Übersichtsarbeiten - OUP 04/2018
Möglichkeiten und Herausforderungen des individualisierten Beckenteilersatzes bei ausgeprägten azetabulären Defekten
Christian Scheele1, Norbert Harrasser1, Christian Suren1, Florian Pohlig1, Rüdiger v. Eisenhart-Rothe1, Peter Michael Prodinger1
Zusammenfassung: Die von hervorragenden Überlebensraten und exzellenten funktionellen Ergebnissen getriebene Ausweitung der Indikation des primären Hüftgelenksersatzes führt zu einer steigenden Zahl an Revisionseingriffen, bei denen immer häufiger ausgedehnte azetabuläre Knochendefekte zu versorgen sein werden. Obwohl eine Vielzahl verschiedener Versorgungsoptionen zur Verfügung steht, gelangen Standardrevisionsimplantate immer häufiger an die Grenzen ihres Indikationsbereichs. Insbesondere bei AAOS-Typ-4/Paprovsky-3b-Defekten führt der ursprünglich aus der Tumororthopädie stammende individualisierte
Beckenteilersatz bei adäquater Patientenselektion zu vielversprechenden Ergebnissen und entwickelt sich damit
zu einer etablierten Behandlungsoption der modernen
Revisionsendoprothetik.
Schlüsselwörter: Hüft-Revisionen, Individualimplantate, Beckendiskontinuität, Knochendefekt, Megaprothesen
Zitierweise
Scheele C, Harrasser N, Suren C, Pohlig F, von Eisenhart-Rothe R, Prodinger PM: Möglichkeiten und Herausforderungen des individualisierten Beckenteilersatzes bei ausgeprägten azetabulären Defekten. OUP 2018; 7: 204–211 DOI 10.3238/oup.2018.0204–0211
Summary: The increasing number of primary hip arthroplasty procedures, driven by excellent survival rates and functional outcomes, will lead to an increase in revision surgery. Consequently, surgeons will be confronted more and more often with complex osseous defects that have to be reconstructed. Although many different treatment options are available for acetabular revision, the use of standard implants is limited to contained defects. Especially in AAOS-Typ-4/Paprovsky-3b-defects, patient-specific implants -first used in musculoskeletal oncology- can lead to promising results in selected cases. Thus, individualized implants have become an established treatment modality in revision arthroplasty of the pelvis.
Keywords: hip revision surgery, customized implants, pelvic discontinuity, bone loss, megaprosthesis
Citation
Scheele C, Harrasser N, Suren C, Pohlig F, von Eisenhart-Rothe R, Prodinger PM: Prospects and challenges of individualized implants in the treatment of large acetabular defects.
OUP 2018; 7: 204–211 DOI 10.3238/oup.2018.0204–0211
1 Klinik für Orthopädie und Sportorthopädie, Klinikum rechts der Isar, Technische Universität München
Einleitung
Der primäre Hüftgelenkersatz gilt als eine der größten Errungenschaften der Medizin des 20. Jahrhunderts [17, 35, 50]. Überlebensraten von mehr als 95 % nach über 10 Jahren und hervorragende funktionelle Ergebnisse führten zu einer stetigen Ausweitung der Indikation auf immer jüngere und aktivere Patientengruppen [19, 37]. Mit dieser Steigerung der Primäreingriffe ging eine zunehmende Anspruchshaltung bzgl. Aktivitätsniveau und Lebensqualität einher [19, 37]. Die Kombination beider Entwicklungen bedingt einen deutlichen Anstieg der Revisionseingriffe. So stieg die Zahl der Hüftrevisionen in Deutschland seit 2006 um durchschnittlich 2,8 % pro Jahr und lag 2016 bei ca. 26.500 Eingriffen [27].
