Informationen aus der Gesellschaft - OUP 09/2012
Der aufrechte Gang – Über die Zukunft der akademischen Bildung60. Jahrestagung der VSOU 2012, Baden-Baden:
Festvortrag von Konrad Paul Liessmann
Festvortrag von Konrad Paul Liessmann
Zusammenfassung:
In Zeiten, da unter dem Stichwort „Bologna-Reform“ das Europäische Hochschulwesen der wahrscheinlich folgenreichsten Veränderung seit dem 19. Jahrhundert unterworfen wird, stellt sich die immer schon wichtige Frage nach dem Wert und Stellenwert der akademischen Bildung in einer verschärften Weise. Denn einerseits ist es ein erklärtes Ziel des Bologna-Prozesses, möglichst vielen Menschen eine akademische Ausbildung zukommen zu lassen, anderseits wird in der Vielfalt der damit verbunden Studiengänge und Abschlüsse immer unklarer, was „akademisch“ hier überhaupt noch bedeuten kann.
Der Bogen spannt sich von praxisnah gestalteten Kurzlehrgängen bis zu wissenschaftlich höchst anspruchsvollen Doktoratsstudien; Aus-, Fort- und Weiterbildungen aller Art werden umfassend akademisiert, die Berufsorientierung und die Verwertbarkeit auf den Arbeitsmärkten gelten aber als vorrangige Ziele, Bildung mutiert zu kompetenz- und berufsorientierter Qualifikation. Deshalb schleicht sich zunehmend der Verdacht ein, dass sich hinter der neuen Titelflut alles Mögliche verbergen kann, nur keine akademischen Ansprüche, denn diese gehen notwendigerweise über eine wie auch immer qualifizierte und qualifizierende Berufsausbildung hinaus.
Akademische Bildung hat, so die These des Vortrags, in erster Linie mit einer wissenschaftlichen Bildung zu tun, die natürlich in vielen Studien eine berufsvorbereitende Funktion erfüllen wird, aber nicht auf diese reduziert werden kann. Und eine akademische Bildung hat darüber hinaus mit Kenntnissen und Fähigkeiten zu tun, die man früher vielleicht eine Haltung genannt hätte. Von wem, wenn nicht von akademisch gebildeten Menschen, kann erwartet werden, dass sie über ihr eigenes Fachgebiet und ihren engeren Wirkungskreis hinausgehende Kenntnisse, Interessen und Positionen entwickeln können?
Beide Dimensionen einer akademischen Bildung – die Orientierung an der Wissenschaft und der Anspruch auf eine entwickelte Persönlichkeit – wird durch die Bologna-Reform beschnitten. Gegen das resignative Einverständnis mit solch einer Entwicklung gilt es eine Haltung zu entwickeln, die man früher vielleicht als Mut zu einem aufrechten Gang bezeichnet hätte.
Sehr geehrte Damen und Herren,
als Philosoph einen Kongress von Orthopäden und Chirurgen mit Überlegungen zum aufrechten Gang zu eröffnen, mag ein wenig waghalsig erscheinen. Denn wer wüsste besser als Sie über den aufrechten Gang und die damit verbundenen Probleme mit Füßen und Gelenken, Wirbelsäulen und Beckenstellung, Rückenschmerzen und Belastungen Bescheid. Das ist natürlich nicht mein Thema. Eher schon die Frage, was es bedeutet, dass in der Anthropologie der aufrechte Gang als eines der entscheidenden Merkmale für die Menschwerdung des Primaten gewertet wird.
Mit dem aufrechten Gang weitet sich der Horizont, das Auge wird zum dominanten Sinnesorgan, und die Vorderbeine mutieren zur Greifhand, die nun nicht nur eine andere Form von Bewegung und Beweglichkeit erlaubt, sondern vor allem frei wird zum Verfertigen von allerlei Werkzeugen, Geräten, Waffen und Kunstwerken. Der aufrechte Gang erlaubt es allerdings auch erst, dass sich Menschen im wahrsten Sinn des Wortes gegenübertreten können, und es verwundert so wenig, dass offenbar seit Urzeiten die Preisgabe des aufrechten Ganges als eine freiwillige oder erzwungene Form der Unterwerfung gewertet wird. Wer sich in Demut, Angst oder Bewunderung jemandem nähert, zeigt dies, indem er für eine kürzere oder längerer Zeitdauer die aufrechte Haltung aufgibt – von der leichten, nur angedeuteten Verbeugung über den klassischen Bückling bis zur Proskynese, dem Fußfall reicht hier das Verhaltensrepertoire.
