Übersichtsarbeiten - OUP 02/2020

Biomechanik von Becken- und hüftnahen Frakturen

Simon Hackl, Peter Augat, Jan Friederichs

Zusammenfassung:

Die Kräfte, die auf die Hüfte wirken gehören zu den größten Belastungen, die auf den
menschlichen Körper einwirken. Diese Belastungen entstehen durch externe und interne Kräfte und können bei Überlastung zu Frakturen führen. Das mechanische Ergebnis von Knochenbelastung wird als „Gewebestress“ bezeichnet, dieser ist sowohl für die Knochenbildung als auch Knochenbrüche verantwortlich. Fortgeleitete Kräfte können sich über die Hüfte auf die Hüftpfanne auswirken und hier zu Frakturen führen. Anders verhält es sich bei Frakturen des Beckens. Hier entstehen Überlastungen durch Kompression des Beckens, z.B. durch Stürze, welche in Abhängigkeit von der Knochenqualität zu unterschiedlichen Frakturmustern führen. Sowohl komplexe Belastungsmuster im Bereich des Schenkelhalses als auch die Belastungen auf das Becken können im Rahmen von biomechanischen Modellen untersucht werden.

Schlüsselwörter:
Biomechanik; proximales Femur; hüftgelenksnahe Fraktur; Beckenfraktur

Zitierweise:
Hackl S, Augat P, Friederichs J: Biomechanik von Becken- und hüftnahen Frakturen
OUP 2020; 9: 068–073
DOI 10.3238/oup.2019.0068–0073

Summary: Loads acting on the hip joint are among the largest occurring in the human body. These loads are generated by external and internal forces. The result of internal and external forces leads to tissue strain which is necessary for bone formation but may also lead to fractures if tissue strain exceeds certain limits. Forces on the femoral neck can be transmitted to the acetabulum leading to acetabular fractures. Fractures of the pelvis are often caused by compression forces generated by falls or high velocity accidents. Depending on bone quality and age, different fracture pattern may occur. Complex forces on the femoral neck as well as compression forces on the pelvis can be simulated in biomechanical models.

Keywords: biomechanics; proximal femur; femoral neck fracture; pelvic fractures

Citation: Hackl S, Augat P, Friederichs J: Biomechanics of pelvic and femoral neck fractures
OUP 2020; 9: 068–073 DOI 10.3238/oup.2019.0068–0073

Simon Hackl: Abteilung Unfallchirurgie und Institut für Biomechanik, BG Unfallklinik Murnau und Institut für Biomechanik, Paracelsus Medizinische Privatuniversität, Salzburg

Peter Augat: Institut für Biomechanik, BG Unfallklinik Murnau und Institut für Biomechanik, Paracelsus Medizinische Privatuniversität, Salzburg

Jan Friederichs: Abteilung Unfallchirurgie, BG Unfallklinik Murnau

Becken-Bein-Übergang: Hüftgelenk

Das Hüftgelenk, gebildet aus dem proximalen Femuranteil und der Hüftpfanne, weist den größten Bewegungsumfang an der unteren Extremität auf und stellt mechanisch ein Kugelgelenk mit drei rotatorischen Freiheitsgraden dar, wobei sich das Drehzentrum zentral im Hüftkopf befindet. Einschränkung erhält der Bewegungsumfang des Hüftgelenks hauptsächlich durch die knöcherne Anatomie des Schenkelhalses und des Acetabulums sowie durch die das Hüftgelenk übergreifenden muskulo-ligamentären Strukturen. Der passive Bewegungsumfang des Hüftgelenks beträgt in der Frontalebene 45° Abduktion und 20° Adduktion (45°/0°/20°), in der Transversalebene 50° externe und 40° interne Rotation (50°/0°/40°) sowie in der Sagittalebene 30° Extension und 120° Flexion (30°/0°/120°). Hierbei ist das für den physiologischen Gang relevante Bewegungsausmaß jedoch deutlich geringer: Die größten Bewegungen finden in der Sagittalebene statt, während die Werte in den anderen Ebenen teilweise deutlich unter 10° bleiben [3].

