Übersichtsarbeiten - OUP 05/2020
Physiotherapie und Physikalische Therapie in der Behandlung von RückenschmerzenPotential und Limitationen
Anke Steinmetz
Zusammenfassung:
Physiotherapie und Physikalische Therapie haben traditionell einen hohen Stellenwert in der Rückenschmerzbehandlung. Im Jahr 2017 wurden bei insgesamt 37,2 Millionen Heilmittelrezepten in 83,8 % der Fälle Physiotherapie verordnet. Diese wurde bei knapp einem Drittel der Patienten zur Behandlung von Rückenschmerzen (ICD M54) eingesetzt. Mit 64,5 % am häufigsten wurde klassische Krankengymnastik rezeptiert, knapp ein Viertel der Patienten erhielt Manuelle Therapie [1]. Wissenschaftlich wird die Evidenz von Physiotherapie und Physikalischen Maßnahmen sowohl beim akuten wie chronischen Rückenschmerz immer wieder diskutiert. Dies zeigt sich insbesondere in den Empfehlungen der Nationalen Versorgungsleitlinie Nicht-spezifischer Kreuzschmerz [2] und der Leitlinie Spezifischer Kreuzschmerz [3]. Der Einsatz von Physiotherapie und Physikalische Therapie im Rahmen multimodaler Therapiekonzepte wird in Bezug auf die Multimodale Schmerztherapie (OPS 8–918) kritisch diskutiert [2]. Im multimodalen ANOA-Konzept stellen Physiotherapie und Physikalische Maßnahmen dagegen zentrale Therapiebausteine in der Behandlung von Rückenschmerzen dar, was sich auch in der Multimodalen-nichtoperativen Komplexbehandlung des Bewegungssystems (OPS 8–977) widerspiegelt.
Schlüsselwörter:
Physiotherapie, Physikalische Therapie, Evidenz, Multimodale Therapiekonzepte, ANOA-Konzept
Zitierweise:
Steinmetz A: Physiotherapie und Physikalischen Therapie in der Behandlung von Rückenschmerzen.
OUP 2020; 9: 326–329 DOI 10.3238/oup.2020.0326–0329
Summary: Physiotherapy and physical therapy traditionally have a high priority in the treatment of back pain. In 2017, physiotherapy was prescribed for a total of 37.2 million remedy prescriptions in 83.8 %of cases. Almost one third of the patients received physiotherapy for the treatment of back pain (ICD M54). At 64.5 % classical physiotherapy was the most frequently prescribed method, and just under a quarter of patients received manual therapy [1]. The scientific evidence of physiotherapy and physical measures for both acute and chronic back pain is repeatedly discussed. This is particularly evident in the recommendations of the National Care Guideline for Non-Specific Backache [2] and the Guideline for Specific Backache [3]. The use of physiotherapy and physical therapy in the context of multimodal therapy concepts is increasingly critically discussed in relation to multimodal pain therapy (OPS 8–918) [2]. In the multimodal ANOA concept, physiotherapy and physical therapy continue to be central therapy components in the treatment of back pain, which is also reflected in the multimodal non-surgical complex treatment of the locomotor system (OPS 8–977).
Keywords: physiotherapy, physical therapy, evidence, multimodal therapy concepts, ANOA concept
Citation: Steinmetz A: Physiotherapy and physical therapy in the treatment of back pain. OUP 2020; 9: 326–329 DOI 10.3238/oup.2020.0326–0329
Loreley-Kliniken St. Goar-Oberwesel
Leitlinienempfehlungen zur Anwendung Physiotherapie und Physikalische Medizin bei Rückenschmerzen
NVL Nicht-spezifischer
Kreuzschmerz
In den Empfehlungen der NVL Nicht-spezifischer Kreuzschmerz [2] existieren keine Empfehlungen zur Anwendung von Krankengymnastik, was angesichts der Verordnungspraxis überrascht. Eine mögliche Erklärung wäre, dass es den Indikationen des Heilmittelkatalogs widerspricht, Krankengymnastik zur Behandlung von nichtspezifischen Rückenschmerzen, d.h. Rückenschmerzen ohne strukturelle oder funktionelle Ursache bzw. Befund einzusetzen. Auf der anderen Seite gilt dies auch für den Einsatz der Manuellen Therapie, die jedoch im Empfehlungskatalog der NVL enthalten ist. Hier spricht die NVL für Manipulation, Mobilisation und/oder Muskel Energie Techniken auf Grundlage verschiedener Reviews und Meta-Analysen [4–8, 10] eine „kann“-Empfehlung zur Behandlung nicht-spezifischer Kreuzschmerzen aus.