Aber auch jenseits solcher tatsächlich körperlich vollzogener Gesten und Riten wurde der aufrechte Gang zum Bild, zur Metapher für Menschen, die sich nicht demütigen, nicht um eines vermeintlichen raschen Erfolges wegen einem anderen andienen, die sich nicht unterwerfen. Spätestens seit den Tagen der Aufklärung wurde der aufrechte Gang zum Bild und Sinnbild des freien Menschen, der seinesgleichen mit Respekt auf Augenhöhe begegnet, sein Knie aber – wenn überhaupt – nur vor einem Gott beugt.
Der aufrechte Gang als Symbol für Selbstbestimmung und Autonomie, für Mut und Zivilcourage, für Wahrhaftigkeit und konsequentes Eintreten für seine begründeten Überzeugungen auch dann, wenn dafür Nachteile in Kauf zu nehmen sind, gehört deshalb unbedingt zu den wirkmächtigen Signaturen einer liberalen, bürgerlichen Gesellschaft, die sich aus freien Individuen zusammengesetzt dachte, denen diese Freiheit zum zentralen Imperativ und Motiv ihres Handelns wurde.
Gerade die neuzeitliche Wissenschaft und ihre Erfolgsgeschichte ist mit diesem Verständnis des aufrechten Ganges verbunden – galt es doch, die Vernunft, das Konzept der rationalen Überlegung, die Erfahrung und die Idee der empirischen Überprüfbarkeit allen Wissens gegen die Dogmen der Kirchen, die Interessen des Staates, die Versuchungen der Ideologen und die Begehrlichkeiten der Märkte zu behaupten und durchzusetzen. Der moderne Staat schließlich hat dieses Konzept von freier Wissenschaft akzeptiert, und der aufrechte Gang in allen Fragen des Wissens und der Erkenntnis, der Bildung und der Kultur sollte zu einer Selbstverständlichkeit geworden sein. Wir wissen, er ist dies mitnichten.
Gerade im Zuge der jüngsten Bildungs- und Universitätsreformen ist man mitunter erstaunt, dass viele kritische Überlegungen nur hinter vorgehaltener Hand vorgebracht wurden, man sich aber ansonsten dem Druck der Reformer, dem Sachzwang, den Wünschen der Politik im schlimmsten Sinn des Wortes „beugte“. Und „Bologna“ wurde zum Synonym für einen Prozess, in dem nicht nur viele vielleicht den aufrechten Gang vermissen ließen, sondern der uns zwingt, die Frage einer akademischen Bildung und Ausbildung und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung neu zu bedenken und zu überdenken.
Der im Jahre 1999 von den europäischen Bildungsministern initiierte Bologna-Prozess hat offenbar eine Eigendynamik entwickelt, die weder aus den ursprünglichen Intentionen noch aus dem Willen der Beteiligten und Betroffenen erklärt werden kann.1 Denn tatsächlich wird niemand etwas gegen einen europäischen Hochschulraum, Verbesserung der Studienmöglichkeiten durch Steigerung der Mobilität, vereinfachte bürokratische Verfahren bei der wechselseitigen Anerkennung von Abschlüssen und Qualifikationen sowie eine maßvolle Berufsorientierung der Studien einwenden können.
Viel mehr als diese Gesichtspunkte und einige Hinweise zu ihrer Umsetzung enthält die ursprüngliche Bologna-Erklärung auch gar nicht. Dass daraus ein starrer Schematismus wurde, mit aufgeblähten Verwaltungen, exzessiven Modularisierungen, vollgestopften Studienplänen, inkompatiblen neuen Studienrichtungen, überflüssigen Akkreditierungen, vervielfachten Graduierungen, unnötigen Evaluierungen, verwirrenden Zertifizierungen und zahllosen Reglementierungen gehört zu jenen Transformationen, die Anlass zur Frage geben, was an gesellschaftspolitischer Zielsetzung sich nun „eigentlich“ dahinter verbergen mag.
