Übersichtsarbeiten - OUP 02/2020

Biomechanik von Becken- und hüftnahen Frakturen

Das mechanische Ergebnis von Knochenbelastung wird als „Gewebestress“ bezeichnet. Gewebestress kann sowohl als Fluch als auch als Segen für das knöcherne Skelett bezeichnet werden. Erforderlich ist er als Stimulus des Knochen-Remodellings und zum Aufbau einer stabilen Knochensubstanz, damit sich der Knochen optimal an die einwirkenden Kräfte anpasst und so eine bestmögliche Stabilität bei möglichst geringem Eigengewicht ermöglicht. Die Beanspruchung des Knochens in der Region des Hüftgelenkes liegt bei normalen täglichen Aktivitäten mit Laufen, Treppensteigen und Springen zwischen 500 und 2000 Belastungsspitzen [17], was laut Frost [12] ein Gleichgewicht bzw. die Homöostase des Knochens darstellt. Die Belastungen bei Bewegungen des täglichen Alltags sind typischerweise am inferioren Schenkelhals am größten, was sich in der dickeren Kortikalis dieser Region im Vergleich zur superioren Kortikalis ausdrückt. Dies spiegelt sich in der Substanzverteilung der entsprechenden Skelettabschnitte wider (Abb. 1): Die Trabekel des Hüftkopfes sind jeweils exakt senkrecht zur subchondralen Knochenplatte eingestellt und konvergieren zum Mittelpunkt des Caput femoris, wobei das Trabekelwerk als sogenanntes Druckbündel zur medialen Kortikalis des Schenkelhalses und als Zugbündel zum oberen Bereich des Schenkelhalses bis zum Trochanter major hinzieht. Der zwischen diesen beiden Bündeln befindliche Raum an der Basis des Schenkelhalses weist eine relativ geringere Knochenbälkchendichte auf und wird als Ward-Dreieck bezeichnet. Hier ist – zur Anpassung an die Biegebeanspruchung am Schenkelhalswinkel – eine halbmondförmige Verstärkungsplatte, der sogenannte Merkel‘sche Schenkelsporn, ausgebildet [22].

Nur bei Belastungen mit gebeugter Hüfte und aktiver Hüftabduktion wie zum Beispiel beim Hinaufgehen einer Treppe erreichen Belastungsspitzen oberhalb der normalen Knochenhomöostase die superioren Regionen des Schenkelhalses [17]. Zu große Belastung bzw. Kräfte und damit zu hoher „Gewebestress“ in Form von Biege- oder Kompressionskräften ist jedoch auch der Auslöser oder das Initialmoment für Frakturen. Für gesunden kortikalen Knochen konnte nachgewiesen werden, dass die Dehnungsgrenze zur Fraktur bei größer 1 % Dehnung liegt, so dass beim Schenkelhals ein ausreichender Sicherheitsspielraum zur spontanen Fraktur bei alltäglichen Belastungen gegeben ist [4, 23]. Andererseits jedoch kann zum Beispiel ein Stolpervorgang die Belastung der Hüfte auf das 3– bis 5-fache erhöhen und bei altersbedingt ausgedünnter Kortikalis und geschwächter Knochenstruktur die Belastungsgrenze zur Fraktur durchaus erreichen. Hierbei führen die Belastungsspitzen mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Fraktur des Schenkelhalses oder des coxalen Femurs (Abb. 2).

