Übersichtsarbeiten - OUP 06/2013
Höchstleistung ohne Kreuzband3 Wege nach dem Riss3 ways after rupture
Patienten, die auch diese Hürde erfolgreich meistern, bezeichnet man als Coper. Sie zeichnen sich durch eine gute, symptomfreie Kniegelenkfunktion auch bei hohem Funktionsanspruch in High-Impact-Sportarten aus. Coper können mit großer Wahrscheinlichkeit weiter konservativ behandelt werden, ohne dass eine größere Gefahr für die passiven Strukturen des Kniegelenks besteht.
Dann gibt es die sogenannten Adapter. Sie erreichen zwar ihr altes Leistungsniveau nicht mehr, reduzieren aber von sich aus ihren Funktionsanspruch so weit, dass keine Instabilitätsepisoden oder andere klinischen Zeichen entstehen. Die letzte Gruppe sind die Noncoper. Das sind Patienten, bei denen die Symptome trotz guter Compliance und optimaler Betreuung persistieren. Sie versuchen, ihr Leistungsniveau von vor der Verletzung zu erreichen, schaffen es aber nicht. Bei Noncopern steigt die Wahrscheinlichkeit für eine operative Versorgung.
Kann ein Noncoper zum
Coper werden?
Chmielewski [4], Hurd [13] und Rudolph [23] zeigten mit ihren Forschungsteams, dass Noncoper ihr Bewegungsverhalten spezifisch verändern. Die Wissenschaftler hatten unterschiedliche funktionelle Übungsformen geprüft, beispielsweise den Einbeinstand, das Auf- oder Absteigen von einer Stufe und das normale Gehen. Noncoper hatten bei diesen Aufgaben einen größeren oder kleineren Beugewinkel im Kniegelenk als Gesunde und Coper. Außerdem flektierten Sie beim Aufsteigen auf eine Stufe ihr Hüftgelenk mehr. Neben diesen kinematischen Veränderungen bestehen bei Noncopern auch charakteristische kinetische und elektromyografische Merkmale, die man häufig unter dem Begriff „quadriceps avoidance“ zusammenfasst. Dabei wird der Kniegelenkstrecker während funktioneller Aufgaben häufig reduziert oder verspätet aktiviert. Die Ischiokruralen sind dagegen früher und mit einer höheren Aktivität ins Bewegungsprogramm eingebunden. Zusätzlich spannen sich Muskeln an – zum Beispiel der M. tibialis anterior –, die in diesen Bewegungsmustern normalerweise gar nicht aktiv wären.
All diese Veränderungen reduzieren das interne Kniegelenkmoment und scheinen eine zunächst sinnvolle Adaption auf eine Traumatisierung zu sein. Auf lange Sicht ist dieser Ansatz allerdings unökonomisch und nicht effektiv genug, um das Kniegelenk bei dynamischer Belastung zu stabilisieren [2, 12, 13]. Betrachtet man diese neuromuskulären und biomechanischen Veränderungen, ist gut vorstellbar, dass sie sich durch intensives Training verändern lassen und so ein Noncoper zum Coper werden könnte. Der von Fitzgerald definierte Rehazeitraum von 3–6 Monaten ist laut einer Arbeit von Moksnes und seinen Mitarbeitern [18] für diese Patienten möglicherweise zu kurz, um ausreichende Stabilisationsstrategien zu erlernen. Auf der anderen Seite ist auch denkbar, dass ein Coper zum Noncoper wird – beispielsweise aufgrund einer reduzierten neuromuskulären Reaktionsbereitschaft im Alter, die eine Destabilisierung des Kniegelenks nach sich zieht. Diesbezüglich gibt es bislang zwar keine Belege, der Denkansatz scheint jedoch durchaus berechtigt.
Langfristige Relevanz der Subgruppen noch ungeklärt
In Anbetracht der wirtschaftlichen Probleme im Gesundheitssystem liegt der kurzfristige Nutzen derartiger Subgruppierungen auf der Hand: Weniger Operationen führen zu geringeren Kosten. Nach Frobell und seinem Team [10] könnten bis zu 50 % der OPs zunächst verhindert werden. Allerdings ist momentan unklar, wie sich die Kosten im langen Untersuchungszeitraum entwickeln werden. Hier wird vor allem die Anzahl an Nachoperationen entscheidend sein [1]. Konservativ versorgte Patienten sind diesbezüglich eher im Nachteil, da beispielsweise Meniskusschäden, die bei einer VKB-Rekonstruktion mitversorgt werden können, häufig doch irgendwann operiert werden müssen.
Ob auf lange Sicht die Operierten oder die konservativ Versorgten im Vorteil sind, wird man sehen. Ein häufiges Argument für eine schnelle OP und damit gegen eine Subgruppierung ist der Zeitverlust, der entsteht, wenn der konservative Therapieversuch scheitert und letztlich doch operiert werden muss. Dagegen steht, dass viele Coper sicherlich früher in die Funktion zurückkehren als operierte Patienten. Das Ziel der Forschung sollte sein, die Einteilungskriterien für die jeweiligen Subgruppen weiter zu optimieren. Denn Subgruppierung ist ein moderner Therapieansatz, der bei anderen Pathologien, etwa unspezifischen Lenden- und Halswirbelsäulenschmerzen, bereits zu guten Ergebnissen führt [3, 9]. Möglicherweise lassen sich dadurch unnötige Operationen vermeiden und Kosten sparen. Ob diese Ziele erreicht werden, muss sich zeigen. Sicher ist jedoch: Einseitige, pauschale und nicht mehr zeitgemäße Empfehlungen können über den beschriebenen Weg durch eine individuelle Therapie ersetzt werden. Es lohnt sich zumindest, die Entscheidung pro oder kontra OP gut zu überdenken – und sich aus „Mangel an Beweisen“ vielleicht erst einmal lieber dagegen zu entscheiden.
Frank Diemer und Volker Sutor sind Physiotherapeuten, Buchautoren und gemeinsam mit Nedeljko Goreta Initiatoren der Weiterbildungsgruppe „Fortbildungen für orthopädische Medizin und manuelle Therapie“ (FOMT).
Interessenkonflikt: Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des Internatinal Committee of Medical Journal Editors besteht.
Korrespondenzadresse
Frank Diemer
Fortbildungen für orthopädische Medizin und manuelle Therapie
Wiesbadener Straße 16, 70372 Stuttgart
frank.diemer@fomt.info
Literatur
1. Bernstein J. Early Versus Delayed Reconstruction of the Anterior Cruciate Ligament. J Bone Joint Surg 2011; e-48
2. Boerboom AL, Hof AL, Halbertsma JPK et al. Atypical hamstrings electromyographic activity as a compensatory mechanism in anteriorcruciate ligament deficiency. Knee Surg Sports Traumatol 2001; 9: 211–216