Generell sehen sich die Universitäten durch diesen Prozess immer paradoxeren Anforderungen ausgesetzt. Einerseits soll die Akademikerrate signifikant erhöht werden, anderseits sollen Studienplätze kontingentiert werden; einerseits sollen möglichst Viele studieren, andererseits Jagd auf die „besten Köpfe“ gemacht werden; einerseits soll die Qualität der Studiengänge steigen, andererseits sollen sie kostengünstiger werden; einerseits sollen die Universitäten autonom agieren, andererseits müssen sich alle den gleichen Standards beugen; einerseits sollen die Anforderungen erhöht werden, andererseits soll es mehr Absolventen geben; einerseits soll die Mobilität zunehmen, andererseits soll in Mindestzeit studiert werden; einerseits sollen die Grundstudien berufsqualifizierend sein, andererseits sollen sie die Grundlagen für eine weitere, natürlich exzellente wissenschaftliche Ausbildung liefern. Die Liste ließe sich fortsetzen
Das, was die unter dem Namen „Bologna“ bekannt gewordene Umstrukturierung des europäischen Hochschulwesens auszeichnet, ist weniger eine Auseinandersetzung mit dem Wesen und der Idee der Universität, als vielmehr das Resultat besonderer Verhältnisse und vor allem fremdartiger Bedürfnisse. Die von den europäischen Bildungsministern im Jahre 1999 in Bologna vereinbarte Umstellung des postsekundären Bildungssektors auf ein nur vordergründig dem angloamerikanischen Modell nachempfundenes dreistufiges System (Bachelor – Master – PhD) entsprang der Idee, einen einheitlichen europäischen Hochschulraum zu schaffen, um die Vergleichbarkeit und damit die Mobilität von Wissenschaftlern und Studenten zu erhöhen. Was auf den ersten Blick durchaus plausibel erscheint – die Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulwesens – erweist sich im Konkreten jedoch womöglich als ein Moment im Prozess der Verabschiedung der europäischen Universitätsidee.2
Die Intention ist klar. Durch die verpflichtende Einführung 3-jähriger Bachelor-Studien für alle Fächer erhalten die Universitäten die Aufgabe, primär eine protowissenschaftliche Berufsausbildung zu leisten. Das erscheint sinnvoll für Länder, die kein differenziertes berufsbildendes Schul- und Fachhochschulwesen kennen. Für andere Länder bedeutete das Bakkalaureat aber eine an sich völlig unnötige Umstrukturierung der Universitätslandschaft. Auf kaltem Wege wird der Sinn der Universität als Stätte der wissenschaftlichen Berufsvorbildung, die ihre Voraussetzung in der Einheit von Forschung und Lehre hat, liquidiert.
Die flächendeckende Einführung berufsorientierter Kurzstudien wird das Bild der Universität nachhaltiger verändern als alle anderen Reformen zuvor. Der wissenschaftspolitische Sinn des Bakkalaureats, der es für viele Bildungsminister so attraktiv erscheinen lässt, liegt auf der Hand: Verkürzung der Studienzeit und Hebung der Akademikerquote.
Polemisch ausgedrückt: Der Bachelor ist der Studienabschluss für Studienabbrecher. Wer bislang mangels Qualifikation an einer Diplomarbeit scheiterte, wird nun zum Akademiker befördert. Auf dem Papier, das heißt in den OECD-Statistiken, werden sich die zahlreichen Bachelors dann auch ziemlich gut machen. Der Sache nach kann es aber nur folgendes bedeuten: Entweder nehmen die Universitäten diesen Auftrag ernst und werden in erster Linie zu Anbietern von wirtschaftsnahen und praxisorientierten Kurzstudien, die dementsprechend strukturiert, normiert und verschult sein werden – was mittelfristig Universitäten zu Fachhochschulen machen wird. Oder die Universitäten machen nur der Form nach mit und entlassen dann schlecht qualifizierte Beinahe-Akademiker als Graduierte auf einen Arbeitsmarkt, der bald erkennen wird, wes Geistes Kinder sich da tummeln.
