Übersichtsarbeiten - OUP 03/2016

Behandlungsalgorithmus Ellenbogenluxation

Sebastian Siebenlist1, Andreas Lenich2, Andreas B. Imhoff1

Zusammenfassung: Für die „einfache“ Ellenbogenluxation bestehen bis dato im Gegensatz zur Luxationsfraktur des Ellenbogens keine einheitlichen Behandlungsrichtlinien. Im vorliegenden Artikel geht es um die Frage, wann eine akute Ellenbogenluxation konservativ behandelt werden kann oder besser einer operativen Therapie zugeführt werden sollte. Grundlegende Voraussetzung für das therapeutische Vorgehen ist eine genaue Analyse der Gelenkstabilität nach der Reposition anhand klinischer und radiologischer Kriterien. Anhand eines möglichen Behandlungsalgorithmus werden sowohl die konservative Therapie wie auch das praktische Vorgehen bei der operativen Stabilisierung des Ellenbogengelenks ausführlich beleuchtet.

Schlusselwörter: Ellenbogen, Luxation, Instabilitätszeichen,
konservative Therapie, operative Stabilisierung

Zitierweise
Siebenlist S, Lenich A, Imhoff AB: Behandlungsalgorithmus
Ellenbogenluxation.
OUP 2016; 3: 132–138 DOI 10.3238/oup.2016.0132–0138

Abstract: Other than for elbow fracture dislocations, there is no consensus for the therapeutic management of simple elbow dislocations so far. The topic of the present article therefore is to give a structured approach for the conservative or surgical therapy of simple elbow dislocation if necessary. A systematic analysis of the elbow joint stability based on clinical and radiological criteria is essential for therapeutic decision making. Both the non-operative treatment and the surgical repair of a simple elbow dislocation are presented in detail.

Keywords: elbow, dislocation, instability, conservative treatment, surgical management

Citation
Siebenlist S, Lenich A, Imhoff AB: Simple elbow dislocation –
a systematic approach.
OUP 2016; 3: 132–138 DOI 10.3238/oup.2016.0132–0138

Für den vermeintlich „einfachen“ Verletzungstyp der rein kapsulo-ligamentären Luxation des Ellenbogens existieren im Gegensatz zur Luxationsfraktur des Ellenbogens aktuell keine einheitlichen Behandlungsempfehlungen [1]. Allerdings stellt auch die „einfache“ Luxation eine komplexe Weichteilverletzung des Ellenbogengelenks dar, die zu persistierenden Beschwerden führen kann.

Um das gesamte Verletzungsausmaß einer akuten Ellenbogenluxation zu verstehen und zu erkennen, ist einerseits die genaue Kenntnis sowohl der gelenk-stabilisierenden, anatomischen Strukturen als auch der zugrunde liegenden Unfallmechanismen unabdingbar, und andererseits eine exakte klinische und radiologische Diagnostik notwendig. Die in der Vergangenheit häufig propagierte Ruhigstellung im Gips nach akuter Ellenbogenluxation wird heutzutage zunehmend von einer frühfunktionellen konservativen Therapie und/oder einer operativen Versorgung abgelöst. Die zentrale Frage, wann eine „einfache“ Ellenbogenluxation konservativ behandelt werden kann oder eher operativ stabilisiert werde sollte, ist Gegenstand aktueller Untersuchungen, was sich auch in der steigenden Zahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen zu diesem Themenkomplex widerspiegelt [2].

Stabilisatoren
des Ellenbogengelenks

Die Kongruenz des Ellenbogengelenks ist sowohl von knöchernen als auch von ligamentären, kapsulären und muskulären Strukturen abhängig. Unterschieden werden primäre und sekundäre Gelenkstabilisatoren (Abb. 1).

