Übersichtsarbeiten - OUP 05/2023
Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie (IMST)
Hans-Raimund Casser
Zusammenfassung:
Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapieprogramme (IMST) orientieren sich an den Behandlungszielen der funktionellen Wiederherstellung („functional restoration“) und einem biopsychosozialen Modell. Die dargestellten Therapieinhalte sind nach der Meinung der beteiligten Expertinnen und Experten geeignet, diese Ziele zu erreichen. Sie müssen von einem eng kooperierenden interdisziplinären Behandlungsteam getragen werden.
Bisher liegen dafür Erfahrungen vorwiegend aus dem tagesklinischen und stationären Behandlungssetting vor. Niederschwellige ambulant durchgeführte multimodale Programme sind kaum verbreitet und sollten in Zukunft weiterentwickelt und evaluiert werden. Sie müssen sich an den hier diskutierten Prinzipien und Vorgaben orientieren. Die Grundsätze der IMST, nämlich die biopsychosoziale Sicht von Schmerz, multimodale und interdisziplinäre Ansätze in Diagnostik und Behandlung – auch akuter Schmerzsyndrome – können dazu beitragen, der Chronifizierung von Schmerz entgegenzuwirken.
Schlüsselwörter:
Multimodale Schmerztherapie, chronischer Schmerz, Kreuzschmerz, interdisziplinäre Therapie
Zitierweise:
Casser H-R: Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie (IMST)
OUP 2023; 12: 207–212
DOI 10.53180/oup.2023.0207-0212
Summary: Interdisciplinary multimodal pain therapy programs (IMST) are based on the treatment goals of functional restoration and a biopsychosocial model. In the opinion of the experts involved, the therapy contents presented in this paper are suitable for achieving these goals. They must be carried out by a closely cooperating interdisciplinary treatment team. So far, experience has mainly come from day-clinic and in-patient treatment settings. Low-threshold outpatient multimodal programs are not very common and should be further developed and evaluated in the future. They must be guided by the principles and guidelines discussed here. The principles of IMST, namely the biopsychosocial view of pain, multimodal and interdisciplinary approaches in diagnostics and treatment of acute pain syndromes can help to counteract the chronification of pain.
Keywords: Multimodal pain therapy, chronic pain, back pain, interdisciplinary therapy
Citation: Casser H-R: Interdisciplinary multimodal pain therapy (IMPT)
OUP 2023; 12: 207–212. DOI 10.53180/oup.2023.0207-0212
DRK Schmerz-Zentrum Mainz
Interdisziplinarität auf der Basis eines biopsychosozialen Krankheitsverständnisses chronischer Schmerzen wurde in Deutschland bereits 1978 in Mainz eingeführt [1]. Strukturierte multimodale Therapieprogramme zur Behandlung chronischer Schmerzen mit interdisziplinär-integrativer Teamstruktur (IMST) wurden unter Bezug auf internationale Erfahrungen erstmals ab 1990 in Göttingen als Göttinger Rücken-Intensiv-Programm durchgeführt [2]. Darauf aufbauend wurden teil- und vollstationäre multimodale Konzepte an Krankenhäusern bundesweit erfolgreich etabliert.
Die IMST wird als „gleichzeitige, inhaltlich, zeitlich und in der Vorgehensweise aufeinander abgestimmte umfassende Behandlung von Patienten mit chronifizierten Schmerzsyndromen“ verstanden, in die „verschiedene somatische, körperlich übende, psychologisch übende und psychotherapeutische Verfahren nach vorgegebenem Behandlungsplan mit identischem, unter den Therapeuten abgesprochenem Therapieziel eingebunden sind“ [3].
Dieses teamorientierte Vorgehen bedarf einer optimierten Organisationsstruktur. Im Sinne des Prozessmanagements lassen sich multimodale integrative Therapiemodelle als sog. horizontal ausgerichtete Gesamtprozesse darstellen. Das bedeutet, dass klassisch orientierte Organisationsformen, in denen verschiedene Behandlungsstrukturen parallel und nur mit gering ausgeprägter Kommunikation untereinander agieren, zugunsten einer engen zeitlichen, inhaltlichen sowie sektorenübergreifenden Ausrichtung aufgegeben werden.