Wie auch immer diese Kurzstudien aussehen mögen: Den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und Reflexivität werden sie nicht mehr stellen können. Da diese Kurzstudien auch rasch, kostensparend und ohne Zeitverlust absolviert werden sollen, ist klar, dass für Studenten, die nicht mehr als einen Bachelor anstreben, auch die viel gerühmte Internationalisierung ein leeres Versprechen bleiben wird. Die an den Bachelor anschließenden Masterprogramme werden für eine Minderheit der Studenten dann erst jene Form von Wissenschaftlichkeit offerieren, die für Universitäten schlechthin bestimmend hätte sein sollen.
An der Bologna-Ideologie lässt sich so einiges über den Verfall der Universitätsidee und der damit verbundenen Bildungskonzepte überhaupt ablesen. Von der mittelalterlichen Idee einer universitas magistrorum et scholarium, der Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden ist wohl nicht viel mehr übrig geblieben als von der Humboldtschen Konzeption der universitas litterarum, der Gesamtheit der Wissenschaften. Seit in den frühen 60er Jahren des 20. Jahrhunderts die große Bildungskatastrophe ausgerufen wurde und seit den daran anschließenden Reformattacken hatten die Universitäten keine Chance mehr, sich auf ihre eigentlichen Aufgaben zu besinnen.
Zur Erinnerung: Die Innovationsschübe der Moderne, deren Zentren die Universitäten wurden, begannen in der Neuzeit mit einem Konzept von Wissenschaft, das diese aus allen politischen, religiösen, aber auch merkantilen Bindungen und Verpflichtungen befreien wollte.
Darauf gründete auch der Wissenschaftsoptimismus der Moderne: Die ihrer eigenen Logik überlassene Forschung, die keinerlei Rücksicht nehmen muss, sollte der wesentlichste Garant für den zivilisatorischen Fortschritt sein. Der Gedanke, dass sich die Moderne einem Begriff des wissenschaftlichen Wissens verdankt, der erst in der Summe der Disziplinen und Richtungen seine entscheidende Gestalt erhält, vermag noch immer zu illustrieren, was Universität ihrem Begriff nach bedeutete: gerade nicht das beziehungslose Nebeneinander von Fakultäten und Fächern, Methoden und Projekten, Zielen und Gegenständen, sondern das durch ein gemeinsames Wissenskonzept gestiftete Miteinander derselben. Dass nur noch wenige große Universitäten auch nur vom Angebot her diesem Anspruch nachkommen können, ließe sich auch als eine Verpflichtung und Chance begreifen.
Gerade das Gegenteil ist der Fall: Auch große Universitäten reduzieren unter vordergründig ökonomischen Gesichtspunkten und um dem aus der Unternehmens-Ideologie stammenden Phantasma der Profilbildung zu gehorchen, ihre Forschungsschwerpunkte und ihre Studienangebote, und private oder auch öffentliche Universitätsneugründungen definieren diese ohnehin nur mehr als Ausbildungsstätte für einen extrem schmalen Bereich.
Der wichtigste Traditionsstrang der Universität der Moderne ist sicherlich die neuhumanistische, von Humboldt formulierte Einheit von Forschung und Lehre als das wesentlichste Bestimmungsmerkmal der Universität gegenüber anderen Stätten der Forschung und anderen Stätten der Ausbildung. In seinem Memorandum Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin von 1809/10 war es Humboldt, was oft übersehen wird, um eine Neuordnung der Wissenslandschaft überhaupt gegangen. Im wesentlichen unterschied er dabei 3 Institutionen: die „Akademien“ als reine Stätten der Forschung; die „Universitäten“ als Stätten der Forschung und Lehre und als Organisationen, die in „engerer Beziehung auf das praktische Leben und die Bedürfnisse des Staates“ stehen; und schließlich die von Humboldt so genannten „leblosen Institute“, also Archive, Museen, Bibliotheken etc., die sowohl von Akademien als auch von Universitäten benutzt und kontrolliert werden sollten.
