Übersichtsarbeiten - OUP 06/2014

Präoperative Bestimmung des Korrekturwinkels bei hoher Tibia-Umstellungs-Osteotomie
Basierend auf dynamischen Bewegungsanalysen und ModellsimulationenBased on dynamic movement analysis and model simulation

W. Potthast1, 2, K. Heinrich2, J. Funken2, R. Schmidt-Wiethoff1

Zusammenfassung: Grundsätzliches Ziel hoher Tibia-
Umstellungs-Osteotomien (HTO) ist die Umverteilung der Gelenkkräfte vom medialen hin zum lateralen Aspekt. Das Adduktions- bzw. Knie-Varus-Moment ist der Surrogat-
Indikator für die Verteilung der Gelenkbelastung. Die Reduktion des Knie-Varus-Moments beim Gehen oder Treppensteigen ist damit das eigentlich anzustrebende Ziel bei HTO.

Ziel des hier vorgestellten Projekts ist die Entwicklung eines Verfahrens zur HTO-Planung basierend auf dynamischen Bewegungs- und Belastungsanalysen sowie auf modellbasierten Simulationen. 15 Patienten wurden präoperativ im Bewegungsanalyse-Labor untersucht, das ausgestattet ist mit Kraftmessplatten (Kistler, Schweiz) und Infrarot-High-Speed-Kameras (VICON, Großbritannien). Basierend auf einem Mehrkörpersimulationsmodell für Bewegungsanalysen (ALASKA, dynamicus) werden Gelenkwinkel und Gelenkmomente – insbesondere das Knie-Varus-Moment – beim Gehen kalkuliert. Die Effekte verschiedener Umstellungswinkel auf die Knie-Varus-Momente werden im Modell simuliert und für die OP-Planung prognostiziert. Erste Resultate zeigen, dass die mit Ganzbeinstandaufnahmen bestimmten Varus-Winkel nur 44 % des dynamisch im Gang bestimmten Adduktions-Moments prädizieren. In komplexeren Bewegungssituationen dürfte dieser Zusammenhang noch geringer sein.

Schlüsselwörter: hohe Tibia-Umstellungs-Osteotomie,
Knie-Adduktions-Moment, Knie-Varus-Moment,
Bewegungsanalyse, Modell, Simulation

Zitierweise
Potthast W, Heinrich K, Funken J, Schmidt-Wiethoff R: Präoperative Bestimmung des Korrekturwinkels bei hoher Tibia-Umstellungs-
Osteotomie. Basierend auf dynamischen Bewegungsanalysen und Modellsimulationen.
OUP 2014; 6: 274–277 DOI 10.3238/oup.2014.0274–0277

Abstract: The redistribution of joint contact load from the medial more to the lateral aspect is the prinicpal aim of a high tibial osteotomy (HTO). The knee adduction or varus moment is the surrogate marker for the knee load distribution. The reduction of the knee varus moment in every day like situations like walking is therefore the actual aim of HTOs.

The purpose of this project is the development of a procedure for HTO surgery planning based on dynamic movement analysis and model based simulation. 15 patients are pre-operatively investigated in a movement laboratory equipped with force platforms (Kistler, Switzerland) and 16 infrared high-speed cameras (VICON, UK). Based on a multi-body-system for movement analysis (ALASKA, dynamicus) joint angles, joint moments and particularly the knee varus moment was measured in walking. The effects of different osteotomy angles on knee varus moments are simulated in the model and predicted for surgery planning. First results indicate that the knee varus angle determined by x-ray in erect standing does only explain 44 % of the variance of the dynamic calculated knee adduction moment. It is likely, that the relation is even smaller in more complex movement situations.