Krafteinwirkung
über den Schenkelhals

Die über den Schenkelhals einwirkenden Kräfte auf das Becken gehören zu den größten Belastungen, die auf das menschliche Skelett einwirken. Erzeugt werden diese Kräfte durch externe Belastungen, die durch die Interaktion der belasteten Extremität mit dem Boden entstehen und durch die das Becken überspannende Muskulatur. Im Einbeinstand entsprechen die vom Körper auf den Boden übertragenen Bodenreaktionskräfte dem einfachen Körpergewicht. Bei dynamischen Bewegungen werden die Reaktionskräfte als Vielfaches des Körpergewichtes ausgedrückt. Dynamische Kräfte und die Trägheit der Masse erhöhen die Belastung im Rahmen der Fortbewegung. Die höchsten Belastungen beim normalen Gehen entstehen beim Aufsetzen der Fersen durch die dadurch entstehende Abbremsung des Körpers. Beim normalen Gehen in der Ebene bleiben die Bodenreaktionskräfte normalerweise unter 130 % des Körpergewichtes (BW), beim Rennen können sie 300 % BW überschreiten und bei „high impact“-Aktivitäten wie zum Beispiel beim Springen auf das bis zu 5-fache des Körpergewichtes ansteigen [6, 20].

Das knöcherne Skelett überträgt die im Bereich des Fußes entstehenden Kräfte über das Hüftgelenk auf das Becken. Kraftspitzen, wie sie bei High-impact-Bewegungen und Belastungen auftreten, werden durch Weichteile, Menisken und Knorpel in den Gelenken des Fußes, des Knies und der Hüfte gedämpft. Die Richtung der Kräfte, die auf den Schenkelhals und damit über das Acetabulum auf das Becken wirken, ist größtenteils vertikal, mit dem Zweck, die auf den Körper wirkenden Schwerkräfte auszugleichen. Kräfte mit anterio-posteriorer Ausrichtung sind vergleichsweise kleiner und erreichen ungefähr 20 % des Körpergewichtes, wenn der Vorfuß sich im Rahmen des Gehvorgangs vom Boden abstößt. Kräfte in medio-lateraler Richtung kompensieren die Querschwingung des Körpers und ermöglichen so die Balancefähigkeit. Sie erreichen nur geringe Belastungen mit weniger als 10 % des Körpergewichtes [2].

Durch die gegebene Anatomie und den aufrechten Gang entstehen Hebelkräfte zwischen den Auftrittsflächen der Füße und dem Hüftgelenk, diese wirken sich durch Biege- und Torsionskräfte auf die Röhrenknochen und insbesondere auf den Schenkelhals aus. Diese Kräfte und die Bodenreaktionskraft bilden die externe Gesamtbelastung auf das knöcherne Skelett. Zur Erhaltung der Balance und zur Fortbewegung müssen die externen Kräfte durch die internen Kräfte der Muskulatur kompensiert bzw. aufgebracht werden. Da der an der Oberfläche der Knochen angreifenden Muskulatur ein viel geringerer Hebelarm als den externen Kräften zur Verfügung steht, können die internen Muskelkräfte die externen Kräfte um ein Vielfaches übersteigen. Als Beispiel kann hier im Einbeinstand die erforderliche Muskelkraft der Glutealmuskulatur zur Stabilisierung des Beckens genannt werden. Diese Muskulatur muss dem gesamten Körpergewicht durch Zug am proximalen Femur entgegenwirken. Dazu sind Kräfte von mehr als dem Doppelten des Körpergewichtes erforderlich, da der Hebelarm zwischen Muskelansatz am Trochanter major und dem Hüftkopfzentrum deutlich kleiner ist als der Hebelarm zwischen dem Zentrum der Körpermasse und dem Hüftkopfzentrum. Daraus resultiert beim Einbeinstand eine Kraft auf das Hüftgelenk, die sich aus der Vektorsumme der Muskelkraft und der Schwerkraft des Körpers zusammensetzt und mehr als das Dreifache des Körpergewichtes betragen kann [21]. Die Kräfte beim langsamen Gehen sind mit dem Einbeinstand vergleichbar, erhöhen sich jedoch signifikant mit der Gehgeschwindigkeit oder beim Gehen auf der Treppe [5]. Bei physiologischen Belastungen entstehen Kräfte im Hüftgelenk, die aufgrund der muskulären Belastungen bis zum 6-fachen des Körpergewichtes betragen [27]. Bei unkontrollierten oder extremen Bewegungen wie z.B. während eines Stolpersturzes oder Ausfallschrittes entstehen sogar noch höhere Belastungen, die bis zum 8-fachen des Körpergewichts betragen können und damit auch ein Risiko für Frakturen darstellen ohne dass hierfür ein Aufprall auf dem Boden notwendig wäre.

Gewebestress

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