Wesentlich für den Prozess und die damit einhergehende Kommunikationsstruktur sind v.a. eine einheitliche, im Team verhandelte „Philosophie“ [4] sowie regelmäßige Teamsitzungen. Diese sollen zu einem gemeinsamen Modell hinsichtlich der diagnostischen Einschätzung, Therapie und Umsetzung führen und werden dafür als obligat angesehen. Ein gemeinsames Arbeiten an einem gemeinsam festgelegten Therapieplan auf Grundlage eines gemeinsam verstandenen Störungsbilds ist das Kernprinzip der IMST und beinhaltet alle an der Therapie beteiligten Disziplinen sowie die Patientin/den Patienten selbst.
Im Jahr 2002 erfolgte die Aufnahme der IMST mit der Ziffer 8–918 in die Version 2.1 des offiziellen Prozedurenkatalogs OPS 301 zur Datenübermittlung nach § 301 (stationäre Krankenhausbehandlung), die in den Folgejahren weiterentwickelt wurde und im DRG-System fest etabliert und damit auch vergütungsrelevant wurde.
Im selben Jahr wurde die Interdisziplinarität auch für die algesiologische Diagnostik mit der Ziffer 1–910 festgelegt. 2006 folgte eine weitere Komplexziffer für die interdisziplinäre multimodale schmerztherapeutische Kurzzeitbehandlung und 2009 auch für die teilstationär durchgeführte IMST.
Speziell für das Bewegungssystem wurde 2006 die „multimodal-nicht operative Komplexbehandlung des Bewegungsystems“ (OPS 8–9 77 ) als Zusatzentgelt in den OPS–Katalog eingeführt. Sie wurde von der „Arbeitsgemeinschaft nicht operativer, orthopädischer manualmedizinischer Akutkliniken“ (ANOA) entwickelt und beinhaltet eine befundorientierte orthopädisch-manual-medizinische/physiotherapeutische Komplex-Behandlung des Bewegungssystems unter Berücksichtigung psychologischer und psychosozialer Einflussfaktoren [36].
Für alle Bereiche geben die Ziffern anspruchsvolle strukturelle und prozessuale Qualitätskriterien vor (nach dem Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information, DIMDI):
OPS 1–910: Interdisziplinäre algesiologische Diagnostik
OPS 8–918: Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie
8–91 b: Interdisziplinäre multimodale Kurzzeitbehandlung
8–91 c: Teilstationäre multimodale Schmerztherapie
8–977 : Multimodale-nicht-operative Komplexbehandlung des Bewegungssystems
Die Genese und Aufrechterhaltung der meisten chronischen Schmerzsyndrome ist weder monokausal somatisch noch monokausal psychologisch, sondern multifaktoriell. Die ICD-10-GM Version 2009 wurde um die Diagnose „Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren“ erweitert, weil die bisherige diagnostische Klassifikation den biopsychosozialen Charakter chronischer Schmerzen nicht wiedergegeben hat [5]. Seit Einführung der Diagnose F 45.41 bestehen Unschärfen bezüglich ihrer korrekten Verwendung. Die Adhoc-Kommission „Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie“ der Deutschen Schmerzgesellschaft entwickelte 2017 eine Checkliste, auf welcher Grundlage die Diagnose vergeben werden darf ,welche die ursprünglich auslösende somatischen Ursache sowie die psychischen Faktoren mit wesentlicher Bedeutung für Schweregrad, Exazerbation und Aufrechterhaltung des seit mind. 6 Monaten bestehenden Schmerzgeschehens benennt [6].
Chronische, therapieresistente Schmerzen, z.B beim Kreuzschmerz, umfassen gleichzeitig somatische, psychische und soziale Dimensionen, die idealerweise durch ein interdisziplinäres Assessment erfasst werden und einer multimodalen Therapie bedürfen.
