Übersichtsarbeiten - OUP 05/2017

Karl IV, der bekannteste Patient mit einer spinalen Verletzung

Viele Prozesse der Rehabilitation waren schon in der Antike etabliert und gut bekannt: Extensionen und Traktionen zur Behandlung von Fehlstellungen und Verletzungen kannte schon Hippokrates im 4. Jahrhundert vor Christus, seitdem wurden auch speziell konstruierte mechanische Hilfsmittel wie zum Beispiel die Streckbank verwendet, die neben der therapeutischen Anwendung ab dem 13. Jahrhundert vermehrt eine unrühmliche Rolle in der Folter spielte [9, 10]. Der Arzt Caelius Aurelianus beschrieb schon im fünften Jahrhundert nach Christus detailliert Maßnahmen zur Behandlung von Patienten nach einem Schlaganfall. Ebenfalls in der Antike bekannt und nachweislich auch im Spätmittelalter verwendet waren Formen der Hydrotherapie mit Bädern und Umschlägen mit und ohne Zusätze [11]. Man muss also davon ausgehen, dass Grundprinzipien der Rehabilitation auch schon zu Zeiten Karls IV bekannt waren und benutzt wurden. Bei den Anwendern muss es sich nicht zwangsläufig um akademisch gebildete Ärzte gehandelt haben, vielmehr waren dies auch Bader (ursprünglich: Betreiber einer Badestube) und Wundärzte sowie Feldschere, im Mittelalter waren Medizin und Chirurgie noch getrennte Fächer. Im Hoch- und Spätmittelalter gewannen die medizinischen Kenntnisse wieder an Fahrt, nachdem die überlieferten Kenntnisse der Antike aus Griechenland, dem römischen Reich und dem vorderen Orient wieder entdeckt wurden und die Kenntnisse der Anatomie – auch in Form von ersten Sektionen – zunahmen. Dennoch liefen Heilkundige noch längere Zeit Gefahr der Verfolgung durch v.a. den Klerus [12].

Wie sah also die Rehabilitation des Herrschers aus? Nach der Beendigung der akuten Pflege musste der verletzte Herrscher vollkommen auf pflegerische Unterstützung angewiesen gewesen sein. Ziel der Pflege war unter anderem die Vermeidung von Komplikationen, zum Beispiel in Form von lagerungsbedingten Druckgeschwüren (Dekubitus), Pneumonien und entstehenden Kontrakturen. Man kann annehmen, dass im Moment des schweren Traumas und danach durch orofaziale posttraumatische Schwellungen, Blutungen und Lähmungen sowohl die Atmung als auch die orale Nahrungsaufnahme beeinträchtigt waren. Die Rehabilitation in der frühen Phase der Erkrankung wurde also wahrscheinlich eher in Form von einer regelmäßigen Vertikalisierung durchgeführt, am ehesten mithilfe einer Trage. Hierdurch verbesserte sich sowohl die pulmonale Situation und diente gleichzeitig als Prophylaxe von Dekubiti und Kontrakturen. Bekannt zu dieser Zeit waren auch gezielte Übungen zur Verbesserung der Atmung. Es folgte eine zunächst passive und danach aktive Bewegung der paretischen, aber nicht verletzten Extremitäten. Es war auch üblich, den Patienten in einer Trage herumzutragen, wahrscheinlich mit dem Ziel der erneuten Gewöhnung des Vestibularsystems an den Stimulus der Bewegung. Im Fall von Karl IV war ebenfalls eine gezielte Stimulation des orofazialen Bereiches zur Verbesserung der Sensibilität notwendig, die in Form der faziooralen Therapie auch heute noch ein voll etabliertes Verfahren im Rahmen der Frührehabilitation darstellt.

