Übersichtsarbeiten - OUP 04/2020
Endoskopische Wirbelsäulenchirurgie bei lumbalem Bandscheibenvorfall
Janis Petrovics, Tobias Pitzen, Carl Hans Fürstenberg
Zusammenfassung:
Endoskopische Verfahren werden in den letzten Jahrzehnten zunehmend in nahezu allen chirurgischen Bereichen angewendet, unter anderem auch in der modernen Wirbelsäulenchirurgie. Die Autoren geben in diesem Kapitel einen Überblick über die Geschichte, die Indikation, die Technik und die Ergebnisse (eigene und Literatur) zur endoskopischen Operation des lumbalen Bandscheibenvorfalls.
Schlüsselwörter:
Chirurgie, Wirbelsäule, Endoskopie, lumbaler Bandscheibenvorfall
Zitierweise:
Petrovics J, Pitzen T, Fürstenberg CH: Endoskopische Wirbelsäulenchirurgie bei lumbalem
Bandscheibenvorfall. OUP 2020; 9: 245–249 DOI 10.3238/oup.2020.0245–0249
Summary: Endoscopic procedures have been used to almost all surgical fields within the last decades. This is also true for modern spine surgery. Here, the authors give an overview on history, indication, technique and results from literature and their own in the treatment of lumbar disc herniation.
Keywords: surgery, spine, endoscopy, lumbar disc prolapse
Citation: Petrovics J, Pitzen T, Fürstenberg CH: Endoscopic spine surgery for lumbar disc herniation.
OUP 2020; 9: 245–249 DOI 10.3238/oup.2020.0245–0249
Janis Petrovics, Tobias Pitzen: SRH Klinikum Karlsbad-Langensteinbach, Zentrum für Wirbelsäulenchirurgie, Orthopädie und Traumatologie, Karlsbad
Carl Hans Fürstenberg: SRH Klinikum Karlsbad-Langensteinbach, Zentrum für Wirbelsäulenchirurgie, Orthopädie und Traumatologie, Abteilung für Paraplegiologie, Karlsbad
Einleitung
Endoskopische Verfahren haben in den letzten Jahren in nahezu allen chirurgischen Fächern einen deutlichen Aufschwung erlebt. Zwar hat es seit der ersten theoretischen Beschreibung der Technik recht lange gedauert, bis die Verfahren bei einer größeren Zahl von Anwendern Beachtung fanden und angewendet wurden, aber letztendlich hat die Endoskopie in die Chirurgie Einzug gehalten. Auch die Wirbelsäulenchirurgie ist hier keine Ausnahme: Endoskopische Operationen, zum Beispiel bei degenerativen Pathologien an der Lendenwirbelsäule, wurden bereits früh beschrieben [1, 4, 5, 8, 9, 10, 11, 12]. Ein Hauptvorteil für den Patienten ist das geringere Zugangstrauma mit den hierdurch bedingten kleineren Inzisionen und ggf. kürzeren Liegezeiten neben weiteren Vorteilen für den Operateur wie der guten Sicht und einer besseren Vergrößerung. Dies bedingt eine hohe Akzeptanz bei Patienten und Ärzten. Eine weitere wesentliche Rolle spielt ebenso der Fortschritt in der Entwicklung von Endoskopen für die spinale Anwendung und die heute exzellente Bildgebung und Auflösung (Ultra-HD), die Kontrolle und Dokumentation gleichzeitig in hohem Maße ermöglicht.
Geschichte
Die spinale Endoskopie wurde erstmals 1931 von Burman [1] in einer Kadaverarbeit beschrieben. Er versuchte, mit einem Arthroskop die Erkrankungen des Spinalkanals und Kaudabereichs zu identifizieren. Diese Arbeit ist wichtig, aber auch eine rein theoretische. Das damals benutze Instrumentarium genügte allerdings eher nicht den Ansprüchen einer brauchbaren Endoskopie, aber bereits wenige Jahre später (1938) war das Instrumentarium schon deutlich besser [10–12] und es wurden über 400 Fälle von intrathekalen Beobachtungen beschrieben und illustriert. Technik und Methode wurden weiter entwickelt durch Ooi, Satoh und Morisaki [8, 9] und zusätzliche Bewegung kam in die Endoskopie durch die gleichzeitige industrielle Entwicklung von Glasfaser- und Fiberoptiken in den 1970er Jahren sowie dann nochmals durch die Entwicklung der Visualisationstechnik mit gleichzeitiger Verbesserung der Zugangswege zum Spinalkanal. In den frühen 1970er Jahren begannen Kambin und Gellman mit der Entwicklung von Instrumentarien für die posterolaterale perkutane „blinde“ Diskektomie. Ihre erste Publikation hierzu erschien aber erst 1983 [5]. Gleichzeitig beschäftitge sich Kambin mit anatomischen Grundlagen für diese Technik (1987) und publizierte eine anatomische Kadaverarbeit über den posterolateralen Zugang und einer „safety zone“, das „Kambin Dreieck“, für die endoskopische Chirurgie im Spinalkanal [4].