  • 1. Primäre Stabilisatoren:

Proc. coronoideus

Lateraler Kollateralband-Komplex (LCL)

Medialer Kollateralband-Komplex (MCL)

  • 2. Sekundäre Stabilisatoren:

Radiuskopf

Extensoren-Anconeus-Muskulatur

Flexoren-Pronator-Muskulatur

Gelenkkapsel

Als Teil des Humeroulnar-Gelenks bildet der Processus coronoideus den wichtigsten Hauptstabilisator gegen eine dorsale Luxation [3]. Darüber hinaus ist das humeroulnare Gelenk maßgeblich für die Varusstabilität des Ellenbogens verantwortlich [4, 5]. Der wichtigste ligamentäre Stabilisator gegen Varusstress ist der laterale Kollateralband-Komplex (LCL), der sich aus 4 funktionellen Anteilen, dem Ligamentum anulare radii, dem radialen Seitenband (RCL), dem lateralen ulnaren Seitenband (LUCL) und dem akzessorischen lateralen Seitenband zusammensetzt (Abb. 2). Der laterale Bandkomplex (LCL) entspringt am Unterrand des lateralen Epicondylus aus einem gemeinsamen Isometriepunkt [6]. Von dort läuft das LUCL dorsal um den Radiuskopf herum und inseriert zusammen mit dem Lig. anulare an der Crista supinatoris der proximalen Ulna. Der Radiuskopf wird so von der sog. „Hängematte“ umschlossen und gegen dorsolateralen Stress stabilisiert [7]. Das RCL strahlt lateral in die Gelenkkapsel ein und dient zusammen mit dem Lig. anulare als Varusstabilisator.

Der Hauptstabilisator gegen Valgusstress ist der mediale Kollateralband-Komplex (MCL) [8] (Abb. 3). Neben dem postero-medialen Seitenband (PMCL) und dem transversalen Bündel spielt dabei vor allem das antero-mediale Kollateralband (AMCL) die entscheidende Bedeutung. Der mediale Kollateralbandkomplex inseriert variabel am Unterrand des medialen Epicondylus [9]. Das AMCL zieht nach distal zur anteromedialen Facette des Processus coronoideus (dem sog. Tuberculum subliminus) und das PMCL als fächerförmiges Band zum Olecranon. Das tranversale Bündel (Coopersches Ligament) dient vermutlich der Vorspannung der beiden medialen Seitenbänder.

Der Radiuskopf bzw. das humeroradiale Gelenk als wichtigster sekundärer Stabilisator stabilisiert bei vorliegender Ruptur des MCL-Komplexes gegen einwirkenden Valgusstress [10].

Außerdem tragen die sog. dynamischen Stabilisatoren (alle Muskelgruppen die das Ellenbogengelenk überqueren) entscheidend zur Stabilität des Ellenbogengelenks bei, was bei der funktionellen Behandlung nach einer stattgehabten Luxation Berücksichtigung findet [11, 12]. Während der M. anconeus und die Extensor-communis-Muskelgruppe als Varusstabilisator fungieren, übernimmt die Flexor-Pronator-Muskelgruppe die Valgusstabilisierung [13]. Die Mm. triceps und biceps brachii sowie der M. brachialis üben außerdem einen komprimierenden Effekt auf das Ellenbogengelenk aus. Zudem wird auch für die Gelenkkapsel eine stabilisierende Wirkung vor allem in Streckstellung des Ellenbogens und gering auch in Beugestellung angenommen [14].

Verletzungsmechanismen
bei der Ellenbogenluxation

Luxationsverletzungen des Ellenbogens werden nach ihrer Luxationsrichtung (Stellung des Unterarms zum Oberarm) eingeteilt. Dabei tritt die Luxation nach dorsal bzw. dorso-lateral in > 80 % der Fälle auf. Nur in Ausnahmefällen (meist Hochrasanztraumata) kann es auch zu einer medialen, ventralen oder divergierenden Luxation des Ellenbogengelenks kommen.

Für die dorsale Luxation wird der Hyperextensionsmechanismus am häufigsten angegeben. Der Sturz auf die ausgestreckte, pronierte Hand führt dabei zu einer Überstreckung im Ellenbogen, sodass das Gelenk durch die Olekranonspitze nach dorsal aus seiner Führung gehebelt wird. Zunächst reißt die ventrale Gelenkkapsel, gefolgt von der Ruptur der lateralen und/oder medialen Kollateralbandkomplexe [15].

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