Von diesen wissenschaftlichen Instituten sind dann nach Humboldt die Gymnasien und die Spezialschulen zu unterscheiden, welche für die humanistische Grundausbildung bzw. für gehobene berufliche Ausbildung zuständig sind. Trotz einer schon von Humboldt erkannten und auch beförderten Nähe der Universität zur Berufsausbildung lag der Sinn und das Wesen einer Universität für ihn nicht ausschließlich in der beruflichen Bildung, sondern vorrangig in der Arbeit an der Wissenschaft: in ihrer Entwicklung und in ihrer Vermittlung. Das und nur das unterscheidet die Universitäten von anderen Forschungseinrichtungen auf der einen und von allen anderen Schulen auf der anderen Seite: „Das Verhältnis von Lehrer und Schüler wird dadurch ein anderes als vorher. Der erstere ist nicht für den letzteren, Beide sind für die Wissenschaft da.“
Humboldt forderte also die gleichberechtigte Partnerschaft von Lehrenden und Studierenden im Geiste der Wissenschaft, wohl wissend, dass dazu „Freiheit und Einsamkeit“ ebenso notwendig sind wie „ein ununterbrochenes, sich immer selbst wieder belebendes, aber ungezwungenes und absichtsloses Zusammenwirken“ aller an diesem Prozess Beteiligter. Keine Frage: der ihm oft unterstellte weltfremde Gelehrte im Elfenbeinturm war nicht Humboldts Ideal. Aber welche der heute zu ergebnisorientierten Forschungsschwerpunkten und Vernetzungen abkommandierten Wissenschaftler könnten ihre Kommunikation mit den Kollegen noch als ungezwungenes und absichtsloses Zusammenwirken beschreiben? Die Voraussetzung universitärer Bildung – und damit war der Kreis der Studierenden selbstredend eingeschränkt – ist für Humboldt letztlich aber das aufrichtige Interesse an der Wissenschaft und ihrer Weiterentwicklung: „Sobald man aufhört, eigentlich Wissenschaft zu suchen, oder sich einbildet, sie brauche nicht aus der Tiefe des Geistes geschaffen, sondern könne durch Sammeln extensiv aneinandergereiht werden, so ist Alles unwiederbringlich und auf ewig verloren.“3 Durch Sammeln etwas extensiv aneinanderreihen – und Humboldt lebte in der Zeit vor Google.
Dass eine höhere Bildung und ein akademischer Abschluss nicht nur erstrebenswerte Güter, sondern Voraussetzungen für ein erfolgreiches Berufsleben sind und deshalb möglichst vielen zukommen sollen, hören wir immer wieder. Universitäten, die zu wenige Abschlüsse produzieren, werden gerügt, hohe Absolventenquoten angebetet wie steigende Börsenkurse. Anderseits – und dies gehört zu den Widersprüchlichkeiten, die unsere Bildungspolitik zum Teil so schwer erträglich machen – herrscht geradezu eine panische Furcht vor zu vielen Studierenden. Es soll nicht eine größere Zahl junger Menschen die Möglichkeiten eines Studiums haben, es sollen möglichst viele möglichst rasch fertig werden.
Wie man dann zu diesen gewünschten Abschlüssen, Graden und Titeln kommt – da sieht man dann vielleicht nicht mehr so genau hin. Mittlerweile haben sich ja nicht nur die akademischen Titel, die – je nachdem – vor oder nach dem Namen geführt werden, inflationär vermehrt, sondern auch die dazugehörigen Erwerbsmöglichkeiten, und der von manchen gerne propagierte freie Bildungsmarkt lässt hier noch einiges erwarten.
Wer immer heute ein Studium beendet, weiß nicht, was das damit verbundene Zertifikat eigentlich noch wert ist. Dies gilt für das Ansehen in der Wissenschaft ebenso wie für die Beurteilung durch die Öffentlichkeit oder die damit verbundenen oder erhofften Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Der Wert und die Bedeutung wissenschaftlicher Arbeit sind im öffentlichen Bewusstsein in dem Maße gesunken, in dem Studien und Abschlüsse als arbeitsmarktpolitische Maßnahmen vielleicht an Bedeutung gewonnen haben. Wichtig wäre es, dass sich vor allem die Universitäten in erster Linie als Garanten einer wissenschaftlich fundierten Bildung begreifen und dabei zu Qualitätskriterien bekennen, deren Wertschätzung auch von der Öffentlichkeit und der Politik, ganz ohne Augenzwinkern, geteilt werden sollte.