Als Indikationskriterien für ein interdisziplinäres multimodales Therapieprogramm wären zu nennen:
eine hohe Erkrankungsschwere mit erheblichen biopsychosozialen Konsequenzen,
der Fehlschlag einer vorherigen unimodalen Schmerzbehandlung, eines schmerzbedingten operativen/interventionellen Eingriffs oder einer Entzugsbehandlung,
eine schmerzbedingte Beeinträchtigung der Lebensqualität und des Lebensvollzugs, eine somatische oder psychosoziale Begleiterkrankung mit nachweisbarem Einfluss auf das Schmerzgeschehen, wobei die psychischen und sozialen Belastungen nicht Ausdruck einer eigenständigen psychiatrischen oder zerebralen Erkrankung sind,
sowie das Vorliegen von Risikofaktoren für eine Schmerzchronifizierung.
Unter interdisziplinärer multimodaler Therapie wird die gleichzeitige, in der Vorgehensweise integrierte sowie konzeptionell abgestimmte Behandlung von Patientinnen und Patienten mit chronischen Schmerzen verstanden. Ärztinnen und Ärzte mehrerer Fachrichtungen, Psychotherapeutinnen/Psychotherapeuten und Physiotherapeutinnen/Physiotherapeuten gehören ständig zum Behandlungsteam. Obligat sind die gemeinsame Beurteilung des Behandlungsverlaufs innerhalb regelmäßiger Teambesprechungen und die Einbindung aller Therapeutinnen und Therapeuten. Dabei erfolgt die Diagnostik und Behandlung nach einem integrativen Konzept mit verhaltensmedizinischer Orientierung. Im Vordergrund stehen die medizinische und psychotherapeutische Behandlung, die Edukation, Entspannungsverfahren und körperliche Übungsprogramme [3].
Die Programme können ambulant, teilstationär oder stationär durchgeführt werden. Die Evidenzlage multimodaler Schmerztherapie ist vor allem beim Rückenschmerz inzwischen unstrittig [7–11]. Auch im Hinblick auf die Kosten konnte nachgewiesen werden, dass multimodale Therapieprogramme beim Rückenschmerz nachhaltig erfolgreich sind und eine deutliche Kostenreduktion im weiteren Handlungsverlauf bewirken [12].
Voraussetzung eines multimodalen Therapieprogramms sollte die Indikationsprüfung durch ein interdisziplinäres Schmerzassessment [13] sein, wie es bei Therapieresistenz nach spätestens 6 bzw. 12 Wochen gefordert wird (NVL 2017) [14].
Interdisziplinäres
multimodales Assessment
Rückenschmerzpatientinnen und -patienten mit rezidivierenden oder anhaltenden Schmerzen, die sich noch im Beginn des Chronifizierungsprozesses finden, aber ein erhöhtes Risiko zur Chronifizierung aufweisen, wie aber auch Patientinnen und Patienten, die sich bereits in einem höheren Chronifizierungsstadium befinden und bei denen eine bisherige mono- oder multidisziplinäre Behandlung nicht zum Erfolg geführt hat, sollten eine fundierte Beurteilung durch ein interdisziplinäres Assessment erfahren [13]. Dieses Assessment sollte ergebnisoffen durchgeführt werden, woraus sich unterschiedliche Konsequenzen ergeben können: Eine Weiterbehandlung ambulant beim Haus- bzw. Facharzt mit konkreten Therapieempfehlungen bzw. die Einleitung eines ambulanten, teilstationären oder stationären multimodalen Therapieprogrammes in Abhängigkeit von den Ergebnissen des Assessments, der Prognose des Rückenschmerzes sowie der individuellen Gegebenheiten [3].
Die Bestandteile des Assessments werden bereits durch den OPS-Kode 1–910 „multidisziplinäre algesiologische Diagnostik“ beschrieben. Hinsichtlich eines interdisziplinären Assessments vor umfassender multimodaler Schmerztherapie wurden die Inhalte, die beteiligten Disziplinen und der Umfang eines Assessments von der Adhoc-Kommission „multimodale interdisziplinäre Schmerztherapie“ der Deutschen Schmerzgesellschaft e.V. erarbeitet [13].