Im weiteren Verlauf entwickelte sich die endoskopische Chirurgie zur Versorgung degenerativer Pathologien rascher, wurde beliebter und auf die Indikation „Trauma“ ausgeweitet [7]. Auch im thorakalen Bereich fand die Technik Anwendung [18].
Maßgeblich an der Ausbreitung und Beliebtheit der endoskopischen Wirbelsäulenchirurgie bei degenerativen Erkrankungen der Lendenwirbelsäule sind folgende Aspekte: Endoskopische Bandscheibenoperationen können ambulant durchgeführt werden und sogar in Lokalanästhesie erfolgen. Das Risiko einer epiduralen Blutung ist gering und somit auch das Risiko der Narbenbildung. Ein geringes Weichteiltrauma bedingt ein geringes Infektionsrisiko. Eine schnelle Rehabilitation und frühere Rückkehr zur Arbeit können diskutiert werden. Derzeit gibt es Daten, die eine Überlegenheit der Methode gegenüber der klassischen, mikrochirurgischen Therapie aufzeigen [16].
Indikationen
Gute Indikationen für eine endoskopische lumbale Bandscheibenoperation sind nach unserer Meinung folgende Befunde:
mediolateraler lumbaler Bandscheibenvorfall
intra- und extraforaminale lumbale Bandscheibenvorfälle
kranio-kaudal frei sequestrierte lumbale Bandscheibenvorfälle
o.g. Pathologien bei Patienten mit Adipositas (per magna), bei denen aufgrund der Tiefe häufig Sperrer und Ausleuchtung über das Mikroskop an ihre Grenzen stoßen [6].
Kontraindikation
Eine relative Kontraindikation besteht für verknöcherte oder teilverknöcherte Bandscheibenvorfälle, bei denen der Operateur in Abhängigkeit seiner Erfahrung die Entscheidung zum endoskopischen Vorgehen treffen sollte.
Technik
Transforaminaler Zugang
Die endoskopische Operation über den transforaminalen Zugang (Abb. 1) ist in Lokalanästhesie (mit Analgosedierung) oder in Intubationsnarkose (ohne Relaxation) möglich. Wir bevorzugen die Operation in Intubationsnarkose, um ungewollte Spontanmotorik des Patienten zu vermeiden, vor allem während der Exposition der Nervenwurzel. Die Lagerung des Patienten kann in Seitenlage als auch in Bauchlage erfolgen. Wir bevorzugen die Seitenlage, um eine Retraktion der neuralen Strukturen mit Hilfe der Gravitation zu erreichen und das Neuroforamen durch die Lagerung zu erweitern. Die Abdeckung erfolgt mit einem transparenten Vertikaltuch, sodass anatomische Landmarken gut erkennbar sind (Abb. 2). Der Hautschnitt erfolgt durch eine kleine Hautinzision (0,8–1 cm), nachdem mit der Zugangsnadel das Neuroforamen über das Kambin Dreieck unter radiologischer und anatomischer Kontrolle punktiert wurde. Wenn man hierbei zuerst die Nadelspitze auf dem Prozessus artikularis superior (PAS) an einem sicheren knöchernen Ort platziert, kann dann sicher über den PAS in das Kambin Dreieck und das Neurofarem bis zur Hinterkante des unteren Wirbelkörpers gerutscht werden. Nach der dann erforderlichen Dilatation der paravertebralen Muskulatur in Seldinger-Technik und Erweitern des Neuroforamen mit den Reamer-Fräsen unter radiologischer Kontrolle, wird der Arbeitstrokar eingeführt und radiologisch kontrolliert (Abb. 3–4). Über den Arbeitstrokar wird dann das Endoskop, in dem Bereich der Lendenwirbelsäule in der Regel eine 30° Optik, eingebracht. Der transforaminale Zugang kann sowohl in der Lendenwirbelsäule als auch in der Brustwirbelsäule angewendet werden. Limitierend ist die Beckenanatomie (Os ileum) im Fach L5/S1 – der Zugang ist mittels der dorsolateralen Technik möglich, erfordert allerdings eine gewisse endoskopische Erfahrung
