Übersichtsarbeiten - OUP 05/2020

Von der Funktionsstörung zur Funktionserkrankung
Ein Modell als Grundlage für die Diagnostik und Therapie von Rückenschmerzen

Volker Liefring, Stephan Vinzelberg, Egbert Seidel, Lothar Beyer

Zusammenfassung:
Eine normale Funktion ist Voraussetzung für Beweglichkeit, Alltagsaktivitäten und Teilhabe. Umgekehrt ausgedrückt: Die Patienten kommen mit Funktionsstörungen, Schmerzen und Einschränkungen im Alltag in die orthopädische Praxis. Wenn diese Funktionsstörungen über eine längere Zeit bestehen, kann es zur Chronifizierung und Verfestigung dieser Störungen führen.

Eine umfassende Kenntnis von normalen und gestörten Funktionen hat daher einen hohen Stellenwert in der klinischen Medizin. Daraus ergeben sich funktionelle Therapieansätze einschließlich Edukation und Prävention. Das Modell Funktionsstörung/Funktionserkrankungen ist ein Arbeitsmodell für Mediziner und gleichzeitig ein Modell für die Edukation und Motivierung der Patienten. Dieses Modell soll Ergänzung zum inzwischen etablierten Modell der Schmerzkrankheiten sein und den Fokus mehr auf die Funktion, die Neurophysiologie und Sensomotorik richten. Damit soll keineswegs die meist parallel ablaufende Struktur- und Psychopathologie vernachlässigt werden.

Schlüsselwörter:
Funktionsstörung, Funktionserkrankungen, Manuelle Medizin, Rückenschmerzen, Sensomotorik

Zitierweise:
Liefring V, Vinzelberg S, Seidel E, Beyer L: Von der Funktionsstörung zur Funktionserkrankung. OUP 2020; 9: 302–307 DOI 10.3238/oup.2020.0302–0307

Summary: Normal function is a prerequisite for mobility, daily activity and participation in life. In other words: Patients come to the orthopedic practice with dysfunction, pain and restrictions in their daily activities. If these dysfunctions continue over a longer period of time, they can become chronic and a solidification of the disorder can occur. A comprehensive understanding of normal and disturbed function has an important place in clinical medicine. Therapeutic approaches including education and prevention come from this understanding. The model of dysfunction/functional disease could be a working model for doctors and a model for educating and motivating patients simultaneously. This model should complement the established models for chronic pain disorders and put the focus more on function, neurophysiology and sensorimotor function. Structural and psychopathology, which most often occur in parallel, should under no circumstances be neglected.

Keywords: dysfunction, functional disease, manual medicine, back pain, sensorimotor function

Citation: Liefring V, Vinzelberg S, Seidel E, Beyer L: From the dysfunction to functional disease. OUP 2020; 9: 302–307 DOI 10.3238/oup.2020.0302–0307

Volker Liefring: Rehabilitationsklinik für Orthopädie, Sana-Kliniken Sommerfeld, Kremmen

Stephan Vinzelberg: Klinik für Manuelle Medizin, Sana-Kliniken Sommerfeld, Kremmen

Egbert Seidel: Zentrum für Physikalische und Rehabilitative Medizin, Sophien und Hufeland Klinikum Weimar

Lothar Beyer: Ärztevereinigung für Manuelle Medizin (ÄMM) e.V. Berlin, Berlin

Funktionen des
Bewegungssystems

Die normale Funktion mit einer hohen, von einer Vielzahl von Faktoren abhängenden Variabilität, ist Voraussetzung für Beweglichkeit, Alltagsaktivitäten und Teilhabe. Umgekehrt ausgedrückt, Patienten kommen mit Funktionsstörungen, Schmerzen und Einschränkungen im Alltag in die orthopädische Praxis. Wenn diese Funktionsstörungen über eine längere Zeit bestehen, kann es zur Chronifizierung und Verfestigung dieser Störungen führen.

