Informationen aus der Gesellschaft - OUP 09/2012
Der aufrechte Gang – Über die Zukunft der akademischen Bildung60. Jahrestagung der VSOU 2012, Baden-Baden:
Festvortrag von Konrad Paul Liessmann
Festvortrag von Konrad Paul Liessmann
Zusammenfassung:
In Zeiten, da unter dem Stichwort „Bologna-Reform“ das Europäische Hochschulwesen der wahrscheinlich folgenreichsten Veränderung seit dem 19. Jahrhundert unterworfen wird, stellt sich die immer schon wichtige Frage nach dem Wert und Stellenwert der akademischen Bildung in einer verschärften Weise. Denn einerseits ist es ein erklärtes Ziel des Bologna-Prozesses, möglichst vielen Menschen eine akademische Ausbildung zukommen zu lassen, anderseits wird in der Vielfalt der damit verbunden Studiengänge und Abschlüsse immer unklarer, was „akademisch“ hier überhaupt noch bedeuten kann.
Der Bogen spannt sich von praxisnah gestalteten Kurzlehrgängen bis zu wissenschaftlich höchst anspruchsvollen Doktoratsstudien; Aus-, Fort- und Weiterbildungen aller Art werden umfassend akademisiert, die Berufsorientierung und die Verwertbarkeit auf den Arbeitsmärkten gelten aber als vorrangige Ziele, Bildung mutiert zu kompetenz- und berufsorientierter Qualifikation. Deshalb schleicht sich zunehmend der Verdacht ein, dass sich hinter der neuen Titelflut alles Mögliche verbergen kann, nur keine akademischen Ansprüche, denn diese gehen notwendigerweise über eine wie auch immer qualifizierte und qualifizierende Berufsausbildung hinaus.
Akademische Bildung hat, so die These des Vortrags, in erster Linie mit einer wissenschaftlichen Bildung zu tun, die natürlich in vielen Studien eine berufsvorbereitende Funktion erfüllen wird, aber nicht auf diese reduziert werden kann. Und eine akademische Bildung hat darüber hinaus mit Kenntnissen und Fähigkeiten zu tun, die man früher vielleicht eine Haltung genannt hätte. Von wem, wenn nicht von akademisch gebildeten Menschen, kann erwartet werden, dass sie über ihr eigenes Fachgebiet und ihren engeren Wirkungskreis hinausgehende Kenntnisse, Interessen und Positionen entwickeln können?
Beide Dimensionen einer akademischen Bildung – die Orientierung an der Wissenschaft und der Anspruch auf eine entwickelte Persönlichkeit – wird durch die Bologna-Reform beschnitten. Gegen das resignative Einverständnis mit solch einer Entwicklung gilt es eine Haltung zu entwickeln, die man früher vielleicht als Mut zu einem aufrechten Gang bezeichnet hätte.
Sehr geehrte Damen und Herren,
als Philosoph einen Kongress von Orthopäden und Chirurgen mit Überlegungen zum aufrechten Gang zu eröffnen, mag ein wenig waghalsig erscheinen. Denn wer wüsste besser als Sie über den aufrechten Gang und die damit verbundenen Probleme mit Füßen und Gelenken, Wirbelsäulen und Beckenstellung, Rückenschmerzen und Belastungen Bescheid. Das ist natürlich nicht mein Thema. Eher schon die Frage, was es bedeutet, dass in der Anthropologie der aufrechte Gang als eines der entscheidenden Merkmale für die Menschwerdung des Primaten gewertet wird.
Mit dem aufrechten Gang weitet sich der Horizont, das Auge wird zum dominanten Sinnesorgan, und die Vorderbeine mutieren zur Greifhand, die nun nicht nur eine andere Form von Bewegung und Beweglichkeit erlaubt, sondern vor allem frei wird zum Verfertigen von allerlei Werkzeugen, Geräten, Waffen und Kunstwerken. Der aufrechte Gang erlaubt es allerdings auch erst, dass sich Menschen im wahrsten Sinn des Wortes gegenübertreten können, und es verwundert so wenig, dass offenbar seit Urzeiten die Preisgabe des aufrechten Ganges als eine freiwillige oder erzwungene Form der Unterwerfung gewertet wird. Wer sich in Demut, Angst oder Bewunderung jemandem nähert, zeigt dies, indem er für eine kürzere oder längerer Zeitdauer die aufrechte Haltung aufgibt – von der leichten, nur angedeuteten Verbeugung über den klassischen Bückling bis zur Proskynese, dem Fußfall reicht hier das Verhaltensrepertoire.
Aber auch jenseits solcher tatsächlich körperlich vollzogener Gesten und Riten wurde der aufrechte Gang zum Bild, zur Metapher für Menschen, die sich nicht demütigen, nicht um eines vermeintlichen raschen Erfolges wegen einem anderen andienen, die sich nicht unterwerfen. Spätestens seit den Tagen der Aufklärung wurde der aufrechte Gang zum Bild und Sinnbild des freien Menschen, der seinesgleichen mit Respekt auf Augenhöhe begegnet, sein Knie aber – wenn überhaupt – nur vor einem Gott beugt.
Der aufrechte Gang als Symbol für Selbstbestimmung und Autonomie, für Mut und Zivilcourage, für Wahrhaftigkeit und konsequentes Eintreten für seine begründeten Überzeugungen auch dann, wenn dafür Nachteile in Kauf zu nehmen sind, gehört deshalb unbedingt zu den wirkmächtigen Signaturen einer liberalen, bürgerlichen Gesellschaft, die sich aus freien Individuen zusammengesetzt dachte, denen diese Freiheit zum zentralen Imperativ und Motiv ihres Handelns wurde.
Gerade die neuzeitliche Wissenschaft und ihre Erfolgsgeschichte ist mit diesem Verständnis des aufrechten Ganges verbunden – galt es doch, die Vernunft, das Konzept der rationalen Überlegung, die Erfahrung und die Idee der empirischen Überprüfbarkeit allen Wissens gegen die Dogmen der Kirchen, die Interessen des Staates, die Versuchungen der Ideologen und die Begehrlichkeiten der Märkte zu behaupten und durchzusetzen. Der moderne Staat schließlich hat dieses Konzept von freier Wissenschaft akzeptiert, und der aufrechte Gang in allen Fragen des Wissens und der Erkenntnis, der Bildung und der Kultur sollte zu einer Selbstverständlichkeit geworden sein. Wir wissen, er ist dies mitnichten.
Gerade im Zuge der jüngsten Bildungs- und Universitätsreformen ist man mitunter erstaunt, dass viele kritische Überlegungen nur hinter vorgehaltener Hand vorgebracht wurden, man sich aber ansonsten dem Druck der Reformer, dem Sachzwang, den Wünschen der Politik im schlimmsten Sinn des Wortes „beugte“. Und „Bologna“ wurde zum Synonym für einen Prozess, in dem nicht nur viele vielleicht den aufrechten Gang vermissen ließen, sondern der uns zwingt, die Frage einer akademischen Bildung und Ausbildung und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung neu zu bedenken und zu überdenken.