Aber was ist eine wissenschaftliche fundierte Bildung? Die erschöpft sich in der Tat nicht in einer fachlichen oder beruflichen Qualifikation, so wichtig diese auch sind. Aber an einen akademisch gebildeten Menschen darf und soll man darüber hinausgehende Ansprüche stellen. Zumindest sollte diese Bildung 3 Dimensionen berühren, die nicht nur als Resultat eines Studiums, sondern auch als Aspekte zukünftigen Handelns gesehen werden müsse.
1. Vorab, und das verstünde sich fast von selbst, wenn es nicht immer wieder in Frage gestellt wird, gehört dazu das Wissen um das Wesen von Wissenschaft überhaupt. Das Eintauchen in eine Disziplin, das Kennenlernen bestimmter Verfahren und Methoden sollte auch dazu führen, ein generelles Verständnis für diese vernunftgeleitete Form der Welterschließung führen, die wir Wissenschaft nennen. Dazu gehört auch die Fähigkeit, dieses wissenschaftliche Wissen in ein angemessenes Verhältnis zu anderen Wissensformen – religiöses Wissen, tradiertes Wissen, Wissen indigener Kulturen etc. – zu bringen.
In diesem Zusammenhang ist allerdings zu betonen – und dass dies zu betonen ist, zeigt schon, wie verschwommen unsere Vorstellung von Wissenschaft geworden ist –, dass alle nichtwissenschaftlichen Formen des Wissens, also auch religiöses Wissen, zum Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung werden können. Zu dieser Erkenntnis um das Wesen und das Zuständigkeitsfeld von neuzeitlicher Wissenschaft gehört aber auch ganz entscheidend die Einsicht, dass „wissenschaftliches Wissen“ immer „vorläufiges Wissen“ ist, also, dass auch die essenziellsten Ergebnisse selbst Einsichten sind, die jederzeit revidiert werden können, und bereits vielfach wurden.
Die Universität, jenseits aller Organisations- und Gliederungsformen, jenseits der angebotenen Studien und etablierten Forschungsrichtungen, jenseits der gerade herrschenden Reformrhetorik, sollte auch als jener Ort begriffen werden, an dem die Wissenschaft in ihrer Mannigfaltigkeit, aber auch in Ihrer Unabgeschlossenheit als die zeitgemäße Form der Weltdeutung erscheint. Absolventen einer Universität sollten dieser Idee von Wissenschaft in Form intellektueller Redlichkeit, geistiger Unbestechlichkeit und argumentierender Urteilsfähigkeit auch jenseits spezialisierter Aufgabengebiete einen Platz einräumen.
2. Dann gehört zu dieser Form akademischer Bildung ein geschärftes historisches Bewusstsein. Dieses setzt die Bereitschaft voraus, einen historischen Sinn zu entwickeln für „Gewordenheiten“, sowie für die Zufälligkeit und damit Offenheit dessen, was geworden ist. Es gilt also ein Sensorium dafür zu entwickeln, dass das, was geworden ist, auch anders hätte werden können. Das schützt auch vor einer gewissen Hybris gegenüber den Errungenschaften der eigenen Kultur. Dazu kommt die Fähigkeit, in großen Zusammenhängen und Zeitdimensionen zu denken und nicht das gegenwärtige Erleben zum Nonplusultra zu erklären und zu glauben, nur weil etwas jetzt für den letzten Schrei gehalten wird, wird es in alle Ewigkeit bestehen.
In der Geschichte müssen wir mit anderen Zeiten rechnen als mit jenen Quartalen, mit denen wir aktuell so gerne kalkulieren. Dazu gehört auch die Einsicht in die Vorläufigkeit und Vergänglichkeit alles Seienden. Der historische Sinn kann auch eine Übung in Bescheidenheit sein. Es ist auch ein Zeichen von Unbildung zu glauben, dass die Gegenwart der Vergangenheit in allen Belangen überlegen ist. Dieser Punkt muss vielleicht auch deshalb besonders betont werden, weil die historischen Kenntnisse auch bei Meinungsführern und den wirtschaftlichen Eliten in einem atemberaubenden Ausmaß verschwinden. Anstelle des historischen Sinnes ist die plakative, moralisierende Instrumentalisierung der Vergangenheit getreten.