Im Kapitel Nicht-medikamentöse Maßnahmen werden verschiedene Maßnahmen der Physikalischen Therapie aufgeführt und bewertet: Interferenzstrom, Kurzwellendiathermie, Lasertherapie, Magnetfeldtherapie, Massage, Perkutane elektrische Nervenstimulation (PENS), Thermotherapie, Traktion mit Gerät, Transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) und therapeutischer Ultraschall. Von diesen erhielten nur die Massage und die Wärmetherapie eine „kann“-Empfehlung. Demnach kann Massage zur Behandlung subakuter und chronischer nicht-spezifischer Kreuzschmerzen in Kombination mit aktivierenden Maßnahmen angewendet werden. Ebenso kann Wärmetherapie im Rahmen des Selbstmanagements in Kombination mit aktivierenden Maßnahmen zur Behandlung nicht-spezifischer Kreuzschmerzen angewendet werden [2].
Leitlinie spezifischer
Kreuzschmerz
Die Leitlinie Spezifischer Kreuzschmerz [3] ist 2018 erstmalig veröffentlicht worden. Im Gegensatz zur NVL Nicht-spezifischer Kreuzschmerz (S3-Leitlinie) ist ihre Struktur eine konsensbasierte S2k-Leitlinie. Daher enthält sie keine Empfehlungsgrade oder Angaben zur Evidenz, da sie nicht auf einer systematischen Aufbereitung einer umfassenden Literaturrecherche beruht. Sie beinhaltet verschiedene morphologische und funktionelle Entitäten, auf deren Therapieempfehlungen hier nicht im Einzelnen eingegangen werden soll. Zusammenfassend werden sowohl Physiotherapie wie auch Physikalische Maßnahmen in der konservativen Behandlung fast aller beschriebenen Entitäten empfohlen.
Physiotherapie und
Physikalische Medizin
im ANOA-Konzept
Rückenschmerz –
eine komplexe Erkrankung
des Bewegungssystems
Die vorliegenden Leitlinien unterscheiden zwischen nicht-spezifischen und spezifischen Kreuzschmerzen. Der nicht-spezifische Kreuzschmerz wird im Sinne einer Ausschlussdiagnose als Kreuzschmerz ohne eindeutige Hinweise auf eine spezifische Ursache definiert. Die Bezeichnung nicht-spezifischer Kreuzschmerz ist durchaus problematisch. In der Praxis lässt sie sich dem Patienten schwer vermitteln. Da sie suggeriert, dass keine Ursache für die Schmerzen vorliegt, fühlt sich dieser häufig nicht ernstgenommen. Eine tragfähige Arzt-Patienten-Beziehung ist auf dieser Grundlage kaum aufzubauen. Unabhängig dieser Problematik existiert auch in der ICD-Klassifikation keine Diagnose „nicht-spezifischer Kreuzschmerz“. Demgegenüber bezieht sich die Leitlinie Spezifischer Kreuzschmerz auf spezifische Ursachen und unterscheidet strukturelle und funktionelle Entitäten. Beiden Leitlinienkonzepten fehlt jedoch – sicherlich auch methodisch bedingt – der Aspekt der „Multikausalität“. Die praktische Erfahrung zeigt, dass insbesondere chronischer Rückenschmerz selten monokausal auf ausschließlich struktureller oder funktioneller Ursache beruht. Die funktionelle und die strukturelle Ebene sind eng miteinander verwoben. Eine Strukturpathologie hat zwangsläufig immer auch eine funktionelle Auswirkung, ist mithin mit einer Funktionsstörung vergesellschaftet. Umgekehrt wird eine anhaltende Funktionsstörung über den Faktor Zeit immer auch zu einer Strukturveränderung führen. Darüber hinaus interagiert natürlich auch die psychosoziale Ebene, was ja dem klassischen biopsychosozialen Krankheitsmodell entspricht. Eine konsequente Diagnostik auf Grundlage des biopsychosozialen Krankheitsmodells sollte alle Ebenen desselben beinhalten und Funktionspathologie, Strukturpathologie, Psychopathologie sowie psychosoziale Einflussfaktoren evaluieren. Wird der Rückenschmerz von mehreren Pathologie- oder Einflussebenen verursacht, liegt ein multikausales Geschehen vor. Der Rückenschmerz ist in diesem Fall eine komplexe Erkrankung des Bewegungssystems und muss auch multimodal auf den entsprechenden Pathologie- und Einflussebenen behandelt werden.