Originalarbeiten - OUP 11/2012

Die Bedeutung des Atlas aus der Sicht der Angewandten
Humankybernetik sowie seiner biomechanischen Belastung und Funktionsweise

Die wissenschaftlichen Grundlagen werden geliefert für die Manualtherapie, Osteopathie, Physiotherapie und Reflextherapie. Struktur und Funktion werden reziprok verknüpft. Tensegrity-Strukturen sind sehr stabil; sie verteilen und balancieren mechanischen Stress. Durch Tensegrity-Strukturen lassen sich Gesundheit und Krankheit in den o.g. Therapiebereichen durch folgende Aussagen erklären:

Die Form beherrscht die Funktion, die Form wird beherrscht von bewegten Strukturen, somit ist die Struktur für die Funktion verantwortlich. Eine Rückstellfähigkeit zur Ausgangslage ist möglich, eine somatische Dysfunktion oder Funktionsstörung beeinflusst die Bewegung des ganzen Menschen bis hin zur zellulären Ebene. Eine mangelnde Rückstellfähigkeit der Zellstruktur (Erschöpfung des Systems) bildet die Grundlage von Krankheitserscheinungen am Haltungs- und Bewegungsorgan. Ein dauerhaft gestörtes Gelenk in seiner funktionellen Endstellung wird hiermit durch seine Mikrostruktur durch funktionelle Erschöpfung erklärt. Die Medizin als empirische Wissenschaft wird zunehmend auf naturwissenschaftliche Grundlagen gestellt, eigene Forschungen im Bereich des HWS-Schleudertraumas konnten die wissenschaftlichen Nachweise für die geschilderten Phänomene erbringen [4]. Die Kraftverteilung im menschlichen Körper bei Gewichthebern zeigt die hohe Entlastung der Wirbelsäule – speziell der Bandscheiben und kleinen Wirbelgelenke – durch umgebende Strukturen von Kapseln, Bändern und Muskeln bis hin zur Haut [2].

Als Erklärungsmodell der Atlasentlastung aus biomechanischer Sicht können nachfolgende Punkte aufgeführt werden:

1. Optimale Kraftverteilung über Tensegrity vom Kopfgewicht über Gelenkverbindung C0/C1, C1/C2, Gelenkkapseln, Muskeln, Fascien, Bänder, schrittweise bis zur Haut des Halses.

2. Anatomische Muskelanordnung der Atlasregion durch Ursprung und Ansatz sowie deren Verlaufs-Richtung ergibt sich eine kompensatorische Kraftreduktion der Gelenke C0/C1, C1/C2 (vektorielle Neutralisierung)

3. Fachwerkkonstruktion, Dorn- und Querfortsatzverlauf sowie Muskelanordnung, die Fachwerke bauen sich aus Dreiecken auf (Kraftecke, Konstruktionsvorteile, 3D-Fachwerk), (Abb. 5).

Ein Fachwerk ist eine Tragkonstruktion mit geringerem Materialaufwand (Leichtbaukonstruktion). Stäbe des Fachwerks nehmen nur Druck- und Zugkräfte auf. Dadurch kommt es zu einer Ausnutzung des ganzen Stabquerschnitts bis zur Spannungsgrenze. Äußere Kräfte greifen an den Knotenpunkten an. Es entsteht eine bestmögliche Werkstoffausnutzung (keine Biegebeanspruchung). Der Atlas ist durch diese Analyse wesentlich geringer belastet als formal bislang angenommen. Physikalisch gesehen kann man von einer weitgehend entlasteten Ringfunktion ausgehen. Die nicht auftretenden Spondylarthrosen in diesem Bereich bestärken unsere Hypothesen (Abb. 2). Durch diese 3 biomechanischen Gesetzmäßigkeiten entsteht eine erhebliche Kräftereduktion auf den Gelenkflächen der Kopfgelenke C0/C1, C1/C2 bei Neutralstellung des Kopfes.

Praktische Relevanz für
Behandlung und Anwendung

Die dargestellten Grundlagen der Humankybernetik und Tensegrity machen die guten Therapiewirkungen der Atlasmedizin, der Manualtherapie, der Osteopathie und der Physiotherapie im Kopfgelenkbereich verständlich. Das Grundlagenwissen zur Atlasentlastung wird durch diesen Beitrag geliefert. Die dargestellten Erkenntnisse bedürfen der weiteren Verifizierung. Sie stellen Optionen für die Zukunft von neuen Therapieformen dar und dienen der Optimierung von bislang durchgeführten Therapien aus dem o.g. Therapiespektrum.

Fazit

Die Erkenntnisse aus dieser Arbeit erklären die guten Behandlungsergebnisse im Bereich der Atlasmedizin und der manuellen Medizin einschließlich der Osteopathie. Der Atlas muss aufgrund unserer Erkenntnisse eine Sonderstellung im Bereich seiner Steuer- und Gelenkfunktionen sowie seiner biomechanischen Arbeitsweise einnehmen. Ein weiterführender wegweisender Hinweis dazu waren die nicht beobachteten Kopfgelenkarthrosen. Der Atlas in seiner Funktion lässt sich als Regel- und Steuerorgan deuten (Humankybernetik). Die optimale Kraftverteilung bei hoher Beweglichkeit lässt sich durch Tensegrity-Strukturen und die 3D-Fachwerke erklären. Eine weitgehende Entlastung der Gelenkflächen C0/C1, C1/C2 ist über die o.g. Kernaussagen erklärbar. Die vorliegende Arbeit ist eine hypothetische Zusammenführung aus Humankybernetik und Tensegrity. Beweise durch biomechanische Modellrechnungen werden folgen müssen. Die humankybernetische Beweislage könnte durch MRT-Aufnahmen der halbseitigen Feedback-Aktivierung über die Granulationes arachnoideales im Sinus sagittales superior bei Bewegungen der Extremitäten manifestiert werden. Außerdem bedarf die Zeitdifferenz zwischen der reflektorischen Vorspannung der beteiligten Muskulatur des HWS-Bereiches und der physikalischen Stoßwelle durch den Körper einer Beweislage.

Literatur

1. Koerner H, Würzner A. Kleiner Impuls – Große Wirkung. Orthopädische Praxis 2010; 46: 191–201

2. Siemsen CH, Dittrich H. Kräfteverteilung im Körper des Menschen am Beispiel von Gewichthebern – Tensegrity als Erklärungsmodell. Osteopathische Medizin 2009, 10; 14–18

3. Ingber DE, Chen CS. Tensegrity und Mechanoregulation: Vom Skelett zum Zytoskelett. Osteopathische Medizin 2008; 4: 4–17

4. Tensegrity, Theoretisches Gesundheits- und Krankheitsmodell. Manuelle Medizin 2006; 44: 121–124

5. Buckminster-Fuller R. Tensegrity: Durch Spannung im Gleichgewicht gehaltenes System – Vision der Moderne, Das Prinzip Konstruktion. München: Prestel-Verlag, 1986: 138–151

Korrespondenzandresse

Dr. med. Dipl.-Ing. H. Koerner

Liepnitzstr. 16, 10318 Berlin

koernerdoc@t-online.de

Fussnoten

1 Institut für Angewandte Humankybernetik; Praxis für Orthopädie, Manuelle Medizin, Sportmedizin, Berlin

2 Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Arbeitsbereich Biomechanik der Fakultät Life Science Hamburg; Orthopädische Facharztpraxis Buxtehude, Manuelle Medizin, Sportmedizin, Spezielle Schmerztherapie, Osteopathie

DOI 10.3238/oup.2012.0454–0458

SEITE: 1 | 2 | 3