3. Und drittens gehört zu dieser akademischen Bildung die Entwicklung ästhetischer und moralischer Sensibilitäten, durchaus das, was man altmodisch Persönlichkeitsbildung genannt hat. Hier geht es um Sprache und Sprechen, um die Fähigkeiten, sich auszudrücken, auch um Stil und Rhetorik, um Sprachbewusstsein und Sprachbeherrschung. Es geht aber auch um das das Erkennen, wie Denken und Kommunikation überhaupt funktioniert. Da Bildung immer auch als ein Prozess der Kultivierung begriffen werden kann, muss es nicht nur um die Beherrschung von Kompetenzen gehen, sondern auch darum, unser Empfindungs- und Urteilsvermögen, auch unsere Emotionen zu verfeinern und zu gestalten.
Früher hat man in diesem Zusammenhang zum Beispiel von einem „Schönheitssinn“ gesprochen, der ausgebildet werden muss, damit der Mensch imstande ist, überhaupt ästhetisch differenziert und damit auch mit Genuss wahrzunehmen. Dieser Sinn ist allerdings nicht nur eine Freizeitkompetenz, sondern unabdingbar, um Dinge in ihrem Eigenwert, jenseits von Nutzen und Rentabilitäten überhaupt wahrnehmen zu können.
Analog dazu kann man, wie in der englischen philosophischen Tradition, auch von einem moralischen Sinn, einem Sinn für Gerechtigkeit etwa sprechen, oder auch von einem Gespür für das, was einer Situation oder einem Menschen angemessen ist, also von dem, was man früher mit „Taktgefühl“ beschrieben hat. Gerade dieser Sinn für das Angemessene, für Proportionen, für die richtigen Worte, für das, was dringlich und das, was nur Ausdruck einer medialen Hysterie ist, scheint gegenwärtig ziemlich unterentwickelt zu sein.
Diese Bildung, diese Sensibilitäten, die Fähigkeit des angemessen Urteilens, lassen sich kaum in einer didaktisierten, curricular organisierten Form vermitteln oder erwerben. Es handelt sich auch nicht um Kompetenzen, die man bei einem Test ermitteln könnte, schon gar nicht geht es dabei um Bildungsstandards welcher Art auch immer.
Im Gegenteil: Hier kommt es auf jene Dimensionen von Bildungsprozessen an, wo Individualität, Zufälle, Erlebnisse und Erfahrungen und Begegnungen eine entscheidende Rolle spielen können. Auch und gerade an Universitäten geht es nicht nur um die technische Vermittlung von Wissen, sondern auch darum, dass Lehrer und Professoren eine Haltung, einen Habitus, einen Gestus, ja: einen aufrechten Gang zeigen, nicht nur in ihrem Fach, sondern auch in den dieses Fach betreffenden sozialen, politischen, ökonomischen Fragen, was oft größere Wirkung hat und mehr vermittelt als die eine oder andere Power-Point-Präsentation. Absolventen einer Universität, die diesen Namen noch verdient, sollten neben einer gediegenen wissenschaftlichen Qualifikation, neben einer Erfolg versprechenden berufsorientierten Ausbildung auch etwas von jener Bildung erfahren, die es ihnen nicht nur ermöglicht, ihre Persönlichkeit zu entwickeln, sondern die es ihnen auch kraft einer geschulten Urteilskraft erlaubt, in und für diese Welt, wohin auch immer ihr weiterer beruflicher Werdegang sie führen mag, in angemessener Form jene Verantwortung zu übernehmen, die so viele Mitglieder unserer sogenannten Eliten zur Zeit vermissen lassen.
Denn von wem, wenn nicht von unseren Akademikern, können wir jene Einsicht und Weitsicht, jene Fähigkeit erwarten, im Detail das Allgemeine, und im Allgemeinen das Besondere zu erblicken, jene Horizontüberschreitung und ja, jenen aufrechten Gang, der für die Lösung der Probleme, denen sich unsere Gesellschaft zu stellen hat, vielleicht notwendiger denn je ist.
Fussnoten
1 Vg. Dazu und zum folgenden: Konrad Paul Liessmann: Theorie der Unbildung. München. Piper 2008
2 Vgl. dazu auch Jochen Hörisch: Die ungeliebte Universität. München. Hanser 2006
3 Wilhelm von Humboldt, Schriften zur Politik und zum Bildungswesen. Werke Bd. IV, hg. v. Andreas Flitner und Klaus Giel, Darmstadt. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1993, S. 257f.