Insgesamt muss aus dem Verlauf geschlossen werden, dass es sich bei der Verletzung des Rückenmarks eher um eine leichtere Verlaufsform handelte, da die Tetraplegie im Laufe der Zeit rückläufige Tendenz zeigte. Die Patienten nach einer transversalen Verletzung des Rückenmarks werden auch heute im Rahmen der Frührehabilitation als erstes mit dem Ziel der Prophylaxe von Komplikationen therapeutisch gefördert. Hierzu gehört die regelmäßige Lagerung und passive Bewegung der Extremitäten sowie auch die regelmäßige Vertikalisierung – heute schon mithilfe von elektrisch gesteuerten Vertikalisationshilfen. Die fazioorale Therapie (FOTT) gehört ebenfalls zu den ersten frühen therapeutischen Schritten bei Schluckstörungen. Die frühe Mobilisierung und Gangschulung führen wir heute häufig durch Nutzung von technischen Systemen durch, die eine Entlastung des Körpergewichts erlauben, wie dies z.B. im Rahmen einer Laufbandtherapie oder mit einem Lokomaten möglich ist. Diese technischen Möglichkeiten waren zur Zeit vom Karl IV zwar nicht vorhanden, aber die Formen eines klassischen Gangtrainings mit Unterstützung durch eine oder auch zwei Personen waren wohl bekannt, wurden vermutlich auch bei Karl IV angewendet und werden bis heute in einer ähnlichen Form durchgeführt. Wahrscheinlich wurde die Therapie in variablen, individuell eingestellten zeitlichen Intervallen mehrfach am Tag durchgeführt. Karl IV hat wahrscheinlich für den Zeitraum von ca. einem Jahr täglich eine mehrstündige Rehabilitation durchlaufen. Die Rehabilitationsdauer ist mit heutigen Verläufen vergleichbar. Heute würden im Rahmen der postakuten Rehabilitation zur Verbesserung der sensomotorischen Funktion vor allem physiotherapeutische Methoden auf neurophysiologischer Basis genutzt, die zum damaligen Zeitpunkt noch nicht bekannt waren. Man kann davon ausgehen, dass das Training so nah wie möglich an der eingeschränkten Funktion erfolgte; in der modernen Rehabilitation sprechen wir hier von einem sog. task-orientated Training oder von einem aufgabenspezifischen Training. Bis zum heutigen Zeitpunkt ist es jedoch nicht bewiesen, dass die neurophysiologischen Therapiemaßnahmen effektiver sind als aufgabenorientiertes Training. Man kann also folgern, dass Karl IV auch in diesem Sinne keinen erheblichen Nachteil im Vergleich zu den heutigen Rehabilitationskonzepten hatte.

Heute gelten für die Therapie des Gangs 5 grundlegende Prinzipien:

Frühzeitigkeit,

Intensität,

Repetition,

Kognition und

posturale Kontrolle.

Diese waren – wenn auch mit einfacheren Mitteln – auch in der Zeit von Karl IV herzustellen. Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft die Hippotherapie, die ebenfalls keine Erfindung der Neuzeit ist. Sie wurde bereits in der Antike durchgeführt und ist vergleichbar mit heutigen Ausführungen. Man kann also annehmen, dass Karl IV im Sinne der Hippotherapie nach dem Erreichen der Vertikalisation zur Verbesserung der Stabilisierung des Rumpfs und der posturalen Funktion rehabilitiert wurde, zumal er als Ritter in Turnieren gute reiterische Fähigkeiten besessen haben muss. Nach weiteren Aufzeichnungen der Chronikschreiber können wir annehmen, dass Karl IV auch in seinen weiteren Lebensjahren während der Audienzen kleine Gegenstände aus Holz geschnitzt hatte. Dies war jedoch nicht als eine besondere Eigenart anzusehen, vielmehr stellte es wohl eine gewisse Therapie der feinmotorischen Fertigkeiten dar – auch hier ein Analogum zum Training der Feinmotorik im Bereich der heutigen Ergotherapie. Neben den differenzierten Therapien, die bei den Patienten in der Rehabilitation Anwendung finden, spielt die psychische Befindlichkeit sowie die Motivation eine Schlüsselrolle – Karl IV als starker Herrscher mit der Aussicht auf den Kaiserthron war hier sicherlich bevorteilt.

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4