Originalarbeiten - OUP 09/2018

Digitale Transformation der Medizin
Brauchen wir ein Curriculum 4.0 für die Aus-, Fort- und Weiterbildung?Do we need a Curriculum 4.0 for education and training?

Aktuell existieren weltweit über 380.000 Apps mit Gesundheitsbezug. Bei einer zunehmenden Flut an Gesundheits-Apps stehen wir vor der Herausforderung, nach welchen Kriterien (medizinischer Nutzen, Datenschutz, Anwendbarkeit etc.) die Qualität der Apps beurteilt werden kann [1]. In Kombination mit Smartwatches und Fitnesstrackern werden personalisierte Daten zur körperlichen Betätigung und zu basalen medizinischen Werten (z.B. Herzfrequenz) generiert. In diversen Studien wird die Machbarkeit von Gesundheits-Apps erforscht, u.a. mit dem Ziel, die postoperative Rehabilitationsphase zu optimieren, beispielsweise nach arthroskopischer Versorgung von Rotatorenmanschettenrupturen [15]. Hierzu wurde durch eine Gruppe von Orthopäden und Informatikern eine mobile App konzipiert, die Patienten über einen Zeitraum von 12 Wochen begleitet, angepasst an die jeweilige Phase der postoperativen Rehabilitation. Den Teilnehmern wurden innerhalb der App Instruktionen und Videos angeboten, die postoperativen Einschränkungen formuliert und die Möglichkeit gegeben, ihre Medikation einzutragen. Durch tägliche Fragebögen wurden Probleme in der App-Anwendung abgefragt. Ein Grund für die niedrige Nutzungsrate lag u.a. an einem Mangel an digitalen Kompetenzen seitens der Patienten.

Eine bereits fest etablierte Anwendung im klinischen Alltag stellt die Teleradiologie dar [19]. Im Rahmen der Versorgung polytraumatisierter Patienten sorgt die zeitkritische Übertragung von Bilddaten zwischen den Traumazentren für eine Prozessoptimierung, insbesondere dann, wenn Patienten verlegt werden müssen oder eine Zweitmeinung zu komplexen oder hoch spezialisierten Pathologien eingeholt wird (Schädel-Hirn-Traumata, Verletzungen der Aorta). In Pilotprojekten wird zum aktuellen Zeitpunkt die Machbarkeit eines Telenotarztes in vornehmlich strukturschwachen Regionen erforscht [6]. Voraussetzung ist die technische Implementation einer robusten telemedizinischen Übertragung der Vitalparameter (Blutdruck, EKG, Sauerstoffsättigung) des Patienten an den Ort des Telenotarztes, um so über eine audiovisuelle Verbindung mit den vor Ort anwesenden Rettungsassistenten adäquat kommunizieren zu können. Telemedizinische Anwendungen müssen in den Arbeitsworkflow und somit in vorhandene Krankenhausinformationssysteme integriert werden, da ansonsten die Nutzung unter Ärzten aufgrund von Zeitmangel und des zu hohen technischen Schwierigkeitsgrades gehemmt wird.

In der operativen Medizin gewinnt der Einsatz von Virtual und Augmented Reality (VR/AR) zunehmend an Bedeutung. Aktuell wird in Studien evaluiert, inwiefern VR/AR-Anwendungen das Erlernen operativer Fertigkeiten unter realistischen Bedingungen erleichtern können, beispielsweise das fluoroskopisch kontrollierte Einbringen von sakroiliakalen Schrauben oder von dynamischen Hüftschrauben.

Die Digitalisierung der medizinischen Informationen bedingt eine Zunahme an Daten, von Arztbriefen über OP-Berichte bis hin zu erhobenen Parametern von Gesundheits-Apps. Diese Datenmengen erlauben eine spezifische Erforschung von komplexen Zusammenhängen. Künstliche Intelligenzen (KI) werden zunehmend an verschiedensten Themengebieten und Fragestellungen untersucht und versprechen u.a. einen Lösungsansatz im Umgang mit diesen großen Datenmengen. Durch Analyse von natürlich-sprachlichem Text kann natural-language-processing medizinische Texte strukturieren und so zur Entscheidungsfindung beitragen [14]. Deep-learning-Algorithmen erlauben die automatische Analyse von Bilddaten, exemplarisch in der Bestimmung des Knochenalters anhand einer Röntgenaufnahme der Hand oder in der Erkennung und Klassifikation von proximalen Humerusfrakturen [4].

Die digitale Transformation der Medizin stellt somit einen fundamentalen Wandlungsprozess dar, dessen Einfluss auf das zukünftige Berufsbild des Arztes aktuell nur erahnt werden kann. Fest steht jedoch, dass diese Entwicklung die Arbeitsprozesse wesentlich modifiziert und somit eine begleitende Ausbildung erfordert [11]. Der Wandel von wissens- zu prozessbezogenem Denken muss in der ärztlichen Aus-, Fort- und Weiterbildung adressiert werden.

