Informationen aus der Gesellschaft - OUP 03/2020
In diesem Jahr ist alles anders
Johannes Flechtenmacher, Präsident BVOU
Zum ersten Mal seit ich orthopädisch denken kann, gibt es keinen VSOU Frühjahrs-Kongress in Baden-Baden. Der Termin hatte immer einen festen Platz in meinem Terminkalender. In diesem Jahr steht der Kongresskalender allerdings Kopf. Um trotzdem einen Austausch zu ermöglichen, bin ich der Bitte der Kongresspräsidenten nachgekommen, meine Gedanken zur aktuellen Coronavirus-Pandemie und deren Auswirkungen auf unsere Arbeit zu Papier zu bringen. Obwohl das Wort derzeit vor allem den Virologen, Epidemiologen, Intensivmedizinern, Anästhesisten und Politikern gehört und manchmal auch den Philosophen und wir Orthopäden und Unfallchirurgen eigentlich nur am Spielfeldrand stehen, müssen wir über die Zeit nach der Corona-Krise nachdenken. Jedes Ereignis von einer solchen Wucht und Dimension wird zweifellos tiefe Spuren hinterlassen – das war zuletzt bei 9/11 der Fall und das wird auch nach der Corona-Krise der Fall sein.
Als BVOU haben wir früh auf die Krise reagiert. Am 17. März haben wir unter dem Motto „Handeln Sie jetzt!“ aufgerufen, die Organisationsabläufe in den Praxen zu ändern und an die erhöhte Infektionsgefahr durch SARS-CoV-2 anzupassen. Am 31. März haben wir zusammen mit den Fachgesellschaften und dem Verband leitender Orthopäden und Unfallchirurgen dazu aufgerufen, die Kliniken durch eine von den niedergelassenen Kollegen angebotene dezentrale ambulante Versorgung zu entlasten – auch am Wochenende. Trotz der Anerkennung, die uns die KV, die Medien, die Patienten und viele andere Gruppen für diese Angebote gezollt haben, war das Echo unter den Kollegen gemischt.
Das hat sicher damit zu tun, dass die Infektionsraten in den einzelnen Bundesländern und Regionen unterschiedlich hoch sind und die Kolleginnen und Kollegen deshalb die Notwendigkeit solcher Maßnahmen unterschiedlich bewerten. Aber es gibt sicher noch andere Gründe: Betriebswirtschaft ist kein guter Nährboden für Solidarität. Der angebliche Konkurrenzkampf um die Notfallversorgung lässt auch keinen Zweifel daran, dass die sektorenübergreifende Versorgung derzeit wohl eher ein Wunschtraum ist, statt gelebte Realität. Trotzdem zeigt die Entwicklung, dass unsere Aufrufe richtig und notwendig waren. Die Knappheit von Anästhetika und Maskenfiltern lassen nur den Schluss zu, dass es derzeit keine Alternative zu einer Reduktion der elektiven Operationen gibt und dass man keine Corona-Patienten ohne entsprechende Ausrüstung und Anästhetika intensivmedizinisch versorgen kann.
Trotzdem werden wir als Berufsverband auch weiterhin den Spagat wagen, die berufsständigen Interessen aller im Fach Orthopädie und Unfallchirurgie tätigen Kolleginnen und Kollegen zu vertreten. Es kann uns nicht nur um den kleinsten gemeinsamen Nenner gehen. Neid und Revierkämpfe dürfen nicht zum Bremsklotz für unsere Initiativen werden. Denn einer Frage werden wir uns letzten Endes immer wieder stellen müssen: Haben Chefärzte andere Interessen als Oberärzte, Assistenzärzte oder Niedergelassene? Oder werden hier ärztliche Interessen mit den Interessen anderer Gruppen vermischt, etwa denen der Klinik- oder der MVZ-Betreiber?
Es wird daher in den kommenden Wochen darum gehen müssen, Kriterien zu erarbeiten, wie sich der Praxis- und Klinikbetrieb unter den potentiellen Infektionsbedingungen medizinisch und betriebswirtschaftlich sinnvoll und zum Wohle aller gestalten lässt.
Wir dürfen uns nämlich nicht der Illusion hingeben, dass die Krise nach der Lockerung der Maßnahmen bald zu Ende gehen wird. SARS-CoV-2 und Covid-19 werden uns noch lange beschäftigen, weil weder eine spezifische Therapie noch eine Impfung in Sicht sind. Eine restitutio ad integrum wird es daher nicht geben. Wir sollten uns folglich mit den Risiken vertraut machen: den wirtschaftlichen Risiken, unserer eigenen Gefährdung und der Gefährdung anderer. Wir können jeden Tag selbst angesteckt werden und andere anstecken. Der staatliche/stattliche Rettungsschirm und die Unterstützung der KV sind hilfreich, aber weder mittel- noch langfristig eine Option.
Orthopädie und Unfallchirurgie werden nach der Krise zweifellos anders dastehen als vor der Krise – sowohl in der Praxis als auch in der Klinik. Ich bin der festen Überzeugung, dass der bisher übliche Betrieb mit hohen Behandlungszahlen nicht mehr aufrechterhalten werden kann, denn das Social distancing wird auch in unseren Praxen und Kliniken notwendig sein, nicht nur in der Gesellschaft. Wir werden daher nicht mehr die Anzahl an Patienten behandeln können wie vor der Krise. Und zwar sowohl aus infektionsprophylaktischen Gründen wie auch aus Gründen des Bedarfs, die Mobilität geht zurück und die Verunsicherung der Patienten steigt. Der Blick auf das, was Lebensqualität bedeutet, ändert sich und wir werden uns viel stärker als „immunologische Risikogemeinschaft“ begreifen müssen, um mit den Worten von Peter Sloterdijk zu argumentieren. Es ist aus meiner Sicht selbstverständlich, dass auch die Honorierung orthopädisch-unfallchirurgischer Leistungen dieser Veränderung angepasst werden muss. Sowohl in der Klinik wie auch in der Praxis.
Gesundheit und Gesundheitsversorgung sind öffentliche Angelegenheiten. Wir erleben gerade, dass Deutschland aufgrund seines Gesundheitssystems und der Disziplin seiner Bürgerinnen und Bürger vergleichsweise wenig Corona-Tote zu beklagen hat. Manch ein Politiker, mit und ohne Fliege, der noch vor ein paar Monaten die Schließung von Krankenhäusern und Facharztpraxen gefordert hat, gibt jetzt Tipps für den Sommerurlaub. Als Vertreter eines freien Berufs und mit der Bereitschaft, Verantwortung für die Versorgung der Patienten mit muskulo-skelettalen Erkrankungen und Verletzung in Praxis und Klinik zu übernehmen und der Ablehnung der immer wieder diskutierten gesundheitspolitischen und ökonomischen Riesenpetrischalen sollten wir die Herausforderungen für die Zukunft annehmen und kreativ gestalten. Bekanntlich liegt in jeder Krise auch eine Chance. Wir sollten diese Chance gemeinsam nutzen.