Folgende Inhalte kennzeichnen ein interdisziplinäres, multimodales Schmerz-Assessment:
Ausführliche medizinische Anamnese und orientierende körperliche Untersuchung (orthopädisch, neurologisch, ggf. rheumatologisch); ggf. ergänzende zusätzliche bildgebende und elektroneurographische Verfahren und invasive Maßnahmen sowie Testverfahren und standardisierte klinische Interviews, fakultativ unter Hinzuziehung weiterer med. Fachbereiche
psychologisch/psychosomatische Diagnostik mit Anamnese, Verhaltensbeobachtung und Erhebung des psychopathologischen Status
physio-, moto-, ergotherapeutische Befundung
sozialmedizinische Beurteilung
Teambesprechung mit zusammenfassender Diagnosebeschreibung und Abstimmung des weiteren Vorgehens, ggf. individuelles Therapieprogramm
Abschlussevaluation mit der Patientin/dem Patienten.
Vorzugsweise sollte die Dokumentation dieses Assessments vollständig und standardisiert erfolgen, vorzugsweise anhand des KEDOQ-Schmerzdatenerfassungs- und Auswertungssystems mit Strukturdaten, Kerndatensatz inklusive Deutscher Schmerzfragebogen (DSF), Bestimmung des Chronifizierungsgrades (MPSS), Erfassung der Schmerzdiagnose sowie der relevanten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen [15].
Bei den Qualitätsanforderungen eines Rückenschmerz-Assessments, wie sie bereits das Experten-Panel der Bertelsmannstiftung 2007 [16] formulierte, sollte bezüglich der Behandlerklassifikation die Schmerztherapeutin/der Schmerztherapeut mit fortlaufender Rezertifizierung, die Orthopädin/der Orthopäde mit der Zusatzqualifikation Manualmedizin, die/der ärztliche und psychologische Psychotherapeutin/Psychotherapeut mit schmerztherapeutischer Qualifikation, die Neurologin/der Neurologe, die Physiotherapeutin/der Physiotherapeut mit Kenntnissen von Alltagsfunktions- und -belastungstests und schmerztherapeutischer Erfahrung sowie eine/ein wirbelsäulensäulenchirurgisch tätige/tätiger Fachärztin/Facharzt zur Beurteilung operativer Optionen bzw. vorangegangener operativer Maßnahmen hinzugezogen werden.
Die Beteiligung operativ tätiger Orthopädinnen/Orthopäden und Neurochirurginnen/Neurochirurgen hat sich insbesondere beim Rückenschmerz als sinnvoll herausgestellt, um einerseits auch diese Maßnahmen frühzeitig zu diskutieren bzw. im Vorfeld gestellte Operationsindikationen interdisziplinär zu beurteilen, auch mit dem Ziel einer differenzierten Patientinnen-/Patientenaufklärung. Sie setzt allerdings grundlegende schmerztherapeutische Erfahrung der Operateurin/des Operateurs und vorbehaltlose Aufnahme in das Assessment-Team voraus.
Therapieinhalte der interdisziplinären multimodalen Schmerztherapie
Zentrale Bausteine der IMST sind die medizinische und psychologische Behandlung, die Edukation, die Entspannung und körperlich übende Verfahren.
Die Therapie beruht auf einer gemeinsamen „Philosophie“ der Einschätzung und Behandlung chronischer Schmerzen mit dem Ziel einer funktionellen Schmerzverarbeitung und der körperlichen, psychischen und sozialen (Re-)Aktivierung der Patientin/des Patienten [3]. Dazu gehört auch eine enge Verlaufskontrolle in Form von Teamsitzungen, in denen alle Behandlerinnen und Behandler die Zielsetzung, Behandlungsfortschritte und Probleme erörtern. Diese sollte mindestens einmal pro Woche stattfinden, zusätzlich zur ständigen Absprache zwischen den Teammitgliedern und der täglichen Visite. Das Zusammentragen verschiedener Erkenntnisse aus Anamnese und Behandlung der Patientin/des Patienten und die gemeinsam abgestimmte, ständig zu aktualisierende Behandlungsstrategie bedeuten, dass die Gesamtbehandlung deutlich wirksamer ist als die Einzelmaßnahmen der multimodalen Behandlung [17–18]. Dies setzt eine professionelle, wertschätzende, empathische und ressourcenorientierte therapeutische Haltung aller Teammitglieder gegenüber der Patientin/dem Patienten, aber auch untereinander voraus.