Interlaminärer Zugang
Historisch gesehen wurde der interlaminäre Zugang schon früh als endoskopisch assistierte Technik für tubuläre Systeme verwendet. Inzwischen wird dieser Zugang ebenso in der vollendoskopischen Technik verwendet. Ruetten et al. konnten 2007 die Effektivität dieser vollendoskopischen Technik zeigen [15]. Der interlaminäre Zugang ermöglicht nicht nur eine Nukleotomie, er eignet sich auch im Besonderen zur Dekompression bei Spinalkanalstenosen (uni- und bilateral – over the top). Auch die endoskopische Operation über den interlaminären Zugang ist in Lokalanästhesie (mit Analgosedierung) oder in Intubationsnarkose möglich. Die OP in Intubationsnarkose erscheint uns in Bezug auf die Bauchlagerung für den Patienten komfortabler und für den Operateur sicherer bei der Instrumentierung in unmittelbarer Nähe zu den nervalen Strukturen. Der Zugangsweg erfolgt durch eine kleine Hautinzision (0,8–1 cm) ca. 1 cm lateral der dorsalen Prozessus spinosus Linie der zu operierenden Seite, welcher radiologisch und anatomisch bestimmt wird (Abb. 5). Anschließend erfolgt die Dilatation der paravertebralen Muskulatur bis zum Ligamentum flavum in Seldinger-Technik. Sicherer ist der Zugang „V“ zwischen den Laminae und dem Facettengelenk. Nach Einbringen des Arbeitstrokar und des Endoskops, erfolgt dann unter Sicht die Darstellung und Eröffnung des Ligamentum flavum. Der interlaminäre Zugang kann sowohl in Lenden-, Brust- und Halswirbelsäule angewendet werden und erlaubt ebenso ein gutes Arbeiten over the top.
Ergebnisse
Nach unseren Erfahrungen (Erfahrung des Hauptoperateurs seit 2008 über 1000 Eingriffe) aus den Jahren 2015–2020 bei Operationen von lumbalen Bandscheibenvorfällen mit der von uns präferierten transforaminalen endoskopischen Technik ist diese Operation eine gute Alternative zum klassischen mikrochirurgischen Verfahren. Die ihr eigene Lernkurve ist in der Regel flacher als bei der mikrochirurgischen Technik. Sie hat Vorteile bezüglich der Größe der Hautinzision und Akzeptanz bei Patient und Anwender. Nach unserer Einschätzung gibt es aktuell noch keine eindeutige Meinung in der Literatur, ob das Verfahren der mikrochirugischen Variante sicher überlegen ist. Ruetten und Mitarbeiter fanden 2008 in einer prospektiven randomisierten Arbeit bei Patienten nach lumbaler Sequestrektomie/Nukleotomie in endoskopischer Technik (transforaminal und/oder interlaminär) statistisch weniger Rückenschmerzen postoperativ, signifikant weniger Komplikationen, weniger Bedarf postoperativer Analgesie und kürzere postoperative Arbeitsunfähigkeit im Vergleich zwischen der endoskopischen und der mikrochirurgischen Gruppe [13]. Gibson und Mitarbeiter beschrieben in einer randomisierten Arbeit, dass der stationäre Aufenthalt nach endoskopischer Sequestrektomie signifikant kürzer war als nach mikrochirurgischer Methode [3].
Chen und Mitarbeiter fanden in einer Meta-Analyse mit 18 randomisierten Studien über 2000 Patienten ein geringeres Risiko für Gesamtkomplikationen und ein geringeres Risiko für Komplikationen, die eine konservative Behandlung erfordern im Vergleich zu offenen Diskektomien und perkutaner Lasermethoden [2].