Die führenden Indikationen zur Revision stellen dabei Instabilität und Dislokationen (22,5 %), mechanische Lockerungen (19,7 %) und Infektionen (14,8 %) dar, wobei die azetabuläre Komponente in über der Hälfte der Revisionen beteiligt ist [7, 34]. Insbesondere nach multiplen Voroperationen oder langen Standzeiten kommt es hierbei oft zu erheblichen Knochendefekten im Bereich des Beckens [4, 31]. Diese resultieren aus einem Zusammenspiel von Osteolyse, Stress-Shielding und mediokranialer Migration der Pfanne. Das operative Management dieser Defekte zählt bereits heute zu den größten Herausforderungen der Revisionsendoprothetik. Ziel der Versorgung ist eine stabile Verankerung des Implantats mit anatomischer, biologienaher Rekonstruktion des Knochenlagers und des physiologischen Drehzentrums. Intraoperativ wird die Herstellung einer hohen Primärstabilität, möglichst im vitalen autochthonen Knochen, angestrebt. Diese gilt als Voraussetzung für eine subsequente knöcherne Integration und damit für eine ausreichende Sekundärstabilität [21, 28, 29].
Für die klinische Praxis ist ein standardisiertes Revisionskonzept erforderlich, um auch bei ausgedehnten, individuellen Defekten lange Standzeiten und gute funktionelle Ergebnisse zu ermöglichen. Die präoperative Planung mit Analyse und Klassifikation der knöchernen Defektsituation ist entscheidend für die Wahl der adäquaten Behandlungsstrategie aus einer Vielzahl verfügbarer Optionen.
Präoperative Planung
Der Erfolg der Revisionsendoprothetik basiert, insbesondere bei massiven Knochendefekten, auf einer sorgfältigen präoperativen Planung. Von zentraler Bedeutung ist die individuelle Patientengeschichte unter Beachtung patientenspezifischer Risiken und Begleiterkrankungen sowie die Kenntnis der einliegenden Implantate. Zudem muss stets der Ausschluss eines periprothetischen Infekts erfolgen [36]. Grundlage der radiologischen Analyse bildet die konventionelle Röntgendiagnostik, bestehend aus einer auf die Symphyse zentrierten Beckenübersichtsaufnahme und einer axialen Hüftgelenksaufnahme. Anhand verschiedener radiologischer Kriterien sowie dem Vergleich mit Voraufnahmen kann die Beurteilung der Pfannenzirkumferenz sowie der Ursachen des Implantatversagens erfolgen [21]. Ergänzend erleichtert die Computertomografie die Beurteilung der Komponentenausrichtung, der genauen Lokalisation ggf. vorhandener Schrauben und Platten und des tatsächlichen Knochendefekts. Dieser wird anhand der konventionellen Röntgendiagnostik häufig unterschätzt (vgl. Abb. 1) [16, 26]. Darüber hinaus sind spezielle CT-Protokolle für die Konstruktion eines individualisierten Beckenteilersatzes, der vor allem bei ausgedehnten Defekten oft die einzige Behandlungsalternative darstellt, erforderlich.
Bei ausgeprägter Pfannendislokation ins kleine Becken kann ergänzend eine Angiografie bzw. eine Darstellung der ableitenden Harnwege durchgeführt werden, wodurch mögliche Kompressionen oder Perforationen erkannt und intraoperative Komplikationen (z.B. durch eine Schienung des ipsilateralen Ureters) vermieden werden [21].
Analyse und Klassifikation des Knochendefekts
Die Analyse und Klassifikation der knöchernen Defektsituation ist entscheidend für die Rekonstruktionsstrategie. Zwei weit verbreitete Klassifikationssysteme sind das American-Academy-of-Orthopaedic-Surgeons(AAOS)-System, das von D’Antonio et al. beschrieben wurde sowie die Klassifikation nach Paprosky et al. (Abb. 2, 3) [5, 39].
Aus klinischer Sicht ist insbesondere die Klassifikation der AAOS gut umsetzbar [14]. Sie kategorisiert den azetabulären Knochendefekt nach Muster und Position von Typ 1 bis Typ 4, beinhaltet jedoch nicht das quantitative Ausmaß des ossären Substanzdefekts. Die Paprosky-Klassifikation umfasst sowohl die präoperative Bildgebung als auch intraoperative Befunde. Auf Grundlage von Ort und Ausmaß des Knochenverlusts werden die Defekte von Typ 1 bis Typ 3 klassifiziert (vgl. Abb. 3) [8, 40].