Dabei sind auch die Grenzen der therapeutischen Möglichkeiten der einzelnen Fachbereiche und ihrer Methoden kritisch zu reflektieren, zumal häufig eine kausale Behandlung nicht oder nur begrenzt möglich ist.
Nach einem ausführlichen interdisziplinären Assessment erfolgt die indikationsbezogene Auswahl der Vorgehensweise durch Erstellung eines individuellen Behandlungsplanes, in dem die Ressourcen der/des einzelnen Patientin/Patienten berücksichtigt werden [4]. Zu den interdisziplinären Maßnahmen im engeren Sinne zählt auch die interdisziplinäre Visite mit Beteiligung aller behandelnder Ärztinnen/Ärzte, Psychotherapeutinnen/Psychotherapeuten, Physiotherapeutinnen/Physiotherapeuten, Pflegetherapeutinnen/Pflegetherapeuten und Sozialarbeiterinnen/Sozialarbeitern mit möglichst zeitnaher Besprechung unter dem Eindruck des Patientenkontaktes, der bei der Visite im Vordergrund stehen sollte. Zusätzlich eignen sich zur intensiven Versorgung insbesondere bei Problemfällen interdisziplinäre Fallbesprechungen sowie gemeinsame Untersuchungen am Krankenbett oder in den Therapieräumen mit fachübergreifender Besetzung.
Kriterien einer echten Interdisziplinarität ist das Bewusstsein einer gemeinsamen Verantwortung, die Durchführung gemeinsamer Untersuchungen und Befunderhebung, ein transparenter Kommunikationsprozess und ein ständiger Informationsaustausch innerhalb des Teams mit Vermeidung diagnostischer oder therapeutischer „Auftragsarbeiten“ [19].
Besondere ärztliche
Aufgaben
Ärztinnen und Ärzte verschiedener Fachrichtungen tragen in interdisziplinärer Absprache die medizinische und rechtliche Verantwortung für die Patientin/den Patienten. Dies beinhaltet eine fachlich korrekte Diagnostik und Bewertung, die Überprüfung der Behandlungsindikation, die Risikoaufklärung sowie die Therapie nicht nur der Schmerzen, sondern auch bestehender Komorbiditäten bis hin zu Kommunikation mit medizinischen Diensten und Kostenträgern [4].
Spezielle ärztliche Aufgaben sind die tägliche Visite, die Aufklärung und Edukation der Patientin/des Patienten, die spezielle medikamentöse Schmerztherapie (Ein- und -umstellung sowie Entzug) sowie nach sorgfältiger Indikationsstellung gezielte manualmedizinische Maßnahmen bzw. therapeutische lokal- und regionalanästhesiologische Verfahren. Besondere Bedeutung kommt den ärztlichen Einzelgesprächen und Verlaufsuntersuchungen zu, in denen der Patientin/dem Patienten das biopsychosoziale Krankheitsmodell, die Erkenntnisse um Maßnahmen des interdisziplinären Teams sowie individuelle Fragestellungen und Lösungsoptionen dargestellt und diskutiert werden.
Außerdem obliegt der Ärztin/dem Arzt das Verfassen des Abschlussberichtes auf der Basis der interdisziplinär erhobenen Befunde und mit Formulierung der Diagnosen und des weiteren Vorgehens.
Psychotherapeutische
Behandlungsaspekte
Psychotherapeutische Diagnostik und Therapie erfolgt bei chronischen Rückenschmerzpatientinnnen und -patienten in der Regel in einem multimodalen interdisziplinären Programm. Darüber hinaus können im Rahmen der psychotherapeutischen Arbeit Konstellationen auftreten, die eine ambulante oder stationäre Therapie in einem psychosomatischen oder psychotherapeutischen Setting erforderlich machen.
Aus Erfahrung ist es jedoch zwingend die Aufgabe der interdisziplinären multimodalen Therapie, diese zusätzlichen Behandlungswege auf das individuelle Schmerzgeschehen der Patientin/des Patienten auszurichten, weil ansonsten von dessen Seite die Spaltung von Psyche und Körper weiter aufrechterhalten wird und die Therapieeffekte getrennt nebeneinander stehen [20].
