliziert. Vor diesem Hintergrund war der Einsatz winkelstabiler Plattenfixateure mit großen Erwartungen in Bezug auf eine verbesserten Erhalt des Repositionsergebnisses verbunden [15, 30]. Diese Erwartungen haben sich vor dem Hintergrund hoher Komplikationsraten und enttäuschender funktioneller Ergebnisse nicht erfüllt. Zwar haben sich die radiologisch-anatomischen Ergebnisse durch den Einsatz der Winkelstabilität verbessert, die funktionellen Ergebnisse hinken aber hinter der verbesserten Anatomie weit hinterher.

Die Studienlage beim älteren
Patienten mit dislozierter
proximaler Humerusfraktur: Vier Prospektiv randomisierte Studien

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