Originalarbeiten - OUP 02/2013

Begutachtung sozialmedizinisch relevanter Aspekte der Schulter

J. Heisel1

Zusammenfassung: Klärung der unterschiedlichen
Anspruchsvoraussetzungen der einzelnen Kostenträger wie gesetzliche/private Krankenversicherung, Unfallversicherung,
Rentenversicherung, Versorgungsämter (Schwerbehinderung) bei Krankheitsbildern im Bereich des Schultergelenks. Einschätzung verbliebener Funktionsstörungen bei degenerativen, posttraumatischen und postoperativen Problemen.

Schlüsselwörter: Begutachtung von Erkrankungen der Schulter, Krankenversicherung, Unfallversicherung, Rentenversicherung, Schwerbehinderung

Summary: Clarification of different conditions concerning the legal rights of general/private insurances, accident
insurances, pension insurances, severe disabilities in case of shoulder problems (degenerative, posttraumatic, postoperative changes)

Keywords: medical expert opinion, shoulder diseases, sicknesss insurance, accident insurance, pension insurance, severe disability

Vorbemerkungen

Krankhafte Störungen des Schulterhaupt- und -nebengelenks führen oft zu erheblichen Beschwerdebildern und teilweise auch zu mehr oder weniger stark ausgeprägten Bewegungsdefiziten mit konsekutiven Fähigkeitsstörungen im Sinne qualitativer Restriktionen der körperlichen Belastbarkeit und der Leistungsfähigkeit. Diese Krankheitsbilder oder Leiden werfen dann – einerseits im Rahmen der gesetzlichen und privaten Krankenversicherung, der gesetzlichen Rentenversicherung, der privaten bzw. gesetzlichen Unfallversicherung sowie andererseits des Schwerbehindertenrechtes – gutachterliche Fragestellungen mit definierten Bewertungsrichtlinien auf.

Basierend auf zahlreichen Gesetzen und Vereinbarungen sind für die einzelnen Versicherungszweige durch den Sachverständigengutachter unterschiedliche Anspruchsvoraussetzungen zu klären. Das Ausmaß der jeweiligen Versicherungsleistungen richtet sich in aller Regel nach dem objektivierbaren Funktionsausfall (standardisierte reproduzierbare Messung mit Hilfe der Neutral-Null-Methode), der Gelenkstabilität, der muskulären Kraftentfaltung der betroffenen Extremität (klinische Umfangsmessung im Seitenvergleich, Tonusprüfung) sowie der bildgebenden Gelenksituation (Röntgenmorphologie, Sonografie; evtl. MRT und/oder CT) ohne wesentliche Berücksichtigung des individuellen subjektiven Leidensdrucks.

Wichtige sozialmedizinisch relevante Krankheitsbilder sind hier:

  • das subakromiale Impingement bei Bursitis, Tendinitis calcarea bzw. calcificans; evtl. Zustand nach subakro-mialer Dekompression,
  • eine Degeneration der Rotatorenmanschette, evtl. mit teilweiser oder vollständiger Ruptur,
  • eine Humeruskopffraktur (konservative oder operative Behandlung)
  • eine Omarthrose, eine Schultereckgelenksarthrose (evtl. posttraumatisch),
  • eine Humeruskopfnekrose
  • ein alloplastischer Gelenkersatz (Kappenprothese, Teil- oder Vollendoprothese, inverse Delta-Prothese).

Gesetzliche
Krankenversicherung

Im Falle einer Arbeitsunfähigkeit hat der gesetzlich Krankenversicherte Anspruch auf eine Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber von bis zu 6 Wochen. Ist dann immer noch keine Arbeitsfähigkeit gegeben, wird von der jeweiligen Krankenkasse – bei regelmäßiger Überprüfung der gesundheitlichen Situation durch seinen Medizinischen Dienst (MdK) – bis zu 18 Monate Übergangsgeld gewährt.

Entscheidend für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit ist die Frage, ob der betroffene Patient in seiner zuletzt ausgeübten Tätigkeit wieder voll leistungsfähig ist oder nicht; die Möglichkeit einer teilweisen (evtl. nur stundenweisen) Arbeitsfähigkeit existiert nicht.