Die NVL (2017) [14] empfiehlt zur Therapie des chronischen Kreuzschmerzes die progressive Muskelrelaxation [21] sowie eine multimodal eingebettete Verhaltenstherapie. Auch tiefenpsychologische Ansätze haben sich in den letzten Jahren entwickelt und werden in multimodalen Einrichtungen angewendet [22].
Wesentlich für einen längerfristigen Therapieerfolg ist die systematische Anleitung sowohl von Entspannungsverfahren als auch konkreten verhaltenstherapeutischen Ansätzen mit dem Fokus auf die selbstständige Übernahme und Manifestation dieser Ansätze in den Lebensalltag der Patientinnen und Patienten.
Das zentrale Behandlungsziel einer multimodalen Therapie chronischer Schmerzen besteht in der Wiederherstellung der objektiven und subjektiven Funktionsfähigkeit („functional restoration“), die mit einer Steigerung der Kontrollfähigkeit und des Kompetenzgefühls der Patientin/des Patienten einhergeht und ressourcenorientiert therapeutisch unterstützt wird [3].
Im Mittelpunkt steht die Therapie nach den oben genannten Ansätzen, v.a. das Fear-Avoidance-Modell bzw. das Avoidance-Endurance-Modell [23] sowie die Akzeptanz- und Achtsamkeitsförderung.
Für die Vermittlung von veränderten Verhaltensweisen, z.B. konsequente Entspannungs- und körperliche Übungen sowie Ausdauer, welche die Patientinnen und Patienten nach der multimodalen Therapie aufrechterhalten sollen, bedarf es einer frühzeitigen Fokussierung auf den Transfer in den Alltag, der auch während der Therapie besprochen und vollzogen werden muss.
Spezielle Physiotherapie
Der Beitrag der bewegungstherapeutischen Disziplinen, in erster Linie der Physio-Sporttherapie aber auch Ergo- und Mototherapie, beruht in Ergänzung zur ärztlichen Funktionsuntersuchung der Analyse der Bewegungselemente, insbesondere der Einschätzung von Kraft, Beweglichkeit, koordinativen Fähigkeiten und Ausdauer, der Erhebung des Bewegungsstatus und der Beurteilung von Bewegungsverhalten und vegetativer Reaktionen [4]. Ziel der bewegungstherapeutischen Maßnahmen ist die möglichst weitgehende Wiederherstellung körperlicher Funktionsfähigkeit und Aktivität in Abstimmung mit den organspezifischen Befunden und den Vorstellungen der Patientin/des Patienten. Gerade in der Physiotherapie müssen bei chronischen Schmerzpatientinnen/-patienten erst die oftmals fehlenden Kenntnisse und Erfahrungen der Patientinnen und Patienten bzgl. körperlicher Funktionen, aber auch das mangelnde Bewusstsein individueller Einflussmöglichkeiten durch Aufklärung und Anleitung sowie Austausch in der Gruppe verändert werden. Dazu gehört das Aufzeigen von Maßnahmen zur Beeinflussung physiologischer Reaktionen wie z.B. durch Biofeedback. Die häufig vorhandenen Defizite der Körperwahrnehmung, erkennbar an pathologischer Haltung, verändertem Muskeltonus und Bewegungsmustern sowie gestörtem Körperschema, speziell bei chronischen Schmerzpatientinnen/-patienten bedarf des Trainings der Körperwahrnehmung bzgl. Sensibilität, Propriozeption und Sinneswahrnehmung, unterstützt durch Biofeedback, EMG, Spiegeltherapie und Ultraschall. Das häufig erhöhte Anspannungsniveau wird mit Tonusregulation durch aktive Variation, Entspannung, gelenkte Wahrnehmung, Atementspannung und Biofeedback versucht, zu beeinflussen. Der Veränderung des vegetativen Nervensystems wirken Stressbewältigung durch Bewegung und Sport wie auch Entspannungstechniken und physikalische Therapiemaßnahmen entgegen. Problembereiche wie körperliche Funktionsbeeinträchtigungen unter Berücksichtigung struktureller wie auch funktioneller Veränderungen, Dekonditionierungen aufgrund unangemessener Schonung und Nichtgebrauch, Angstvermeidungsverhalten, mangelndes Vertrauen in die körperliche Leistungsfähigkeit und Fehleinschätzung der körperlichen Leistungsfähigkeit mit einem ausgeprägten Überforderungsverhalten bedarf der fortlaufenden Beurteilung der Funktionsfähigkeit der Bewegungsorgane (Clinical Reasoning).