Auch bei Rezidivvorfällen hat die endoskopische Methode ihre Berechtigung: Bei endoskopischen Eingriffen nach vorausgegangener mikrochirurgischer Operation berichten Ruetten und Tacconi über einen Vorteil der Revisionsoperation mittels Endoskopie [14, 19], da der Zugang nicht über die durch die mikrochirurgische Voroperation entstandene Narbe erfolgt. Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass bei gleichem klinischen Outcome die Patienten nach endoskopischer Technik über geringere zugangsbedingte Komplikationen und Schmerzen im OP-Gebiet klagten und von einer kürzeren Rehabilitationszeit profitierten.
Weinstein und Mitautoren fanden bei mikrochirurgisch operierten Patienten bei lumbalem Bandscheibenvorfall (einschließlich Revisionsoperationen) in 20,9 % Komplikationen, darin eingeschlossen: 4,1 % Duraverletzungen, 1,6 % lokale Infektionen und 3,3 % Rezidive [20]. Für endoskopisch operierte Patienten fand Sen 2018 nur 2,4 % Komplikationen, davon 0,3 % Duraverletzungen und Infektionen (1,4 %), aber eine Rezidivrate von 6,8 % [17]. Allerdings waren in dieser Arbeit keine Patienten mit Rezidivvorfällen inkludiert, sodass der Vergleich nur eingeschränkt zu werten ist.
Betrachtet man die Ergebnisse der internationalen Literatur, so hat die endoskopische Wirbelsäulenchirurgie mittlerweile ihre Berechtigung. Diese positiven Ergebnisse scheinen sich auch bei systematischen Reviews zu bestätigen [16]. Diese Ergebnisse werden sich an denen der mikrochirurgischen Technik messen lassen müssen, für die gute Langzeitergebnisse vorliegen [19].
Fallbericht
Eine 60-jährige Patientin leidet seit 3 Monaten an rechtsseitigen, quälenden Beinschmerzen im L5-Dermatom. Keine neurologischen Defizite. Die bisher durchgeführte konservative Therapie (Krankengymnastik, periradikuläre Injektionen, orale Schmerztherapie) waren erfolglos. Wir sahen die Indikation zur endoskopischen Sequestrektomie, die komplikationslos durchgeführt wurde. Die Bilderfolge zeigt das präoperative MRT im transversalen (Abb. 6) und sagittalen (Abb. 7) Schnitt sowie auf Abbildung 8 und 9 die intraoperative Situation mit dem Bandscheibenvorfall, der die abgehende Wurzel komprimiert (Abb. 8) und die Situation nach der Sequestrektomie mit der entlasteten Wurzel (Abb. 9).
Fazit für die Praxis
Die endoskopische Operation des lumbalen Bandscheibenvorfalls über den, von uns vorzugsweise angewendeten, transforaminalen Zugang ist eine Alternative zur klassischen mikrochirurgischen Operation: Prinzipiell kann das Verfahren bei allen lumbalen Vorfällen mit einer gewissen Einschränkung bei L5/S1 angewendet werden (hier ggf. interlaminärer oder mikrochirurgischer Zugang erforderlich). Es gibt sicher eine vom Operateur abhängige Präferenz, die auf seiner Ausbildung und Erfahrung beruht. Aus unserer Sicht ist die endoskopische Bandscheibenchirurgie nicht nur „Geschmacksache“ sondern hat sich nicht nur beim „normalen Bandscheibenvorfall“, sondern besonders beim extraforaminalen Prolaps und bei adipösen Patienten aufgrund der geringeren Zugangsmorbidität und der besseren Sichtverhältnisse bewährt. Die Lernkurve für das endoskopische Operieren an der Wirbelsäule ist flach, die Akzeptanz bei Patient und Arzt hoch und die Ergebnisse sind bei korrekter Indikation und Technik gut.
Interessenkonflikte:
Janis Petrovics: keine angegeben
Tobias Pitzen: Honorare für Vorträge und Hospitantenbetreuung von BBraun, DePuy-Synthes, Medtronic, Nuvasive
Car Hans Fürstenberg: Honorare für Vorträge und Hospitationen von Smith&Nephew, Joimax, Stryker, Curasan, Spontech, Internationale Vojta Gesellschaft.
Das Literaturverzeichnis zu diesem Beitrag finden Sie auf:www.online-oup.de
Korrespondenzadresse
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janis.petrovics@srh.de