Kraftrichtung:
Acetabulumfraktur

Überträgt sich die Kraft jedoch axial über den Schenkelhals auf das Acetabulum, welches als Lasteinleitungs- bzw. Überleitungsfläche im Beckenring dient, so kommt es in Abhängigkeit von der Kraftrichtung zu unterschiedlichen Formen einer Acetabulumfraktur. Bei der hierbei meist indirekten Übertragung einer initial auf das Femur einwirkenden hochenergetischen Kraft, wie etwa bei der sogenannten Dash-Board-Injury, resultiert eine Verletzung der hinteren Wand des Acetabulums. Bei direkter Kraftübertragung, etwa durch Sturz auf die seitliche Hüftregion bzw. auf das Trochanter-major-Massiv kann es – abhängig von der Stellung des Femurs zum Zeitpunkt der einwirkenden Kraft – bei Außenrotation des Femurs zu Frakturen des vorderen Anteils des Acetabulums bzw. bei neutraler Stellung des Femurs zu zentralen Protrusionsfrakturen des Acetabulums kommen [10]. Zusammenfassend ist bei Frakturen des Acetabulums die Stellung des Hüftgelenkes und damit die Richtung des Kraftvektors sowie die Knochenqualität entscheidend. Eine Extremform ist die in Abbildung 2 dargestellt komplett Protrusion des Hüftkopfes in das kleine Becken (Abb. 2).

Krafteinwirkungen
auf das Becken

Verglichen zum Hüftgelenk sind die Bewegungen der weiteren Anteile des Beckens, welches die Verbindung zwischen Wirbelsäule und den unteren Extremitäten darstellt und somit für die Kraftübertragung von den Beinen auf den Rumpf und umgekehrt verantwortlich ist, insbesondere während der Gangphase gering. So kippt das Becken in sagittaler Ebene, abhängig von der Ganggeschwindigkeit, um etwa 5° bis 15° nach vorne. Frontal betrachtet, senkt sich das Becken seitlich – im Sinn des physiologischen Trendelenburg-Zeichens – um bis zu 6° auf die Seite des Spielbeines. Eine Rotation findet in der transversalen Ebene beim physiologischen Gang um etwa 10° auf der dem Standbein gegenüberliegenden Seite nach vorne statt [3, 18]. Nichtsdestotrotz ist die Biomechanik des Beckens – etwa unter dem Aspekt der Unterteilung des ringförmigen Beckens in einen anterioren und posterioren Anteil sowie der schwer zu fassenden Einflüssen der Weichteilstrukturen – mit verschiedene Versuchsaufbauten (Abb. 3) schwer darzustellen [1].

Die beiden Ossa coxae, bestehend aus Os ilium, Os ischium und Os pubis, und das Os sacrum bilden die knöcherne Grundlage des Beckenrings, wobei ventral der Kontakt beider Ossa coxae durch die Symphyse unter biomechanischem Aspekt ein Drehgelenk mit der Mediansagittalachse als Drehachse gebildet wird und dorsal die Iliosakralgelenke, welche eine minimale Beweglichkeit von 0,8° bis 2,8° aufweisen [8], mit dem entsprechenden kräftigen Bandapparat zur Verbindung der Ossa coxae mit dem Os sacrum führen.

Betrachtet man nur die auf das Becken einwirkenden Kräfte, kann durch diese äußere Belastung keine direkte Aussage auf die innere Beanspruchung des Beckens getroffen werden: Bei der Beurteilung, wie stark die jeweilige Knochensubstanz beansprucht wird, mit unter Umständen hierbei resultierender Beckenfraktur, muss die Fläche, auf welche die Kraft einwirkt, berücksichtigt werden. Dies wird in der Mechanik als Spannung definiert (Spannung = Kraft : Fläche). Die innere Beanspruchung bzw. Spannung des Beckens verteilt sich dabei auf zwei Hauptebenen, welche vom Acetabulum zum Iliosakralgelenk und zur Symphyse verlaufen [11]. Hierbei tritt beim Stand im posterioren Anteil des Beckens die Hauptlast auf. Interessanterweise findet sich während des Standes auf beiden Beinen eine, wenn auch sehr geringe Zugbelastung an der Symphyse, wohingegen im Sitzen eine Druckbelastung auftritt [19]. Vergleichbar mit den Belastungen am Schenkelhals während des physiologischen Ganges treten auch am Becken beim Gehen etwa um 150?200 % und beim Laufen 400?500 % höhere Belastungen auf.

Stabile und instabile
Beckenfrakturen

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