Die Dauer der Arbeitsunfähigkeit nach erfolgter operativer Intervention (s. Tab. 1) wird durch den behandelnden Arzt unter Zugrundelegung des noch bestehenden Beschwerdebildes, der noch gegebenen Funktionsbeeinträchtigung (Beweglichkeit des Gelenks, muskuläre Kraftentfaltung, fortbestehende Umlauf-störung, Gelenkstabilität, Abhängigkeit von Hilfsmitteln u.a.m.) überprüft, dies vor allem im Hinblick darauf, ob die zuletzt ausgeübte berufliche Tätigkeit wieder vollschichtig ausgeübt werden kann oder nicht. Problematisch sind hier sicherlich überwiegend mittelschwere und schwere Arbeitsabläufe, insbesondere dann, wenn sie mit (längerer) Überkopfhaltung der Arme bzw. mit Heben, Tragen oder Bewegen von Lastgewichten von über 10–15 kp verbunden sind.

In Einzelfällen kann über den Rentenversicherungsträger (s.u.) ein Stufeneinstieg, evtl. auch eine temporäre oder dauerhafte Umsetzung am Arbeitsplatz in die Wege geleitet werden. Ist eine Wiederaufnahme der letzten Tätigkeit – evtl. unter Modifikationen des Arbeitsplatzes – nicht möglich, verbleibt der Patient arbeitsunfähig.

Private Krankenversicherung

Die private Krankenversicherung gewährt, je nach individuell abgeschlossenem Vertrag, Tagegeldzahlungen in unterschiedlicher Höhe bis zum Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit, wobei hier für die ärztliche Beurteilung in erster Linie die körperlichen Belastungen in der zuletzt ausgeübten beruflichen Tätigkeit zugrunde gelegt werden. Die sozialmedizinische Bewertung wird – bei aufscheinenden Zweifelsfällen – durch eine gutachterliche Einschätzung beratender Fachärzte vorgenommen. Eine Weitergewährung von Tagegeldzahlungen wird in den Fällen abgelehnt, in denen der Betroffene seine letzte berufliche Tätigkeit zumindest teilweise wieder aufnehmen kann.

Bei schweren degenerativen Veränderungen und vor allem nach einem operativen Eingriff im Bereich des Schultergelenks verbleiben in aller Regel qualitative Beeinträchtigungen des körperlichen Restleistungsvermögens. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Gutachter angehalten, eine sehr sorgfältige Berufsanamnese zu erheben, um das Belastungsprofil und damit das körperliche Restleistungsvermögen des Patienten auch unter individuellen quantitativen Gesichtspunkten exakt einschätzen zu können. Problematisch sind hier sicherlich ebenfalls Arbeitsabläufe mit längerer Überkopfhaltung der Arme.

Ist eine berufliche Reintegration in absehbarer Zeit aufgrund erheblicher persistierender Beeinträchtigungen ausgeschlossen, ist der Erkrankte nicht mehr in der Lage, zumindest 50 % seiner letzten beruflichen Tätigkeiten auszuüben, kann ärztlicherseits Berufsunfähigkeit attestiert werden, was dann die Weiterzahlung von Krankentagegeld ausschließt. Bei isolierter Affektion des Schultergelenks ist dies vor allem bei Berufen wie Bauarbeiter, Maurer, Waldarbeiter, Maler, Lackierer, Stuckateur, Steinmetz, Autoschlosser u.a.m. anzunehmen.

Gesetzliche
Rentenversicherung

Die gesetzliche Rentenversicherung (DRV Bund, DRV Länder, Bundesknappschaft u.a.) leistet vorzeitige Rentenzahlungen, wenn ein erkrankter Patient in einer überschaubaren Zeitspanne nicht mehr sinnvoll in das allgemeine Erwerbsleben reintegriert werden kann. Finanzielle Leistungen können dann vorübergehend (auf Zeit) oder auf Dauer gewährt werden.

Die hierfür zugrunde liegende individuelle sozialmedizinische Bewertung wird in aller Regel im Rahmen eines fachärztlichen Gutachtens vorgenommen. Auch hier ist die aktuelle klinische Gesamtsituation der Haltungs- und Bewegungsorgane mit evtl. gegebenen funktionellen Defiziten, muskulären Schwächen, lokalen oder multilokulären Reizzuständen oder entzündlichen Prozessen, Zirkulationsstörungen, Einschränkungen des Gehvermögens u.a. ausschlaggebend. Bewertet wird einerseits, ob im zuletzt ausgeübten Beruf wieder eine teilweise oder volle Belastbarkeit gegeben ist oder nicht. In vielen Fällen ist allerdings, auch bei persistierenden Störungen, von einer Verweisbarkeit auf den sog. allgemeinen Arbeitsmarkt auszugehen, vor allem dann, wenn kein erlernter Beruf mit Abschluss vorliegt.

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