Störungen im Bewegungssystem äußern sich in der Qualität des Bewegungsresultates Funktionelle Ursachen sind einfache oder komplexe Funktionsstörungen an einzelnen Komponenten innerhalb des funktionellen Systems (Abb. 1).

Eine umfassende Kenntnis von normalen und gestörten Funktionen hat daher einen hohen Stellenwert in der klinischen Medizin. Daraus ergeben sich funktionelle Therapieansätze einschließlich Edukation und Prävention. Das Modell Funktionsstörung/Funktionserkrankungen ist ein Arbeitsmodell für Mediziner und gleichzeitig ein Modell für die Edukation und Motivierung der Patienten. Dieses Modell soll Ergänzung zum inzwischen etablierten Modell der Schmerzkrankheiten sein [5] und den Fokus mehr auf die Funktion, die Neurophysiologie und Sensomotorik richten [1]. Damit soll keineswegs die meist parallel ablaufende Struktur- und Psychopathologie vernachlässigt werden.

Typische Leitsymptome bei orthopädischen Patienten sind: Schmerz, Bewegungs- und Kraftdefizite und Störungen in der Alltagstauglichkeit. Einige Funktionen des Bewegungssystems sind klinisch einfach untersuchbar und messbar, z.B. ROM, der Muskelstatus und aktive Bewegungstests (Abb. 2).

Im sportmedizinischen Sinne werden 5 motorische Qualitäten unterschieden:

  • 1. Maximalkraft
  • 2. Kraftausdauer
  • 3. Schnellkraft
  • 4. Beweglichkeit
  • 5. Koordination

Die ersten 4 Qualitäten werden als konditionelle Fertigkeiten zusammengefasst, die Koordination kann weiter spezifiziert werden in verschiedene Qualitäten:

Reaktionsfähigkeit

Gleichgewichtsfähigkeit

Umstellungsfähigkeit

Orientierungsfähigkeit

Differenzierungsfähigkeit

Kopplungsfähigkeit

Rhythmisierungsfähigkeit

Dies hat außer in der Sportmedizin insbesondere auch in der Prävention und Rehabilitation eine hohe Bedeutung. Manualmediziner können die Gelenkfunktionen (Gelenkbeweglichkeit und Gelenkspiel), die Muskelfunktion (Muskelverspannungen, Abschwächungen und Triggerpunkte) und die Bewegungskoordination gezielt untersuchen [7, 11]. Eine gute sensomotorische Funktion hat in Alltag, Beruf und Sport einen hohen Stellenwert. Funktionsstörungen führen häufig zu Einschränkungen von Alltagsaktivitäten wie Heben, Tragen, Greifen, Überkopfarbeiten, Gehen, längeres Sitzen, Laufen, Radfahren usw. [17]. Klinische Verdachtsdiagnosen können durch eine entsprechende apparative Zusatzdiagnostik mit Röntgen, CT, MRT und Sonographie verifiziert werden. Hier sehen wir insbesondere strukturelle Veränderungen.

In der heutigen Medizin werden Krankheitsprozesse häufig auf die Struktur fokussiert. Wenn wir in der Bildgebung keine passende Strukturveränderung sehen, sind wir manchmal unsicher und vermuten psychopathologische Problemlagen. Dabei übersehen wir, dass eine genaue Funktionsuntersuchung oft der fehlende Baustein ist, welcher zwischen den geklagten Beschwerden und Struktur auf der einen und Psyche auf der anderen Seite fehlt. Dafür brauchen wir klinische Erfahrung und Zeit. Die Zeit ist in unserem Medizinsystem knapp und wird nur unzureichend vergütet. Darauf hat Rompe in dieser Zeitschrift mit klaren Worten hingewiesen [17].

Funktionsdiagnostik und funktionelle Therapie

In vielen Fachgebieten gibt es spezielle funktionsdiagnostische Untersuchungen. Beispiele sind beim Pneumologen die Lungenfunktion (Bodyplethysmographie, Spirometrie) und beim Kardiologen die Echokardiographie mit der Ejektionsfraktion, Langzeitblutdruckmessungen und ergometrische Leistungstestung.

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