In Bezug auf die ärztliche Ausbildung lohnt ein Blick in die Curricula des Humanmedizinstudiums. Trotz der aktuell stattfindenden fakultären Reformprozesse, adressiert weder der 2015 verabschiedete „Nationale Kompetenzbasierte Lernzielkatalog“ (NKLM) noch der 2017 verabschiedete „Masterplan Medizinstudium 2020“ die Aspekte der digitalen Transformation. Vielfach wird behauptet, dass die heutigen Studierenden als erste Generation der „digital natives“ in Symbiose mit technischen Neuerungen und digitalen Anwendungen leben. Alleine das Aufwachsen mit digitalen Medien und deren Nutzung als Consumer reicht jedoch nicht aus, um sich arztspezifische digitale Handlungskompetenzen anzueignen. In einer Studie des Hochschulforums Digitalisierung schnitten nur 21 % der Studierenden als „digitale Allrounder“ ab [18]. Der Großteil sammelt Erfahrungen vor allem in einer passiven, konsumierenden Rolle und nimmt keinen aktiven Einfluss auf die digitale Umwelt.

Der Kompetenzaufbau in Aus-, Fort- und Weiterbildung darf nicht als Nebenprodukt einer fachlichen Wissensvermittlung erwartet werden, sondern braucht eine gezielte und systematische Verankerung in jeweiligen Curricula [8]. Es verlangt von den Medizinstudierenden, aber auch von den bereits approbierten Ärztinnen und Ärzten eine grundlegende und aktive Auseinandersetzung mit den Kernthemen der digitalen Transformation und den übergeordneten Fertigkeiten. Ärzte müssen Kompetenzen besitzen, um den Veränderungsprozess zu verstehen und um neue digitale Behandlungskonzepte und -formen einordnen zu können. Sie müssen praktische Fertigkeiten erlernen und ihre Haltung zur digitalen Medizin reflektieren. Es gilt, die aus ärztlicher Sicht für die Patienten sinnvollen Entwicklungen in der Praxis anzuwenden, Fehlentwicklungen zu erkennen und diese zu meiden. Dieser Ansatz wurde bei „Medizin im digitalen Zeitalter“ erstmals im deutschsprachigen Raum curricular abgebildet.

Methoden

Das Blended-learning-Curriculum „Medizin im digitalen Zeitalter“ setzt sich aus 5 Lernmodulen zusammen, die jeweils aus einer E-learning-Einheit und einer 3-stündigen Präsenzunterrichtseinheit bestehen:

  • Modul 1 Digitale Arzt-Patienten-Kommunikation und soziale Netzwerke
  • Modul 2 Smart Devices und Medizinische Apps
  • Modul 3 Telenotarzt, Teleradiologie, Telemedizin
  • Modul 4 Virtual Reality, Augmented Reality und Computer-assistierte Chirurgie
  • Modul 5 Individualisierte Medizin und Big Data

„Medizin im digitalen Zeitalter“ zielt bewusst auf eine Mischform zwischen digitalen Lehr- und Lernformen sowie Präsenzunterricht ab. Vor Unterrichtsbeginn erarbeiten die Studierenden anhand eines E-Books Grundlagen der digitalen Medizin. Im Präsenzunterricht werden Situationen des digitalen Gesundheitssystems praxisnah aufgegriffen. Simulationen mit App-basierten Behandlungskonzepten, Videosprechstunden und Diskussionsrunden erlauben eine aktive und praktische Interaktion mit den neuen Behandlungskonzepten. In kritischen Diskussionen der Teilnehmer mit den Dozententeams werden sowohl die Chancen und Möglichkeiten als auch die Risiken und Limitationen der digitalen Medizin sichtbar. Hierbei wird explizit der Ansatz verfolgt, die digitale Transformation der Medizin interdisziplinär und interaktiv abzubilden. Der Präsenzunterricht wird in Kleingruppen mit Unterstützung verschiedener medizinischer Fachdisziplinen (Anästhesie, Chirurgie, Medizinische Informatik Medizinethik, Psychologie, Pädiatrie, Psychosomatik, Radiologie, Unfallchirurgie und Orthopädie) durchgeführt. Des Weiteren wird das Dozententeam im Sinne eines transdisziplinären Ansatzes durch App-Entwickler, Vertreter des Landesdatenschutzes und Patienten erweitert. Neben der Vermittlung von Wissen liegt der Fokus insbesondere auf den praktischen Fertigkeiten im Umgang mit den digitalen Anwendungen und einer Reflexion der persönlichen Haltung. Wissen – Fertigkeiten – Haltung: Nur die Integration dieser 3 Aspekte führt zur Kompetenz. Ziel ist es, die Studierenden zu aktivem und eigeninitiativem Lernen anzuleiten, um so zu einer differenzierten Haltung und zur Selbstverortung in einer digitalen Medizinwelt zu gelangen.

Modul 1: Digitale Arzt-
Patienten-Kommunikation und soziale Netzwerke

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