Übersichtsarbeiten - OUP 11/2014

Extremitätenspätfolgen nach Gliedmaßenamputation
Nach einem Poster für die 62. Jahrestagung der VSOUBased on a scientific poster for the 62nd VSOU-Congress

Gailey und Mitarbeiter [11] führen weiter aus, wobei sie die Arbeit von Burke und Mitarbeitern [10] deutlich relativieren, dass unter Würdigung aller dazu vorliegenden, wissenschaftlichen Studien Aufbraucherscheinungen an Hüft- und Kniegelenk des nicht amputierten Beins häufiger seien als in der Durchschnittsbevölkerung.

Kulkarni et al. [13] wiederum kamen zu dem Ergebnis, dass Verschleißumformungen an Hüft- und Kniegelenk der amputierten Seite häufiger seien als auf der Gegenseite und gleichfalls häufiger als in der Normalbevölkerung. Hierfür untersuchen sie 72 Hüft- und Kniegelenke britischer Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg – d.h. mehr als 50 Jahre nach dem Schadenseintritt.

Grundsätzlich ist festzustellen, wenngleich sich das Gegenteil durch die deutschsprachige Gutachtenliteratur zieht, dass einseitig Beinamputierte nach vielen Jahren durchaus in einem größeren Umfang Verschleißumformungen an Hüft- bzw. Kniegelenk zeigen als Nichtamputierte. Dabei ist eine besondere Betroffenheit des Kniescheibengelenks der Gegenseite, wie im vorliegenden Fall (Abb. 4), amputationscharakteristisch [12].

Was sich dagegen nicht belegen lässt – und aufgrund von Ganganalysen auch nicht plausibel wäre [11] – ist die Überzeugung Burkes (1978), wonach die Amputation einen schützenden Effekt für die großen Gelenke der betroffenen Seite besitzen soll. Selbst jene Arbeitsgruppe um Burke hat eine Häufung von Verschleißumformungen an den großen Gelenken der nicht-amputierten Seite feststellen müssen.

Mit ihrer Einschätzung, dass dies dem schicksalhaften und natürlichen Verlauf der betroffenen Altersgruppe entspreche, steht sie wissenschaftlich betrachtet alleine. So berichten auch Lemaire und Fisher [14] (1994) nach einer Untersuchung von Langzeit-Unterschenkelamputierten, dass jene gegenüber der Normalbevölkerung ein größeres Risiko besäßen, eine Verschleißumformung an den großen Gelenken der Gegenseite zu erleiden.

Eine weitere große Übersicht zu diesem Thema stammt von Harrington, einem kanadischen Orthopäden (2005) [15]. Darin wird sowohl biomechanisch-analytisch, als auch epidemiologisch-statistisch begründet, weshalb einseitig Beinamputierte ein höheres Risiko für Verschleißumformungen an den großen Gelenken ihrer gegenseitigen Gliedmaße besitzen. Aufgrund des stärker beeinträchtigten Gehens seien Oberschenkelamputierte in größerem Maße betroffen, als Unterschenkelamputierte.

Zusammenfassung

Überlastungsschäden an der gegenüberliegenden Gliedmaße – auch Gelenkarthrosen – sind nach einer sehr langen Zeit im Anschluss an eine Amputation oder die funktionell vergleichbare Verstümmelung einer Extremität durchaus als Schädigungsfolge in Erwägung zu ziehen, sofern keine plausible, konkurrierende Ursache zu erkennen ist. Aufgrund des dadurch beeinträchtigten Gangbilds gilt dies auch für die verbliebenen, großen Beingelenke der geschädigten Seite. Die Konsequenzen für den Anspruchsteller hängen vom Beweismaßstab des jeweiligen Rechtsgebiets ab.

Korrespondenzadresse

Dr. med. Jürgen Hettfleisch

medexpert – Begutachtung des Stütz- und Bewegungsapparates

Darmstädter Str. 29, 64331 Weiterstadt

info@medexpert.ws

Literatur

1. Arens W. Chirurgische Begutachtung von Beinamputationsfolgen. Med Sach 1957; 53: 25

2. Arens W. Arthrosisfragen beim Beinamputierten und bei Sportlern, Zbl Chir 1956; 81: 712

3. Schönberger A, Mehrtens G, Valentin H (Hrsg). Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. A. 2010, Berlin: Erich-Schmidt-Verlag

4. Thomann KD, Schröter F, Grosser V. Orthopädisch-Unfallchirurgische Begutachtung, 2. A. 2013, München: Elsevier-Verlag

5. Datta D, Selvarajah K, Davey N. Functional outcome of patients with proximal upper limb deficiency – acquired and congenital. Clin Rehabil 2004; 18: 172–177

6. Jones LE, Davidson JH. Save that arm: a study of problems in the remaining arm of unilateral upper limb amputees. Prosthet Orthot Int 1999; 23: 55–58

7. McComas AJ. Sica RE, Banerjee S. Long-term effects of partial limb amputation in man. J Neurol Neurosurg Psychiatry 1978; 41: 425–432

8. Harden RN, Gagnon CM, Gallizzi M, Khan AD, Newman G. Residual limbs of amputees are significantly cooler than contralateral intact limbs. Pain Pract 2008; 5: 342–347

9. Rompe G, Niethard F. Aktuelle Gesichtspunkte zum Thema Gliedmaßenverlust – Wirbelsäule – Fehlbelastung. Med. Sach. 1980; 76: 8–10

10. Burke MJ, RomanV, Wright V. Bone and joint changes in lower limb amputees. Ann Rheum Dis 1978; 37: 252–254

11. Gailey R, Allen K, Castles J, Kucharik J, Roede, M. Review of secondary physical conditions associated with lower-limb amputation and long-term prosthesis use. Journal of Rehabilitation Research and Development 2008; 45: 15–30

12. Hungerford DS, Cockin J. Fate of the retained lower limb joints in Second World War amputees. Proceedings and Reports of Universities, Colleges, Councils and Associations 1975; 57 (B1): 111

13. Kulkani J, Adams J, Thomas E, Silman A. Association between amputation, arthritis and osteopenia in British male war veterans with major lower limb amputations. Clin. Rehabil 1998; 12: 348–353

14. Lemaire ED, Fisher FR. Osteoarthritis and elderly amputee gait. Arch. Phys. Med. Rehabil 1994; 75: 1094–1099

15. Harrington IJ. Symptoms in the Opposite or Uninjured Leg. The Workplace Safety and Insurance Appeals Tribunal. August 2005.

Fussnoten

1 medexpert, Begutachtung des Stütz- und Bewegungsapparats, Darmstadt-Weiterstadt

2 Universitätsmedizin der Johannes-Gutenberg-Universität, Mainz

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