Keywords: high tibial osteotomy, knee adduction moment,
knee varus moment, movement analysis, model, simulation, load redistribution

Citation
Potthast W, Heinrich K, Funken J, Schmidt-Wiethoff R: Pre-operative determination of the correction angle in medial open wedge high
tibial osteotomy. Based on dynamic movement analysis and model simulation
OUP 2014; 6: 274–277 DOI 10.3238/oup.2014.0274–0277

Das medizinische Problem

Mit Behandlungskosten von fast 8 Mrd. Euro (2008) stellt Arthrose einen erheblichen Kostenfaktor im deutschen Gesundheitssystem dar. Da über 90 % der Kosten auf das Alterssegment über 45 Jahre entfallen, ist unter Berücksichtigung der zu erwartenden Veränderung der Altersstruktur davon auszugehen, dass die finanzielle Belastung weiter ansteigen wird. Bei 80–90 % der Kniearthrosen ist der mediale Gelenkanteil betroffen [1]. Eine wesentliche Determinante für das Entstehen und insbesondere für das beschleunigte Fortschreiten der medialen Kniearthrose ist ein hohes externes Knie-Adduktions- bzw. Varus-Moment [2, 3, 4]. Durch das hohe Varus-Moment werden die medialen Gelenkkontaktkräfte und -spannungen substanziell erhöht. Das bedeutet, dass der mediale Gelenkanteil höheren Belastungen ausgesetzt ist als der laterale [2, 3]. Diese Umverteilung der Kniegelenkbelastung und -beanspruchung bewirkt dann einen beschleunigten Verschleiß des Gelenkknorpels.

Unter einem Gelenkmoment wird grundsätzlich die rotatorische bzw. biegende Wirkung der resultierenden Kraft verstanden. Das Knie-Adduktions-Moment beschreibt damit die adduzierende Wirkung der resultierenden Kraft auf das Knie. Die Höhe des Knie-Adduktions-Moments ist im Wesentlichen durch die Höhe der wirkenden Bodenreaktionskraft und den medialen Abstand der Kraftwirkungslinie zum Kniegelenkmittelpunkt gegeben (s. Abb. 1).

Verschiedenen Maßnahmen, die das Verlangsamen oder Aufhalten der medialen Gonarthrose anstreben, liegt deshalb das prinzipielle Ziel der Reduktion des Knie-Adduktions-Moments zugrunde. Konservative Therapien wie Schuhaußenranderhöhungen und Knieorthesen können das Adduktions-Moment in geringem Maße reduzieren, ihre Wirksamkeit ist jedoch begrenzt [5, 6, 7, 8].

Um den künstlichen Gelenkersatz zu vermeiden oder zu verzögern, werden seit etwa 3 Jahrzehnten operative knienahe Gelenkumstellungen vorgenommen, die zum Ziel haben, den Hebelarm der Bodenreaktionskraft und damit das Adduktions-Moment zu reduzieren. Die früher gängige laterale „closed wedge high tibial osteotomy“ wurde mittlerweile durch die „medial open wedge high tibial osteotomy“ (HTO) abgelöst. Der Einsatz winkelstabiler Implantate ermöglicht es mittlerweile, auf den lateralen Zugang und damit die verbundenen fibulare Osteotomie sowie die Verletzungen lateraler Strukturen zu verzichten. Damit verbunden sind weiterhin einfachere OP-Techniken, kürzere OP-Zeiten und schnellere Belastbarkeit.

Wesentlich für den klinischen Erfolg der HTO ist natürlich die korrekte Bestimmung des Umstellungswinkels. Aktuell geschieht die Bestimmung des Umstellungswinkels vor der Operation anhand von Röntgenbildaufnahmen im ruhigen Stand. Üblicherweise werden die Umstellungswinkel so kalkuliert, dass die mechanische Trageachse des Beins (virtuelle gerade Verbindung des Hüftgelenkmittelpunkts mit dem Mittelpunkt des oberen Sprunggelenks in der Frontalebene; s. Abb. 2) nicht medial am Knie vorbei, sondern nahezu mittig durch den sogenannten Fujisawa-Punkt verläuft (62 % der medio-lateralen Breite des Tibiaplateaus mit dem größerem Abstand zum medialen Plateaurand) [9, 10].

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