Originalarbeiten - OUP 12/2012

Die Bedeutung der sagittalen Balance in der Wirbelsäulenchirurgie

L. Ferraris1, H. Koller1, O. Meier1, A. Hempfing1

Zusammenfassung: Die Bestimmung der sagittalen und spinopelvinen Parameter der Wirbelsäule gehören zur Beurteilung jeder Deformität der Wirbelsäule. Die Pelvic incidence (PI) ist der wesentliche geometrische Parameter des Beckens, welcher direkt die Ausrichtung des Beckens sowie die lumbale Lordose und auch die globale sagittale Balance beeinflusst. Demgegenüber spiegeln die positionellen Parameter Sacral slope (SL) und Pelvic tilt (PT) Anpassungsvorgänge des Beckens wider. Es ist inzwischen durch umfangreiche Literatur über Deformitäten der Wirbelsäule belegt, dass nur bei Wiederherstellung der sagittalen Balance und der spinopelvinen Harmonie im Rahmen der operativen Therapie gute Langzeitergebnisse erzielt werden können. Die vorliegende Arbeit gibt einen Überblick über das Konzept des spinopelvinen Alignements und fasst die wesentlichen Ergebnisse der Literatur im Hinblick auf die unterschiedlichen Krankheitsbilder zusammen.

Schlüsselwörter: Wirbelsäule, sagittale Balance, lumbale
Lordose, spinopelvine Parameter, Osteotomie

Abstract: The evaluation of the sagittal and spinopelvic parameters are an integral part of the examination of spinal deformities. The pelvic incidence (PI) is the fundamental geometric parameter of the pelvis, which directly influences the orientation of the pelvis as well as lumbar lordosis and global sagittal balance. In contrast, sacral slope (SL) und pelvic tilt (PT) are positional parameters reflecting compensation mechanisms of the pelvis. A significant amount of literature regarding spinal deformities shows, that only with restoration of the sagittal alignement and spinopelvic harmony, good long term outcome can be achieved. This paper gives an overview about the concept of spinopelvic alignement and summarizes the most significant literature regarding various spinal deformities.

Keywords: spine, sagittal balance, lumbar lordosis, spinopelvic parameters, osteotomy

Einleitung

Die Bedeutung des sagittalen Profils für die normale Funktion der Wirbelsäule ist seit Jahrzehnten bekannt. Die Konsequenzen für die Wirbelsäulenchirurgie wurden diskutiert und die inzwischen umfangreiche Literatur zeigt die Notwendigkeit des operativ wiederhergestellten sagittalen Profils.

Als ein neuerer Aspekt der sagittalen Balance ist auch die Beziehung zwischen Becken und der Wirbelsäule (spinopelvine Parameter) in den letzten Jahren zunehmend in den Blickpunkt geraten, auch wenn Dubousset bereits 1975 beschrieben hat, dass nur ein physiologisches spinopelvines Alignement eine energie-effiziente Haltung ermöglicht. Zum einen existieren Hinweise, dass eine spezifische Morphologie des Beckens (pelvic incidence) die Entstehung bestimmter Krankheitsbilder wie etwa der Spondylolisthese fördert, zum anderen spiegelt eine pathologische Beckenkippung (pelvic tilt) Anpassungsvorgänge an eine Imbalance der Wirbelsäule wider.

Dieser Artikel bietet einen Überblick über die speziellen Charakteristika der sagittalen und spinopelvinen Balance. Es soll das Verständnis dafür vertieft werden, dass dem sagittalen Profil eine wesentliche Bedeutung in der Diagnostik und Behandlung zahlreicher Wirbelsäulendeformitäten zukommt. So müssen im Rahmen der OP-Planung die individuelle Beckengeometrie (pelvic incidence) sowie die dynamischen spinopelvinen Parameter und die lumbale Lordose berücksichtigt werden, um unabhängig von der Art der bestehenden Wirbelsäulen Pathologie eine Korrektur zum physiologischen Bereich zu erzielen und eine fixierte sagittale Imbalance zu vermeiden.

Sagittale Balance
der Wirbelsäule

Grundlage der Diagnostik des sagittalen Wirbelsäulenprofils ist die seitliche Röntgenaufnahme der gesamten Wirbelsäule. Dass das Verständnis für die Bedeutung der sagittalen Statik auch heute oft noch fehlt, zeigt sich auch daran, dass insbesondere in der Traumatologie häufig nur der Bereich der Pathologie geröntgt wird. So sind aber etwa bei der Beurteilung einer posttraumatischen Kyphose oder zur OP-Planung einer multisegmentalen degenerativen Instabilität eine Wirbelsäulen Ganzaufnahme unerlässlich. Zunächst erfolgt die Beurteilung der lokalen Kyphose, der thorakalen Kyphose sowie der LWS-Lordose. Als Anhaltspunkt und Hilfestellung für den orthopädisch-unfallchirurgischen Alltag dienen folgende Referenzwerte der Scoliosis Research Society: Hochthorakal (T1–T5): ? 20°; thorakal (T5–T12): ? 50°; thorakolumbal (T10–L2): ? 20°; und lumbal (T12–S1): ? –40°.

Die Erfassung der globalen Balance in der sagittalen Körperebene ist ein altes, aber elementares Instrument zur Beurteilung von Wirbelsäulendeformitäten: Die Schwerpunktlinie des Körpers einer frei stehenden Person liegt ventral der Wirbelsäule zentriert über der Hüftgelenkachse und wird über einen kleinen Bereich zwischen den Füßen balanciert. Unter idealen statischen Bedingungen ist die Wirbelsäule in der Sagittalen balanciert, wenn ein Lot, zentral bei C7 angelegt, hinter L3 fällt, den hinteren Anteil der S1-Endplatte schneidet und hinter der Hüftgelenkachse verläuft. Die Erfassung des radiologischen C7-Lots erlaubt daher eine einfache Beurteilung der globalen sagittalen Balance.

Kommt es aufgrund von strukturellen oder haltungsbedingten (muskulären) Fehlstellungen einzelner Wirbelsäulenabschnitte zu einer C7-Lotverlagerung ventral der Hinterkante von S1, > + 5 cm, so spricht man von einer positiven sagittalen Imbalance. Fällt das C7-Lot ventral der Hüftgelenkachse, so spricht man von einer dekompensierten sagittalen Imbalance. Sowohl für die Beurteilung der sagittalen Balance als auch für die im folgenden beschriebene spinopelvine Balance müssen die Hüftgelenke auf dem seitlichen Röntgenbild der Gesamt-Wirbelsäule mit abgebildet sein.

Spinopelvine Balance

Die Positionierung einzelner Wirbelsäulenabschnitte in der Sagittalebene folgt dem Konzept der spinopelvinen Balance und ist für das Verstehen der Diagnostik und Therapie sagittaler Deformitäten der Wirbelsäule essenziell. Die spinopelvinen Parameter beschreiben das physiologische Abhängigkeitsverhältnis einzelner Wirbelsäulenabschnitte untereinander sowie zum Becken. Die Position des Beckens in Relation zur Wirbelsäule ist von besonderer Bedeutung, da das Becken als Regulator für die sagittale Einstellung der Wirbelsäule wirkt. Die radiologische Beurteilung der spinopelvinen Balance wurde durch Entwicklung differenzierter radiologischer Messtechniken [1, 2] möglich und charakterisiert die angeborene Geometrie des Beckens, die Beckenkippung und die Rotation des Beckens in der sagittalen Ebene. Die wichtigsten Parameter sind einfach zu erfassen und in Abb. 1 zusammengefasst.

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