Des Weiteren erstreckt sich das Behandlungsspektrum auch auf einzel- und gruppentherapeutische Maßnahmen zur lokalen und globalen Stabilisation, Mobilisation und Koordinationsverbesserung, Aktivitätssteigerung durch Pacing-Programme, Rekonditionierung durch Sport, Kraft- und Ausdauertraining sowie Eigenübungen, Balancierung von Be- und Entlastung und Entwicklung von Selbsthilfestrategien in Fortsetzung und Vertiefung der parallel stattfindenden Psychotherapie.
Gerade verminderte dysfunktionale körperliche Leistungsfähigkeit durch Schonung bzw. ständiges ausgeprägtes Überforderungsverhalten lassen sich durch Pacing-Programme und Graded Activity oder Konfrontation („Exposure“) in Zusammenarbeit mit den Psychotherapeutinnen und -therapeuten korrigieren. Ebenso gilt dies für die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit, unterstützt durch Work Conditioning bzw. Workhardening.
Ergebnisse
Prospektive Studien zeigen für die IMST positive und langfristige Effekte hinsichtlich einer Verminderung der Beschwerden sowie der Krankheitssymptomatik und auch der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen für unterschiedliche Schmerzerkrankungen und Patientengruppen [11–12, 24–32].
Auch international belegen systematische Reviews und Metaanalysen die Effektivität multimodaler Schmerztherapieprogramme beim Rückenschmerz [33], Fibromyalgiesyndrom [26] und weiteren Schmerzsyndromen [34].
Erste Ergebnisse einer prospektiven multizentrischen Studie zur Effektivität bezüglich Schmerzintensität und Funktionsstatus bei chronischen vertebragenen Schmerzsyndromen mit multimodaler muskuloskelettaler Komplextherapie (OPS 8–977) mit besonderer Berücksichtigung manualmedizinischer und physiotherapeutischer Maßnahmen sowie psychotherapeutischer Beteiligung zeigen bei Abschluss der komplexen Behandlung signifikante Verbesserungen [35–36].
IMST ist aber auch bei spezifischen Schmerzsyndromen im Zusammenhang mit psychischen Faktoren effektiv. So zeigten sich bei verschiedenen neuropathischen Schmerzsyndromen hochsignifikante Verbesserungen bezüglich Schmerzintensität und Funktion [37]. Ebenso wird die IMST bei therapieresistenten chronischen Schulterschmerzen mit schmerzunterhaltenem Verhalten empfohlen [38] sowie beim chronischen Kopfschmerz.
Auch im Bereich chronisch-rheumatischer Beschwerden gibt es eine multimodale rheumatologische Komplexbehandlung (OPS 8–983) mit Berücksichtigung der Funktionseinschränkung und des Schmerzausmaßes zu Beginn und am Ende des stationären Aufenthaltes. Steht die Behandlung chronifizierter Schmerzsyndromen insbesondere myofaszieller Beschwerden, Fibromyalgie bzw. stabil eingestellter entzündlich-rheumatischer Erkrankungen mit deutlichen psychosozialen Faktoren im Vordergrund, sollte der IMST (OPS 8–918) der Vorzug gegeben werden.
Eine wirkliche Verbesserung der Versorgung chronisch Schmerzkranker dürfte nur durch eine flächendeckende Implementation multimodaler Schmerztherapieprogramme in das Gesundheitssystem erreicht werden. Dazu müssten die strukturellen und organisatorischen Voraussetzungen z.B. in Form eines Disease-Management-Programms (DMP Rückenschmerz) geschaffen werden, um die Behandlungsform bei nachgewiesenem Bedarf deutschlandweit und sektorenübergreifend einzusetzen.
Tagesklinische
(teilstationäre) Behandlung
In einer schmerztherapeutischen Tagesklinik werden Patientinnen und Patienten mit chronischen Schmerzen in einer festen Gruppe über einen Zeitraum von 3–4 Wochen mit einem interdisziplinären multimodalen Behandlungsprogramm behandelt, das heißt, die Behandlung findet werktags in eigenen Therapieräumen statt. Neben Gruppenbehandlungen finden auch Einzelbehandlungen und -gespräche statt. Für die Pausen zwischen den Anwendungen steht ein Ruhe- und Rückzugsraum zur Verfügung. Die Fahrt zur Klinik und nach Hause erfolgt in Eigenregie der Patientin/des Patienten.
Inhaltlich finden auch hier die Kriterien der interdisziplinären multimodalen Schmerztherapie ihre Anwendung. In Abgrenzung zur vollstationären Behandlung muss eine psycho-physische Leistungsfähigkeit vorliegen, die eine behandlungstägliche An- und Abreise zulässt. Entscheidend für die Aufnahme in eine teilstationäre Behandlung sind weniger die Schmerzdiagnosen, sondern vielmehr das Fehlen wesentlicher Mobilitätseinschränkungen, bedingt durch eine kardio-pulmonale Leistungseinschränkung oder auch beeinträchtigende somatische oder psychische Komorbiditäten. Medikamentenentzüge, insbesondere von Opiaten, sind für eine tagesklinische Behandlung weniger geeignet. Zu beachten ist, dass es nicht immer harte Kriterien sind, die für die eine oder andere Behandlungsform sprechen, sondern dass die Übergänge fließend sein können und es immer wieder am Einzelfall orientierte Entscheidungen im Rahmen des Assessments geben muss.
Ein Vorteil der teilstationären Behandlung liegt im Gegensatz zur vollstationären Behandlung darin, dass behandlungstäglich eine Rückkehr in die gewohnten familiären und sozialen Bezüge stattfindet, sodass der Übertrag der therapeutisch intendierten Verhaltensänderungen der teilstationären Behandlung leichter gelingen kann. Andererseits kann im Rahmen einer vollstationären interdisziplinären multimodalen Schmerztherapie (IMST) gerade die zeitlich befristete Trennung aus einem problematischen privaten bzw. sozialen Umfeld vorteilhaft sein. Für die Behandlungsdauer können damit negative Einflussfaktoren aus dem ambulanten Umfeld der Patientinnen und Patienten minimiert werden, die einem Therapieerfolg entgegenstehen.
Die Zuordnung zu den Versorgungssektoren d.h. zur ambulanten oder tagesklinischen (teilstationären) oder stationären Behandlung erfolgt anhand der Ausprägung der Schmerzerkrankung, deren Chronizität und Komplexität sowie der daraus resultierenden Einschränkungen der Funktionsfähigkeit der Patientin/des Patienten in den verschiedenen Lebensbereichen und der durch Komorbiditäten verursachten Leistungseinschränkungen.
So kommen für eine ambulanten IMST in ersten Linie Patientinnen und Patienten in Frage, die noch eine vergleichbar kurze Schmerzgeschichte haben, eher chronifizierungsgefährdet sind bzw. sich in einem frühen Stadium der Chronifizierung (MPSS I/II) befinden, so dass die Erkrankung noch nicht zu umfassenden Veränderungen im Leben der/des Betroffenen geführt hat. Patientinnen und Patienten mit einer ausreichend stabilen psychischen wie auch physischen Belastbarkeit, die noch dazu in der Lage sind , ihren Alltag aufrecht zu erhalten und beruflichen Anforderungen gerecht werden, können in die ambulante IMST sozusagen berufsbegleitend eingeschlossen werden.
Vor allem aus gesundheitlich-ökonomischem Blickwinkel ist die dadurch gegebene Möglichkeit hervorzuheben, Patientinnen und Patienten mit erhöhtem Risiko einer Chronifizierung im ambulanten Bereich frühzeitig identifizieren und dieser Entwicklung wirksam entgegenzusteuern zu können [39].
Interessenkonflikte:
Keine angegeben.
Das Literaturverzeichnis zu
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www.online-oup.de.
Korrespondenzadresse
Prof. Dr. med. Hans-Raimund Casser
DRK Schmerz-Zentrum Mainz
Auf der Steig 16
55131 Mainz
hans-raimund.casser@drk-schmerz-zentrum.de