Arzt und Recht - OUP 03/2014
Keine unbegrenzte Befreiung vom Notfalldienst – Wegfall auch bereits durch Rechtsänderung
Nachdem der Arzt unter Hinweis auf eine beidseitige Glaskörpertrübung ein ihm auferlegtes Nachtfahrverbot nachgewiesen hatte, wurde er im Jahr 2006 nach der Gemeinsamen Notfalldienstordnung der Ärztekammer und der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (GNO) auf Widerruf von der Teilnahme am organisierten ärztlichen Notfalldienst befreit. Im Jahr 2011 wurde diese Befreiung „ab sofort“ aufgehoben. Der Arzt wurde gebeten, den Fahrdienst und Sitzdienst zu den angegebenen Terminen wahrzunehmen. Der Notfalldienstausschuss habe den Widerruf der Befreiung beschlossen, weil die Ärzte mit Beginn der Notfalldienstreform zum 01.02.2011 im Fahrdienst zu den Hausbesuchen von einem Fahrer abgeholt würden und damit die Gründe für seine Befreiung entfallen seien.
Daraufhin stellte der Antragsteller erneut einen Befreiungsantrag und führte aus: Wegen des bestehenden Nachtfahrverbots könne er die 40 bis 70 km entfernt gelegenen Standorte des Sitzdienstes nachts nicht anfahren. Im Übrigen seien er und sein Praxispartner aufgrund ihrer Kooperation mit Kliniken in der näheren Umgebung und operativ tätigen niedergelassenen Kollegen täglich im Einsatz, denn neben ihrer anästhesiologischen Tätigkeit bei Operationen müssten sie alle notwendigen Rufdienste leisten und im Rahmen der intensivmedizinischen Nachsorge im Krankenhaus auch an den Wochenenden zur Verfügung stehen. Dabei anfallende Fahrten würden für ihn persönlich „hausintern“ geregelt.
Nach der Einlegung von Widersprüchen sowohl gegen den Widerruf seiner Befreiung als auch gegen die Ablehnung seines erneuten Befreiungsantrags hat der Antragsteller beim Sozialgericht um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Er hat geltend gemacht, nicht zum Notfalldienst herangezogen werden zu können, solange die ihm seinerzeit unbefristet erteilte Befreiung nicht rechtskräftig widerrufen sei. Nachts anfallende Fahrten zu den Sitzdiensten könne er wegen der Einschränkungen seines Sehvermögens nicht wahrnehmen. Da er im Rahmen seiner anästhesiologischen Tätigkeit Tag für Tag Bereitschaftsdienst leiste, würde er durch einen zusätzlichen vertragsärztlichen Notfalldienst über Gebühr belastet. Er könne auch nicht gleichzeitig die anästhesistische Versorgung der Patienten in den Kliniken sicherstellen.
Das Sozialgericht hat dem Antrag des Arztes auf vorläufigen Rechtsschutz stattgegeben. Diese Entscheidung greift die für die Befreiung zuständige Stelle fristgerecht mit der Beschwerde an.
Aus den Gründen
Die statthafte und im Übrigen zulässige Beschwerde ist nach Auffassung des Landessozialgerichts begründet.
An der Rechtmäßigkeit der Heranziehung zum Notfalldienst bestünden nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage derzeit keine durchgreifenden Zweifel:
Der Arzt sei als vertragsärztlich zugelassener Facharzt für Anästhesiologie zur Teilnahme am ärztlichen Notfalldienst verpflichtet. Rechtsgrundlage für diese Pflicht ist § 1 Abs. 1 GNO. Danach haben alle niedergelassenen oder in einem Anstellungsverhältnis an der ambulanten Versorgung mitwirkenden Ärzte die ambulante Versorgung der Patienten zu jeder Zeit sicherzustellen. Das umfasse auch für in der fachärztlichen Versorgung tätigen Ärzte die Verpflichtung, am allgemeinen ärztlichen Notfalldienst teilzunehmen (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 06.02.2008, Az. B 6 KA 13/06 R = ArztR 20090, 107). Die grundsätzliche Verpflichtung eines jeden Vertragsarztes zur Teilnahme am ärztlichen Notfalldienst folge aus seinem Zulassungsstatus. Dieser auf seinen Antrag hin verliehene Status erfordere es, in zeitlicher Hinsicht umfassend – d.h. auch in den Zeiten außerhalb der Sprechstunde – für die Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung zur Verfügung zu stehen. Der einzelne Arzt werde mithin dadurch, dass die gesamte Ärzteschaft einen Notfalldienst organisiert, von seiner anderenfalls bestehenden Verpflichtung zur Dienstbereitschaft rund um die Uhr entlastet. Als Gegenleistung hierfür müsse jeder Vertragsarzt den Notfalldienst als gemeinsame Aufgabe aller Ärzte gleichwertig mittragen (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 06.09.2006, Az. B 6 KA 43/05 R = ArztR 2007, 159; Bundessozialgericht, Urteil vom 17.05.2011, Az. B 6 KA 23/10 R = ArztR 2012, 220).
Während § 2 GNO die Teilnahmeverpflichtung begründe, liste § 11 GNO eine Reihe von Befreiungstatbeständen auf. § 11 Abs. 1 GNO enthalte die Generalklausel. Hiernach können Ärzte auf schriftlichen Antrag durch den Bezirksstellenleiter vom Notfalldienst auf Dauer oder befristet befreit werden, wenn schwerwiegende Gründe vorliegen. Ausweislich des Wortlauts werde das Verfahren nur auf schriftlichen Antrag eingeleitet (vgl. § 10 Satz 2 SGB X). Von Amts wegen (hierzu § 10 Satz 1 SGB X) dürfen keine Befreiungen ausgesprochen werden. Weitere Voraussetzung für die Befreiung sei, dass schwerwiegende Gründe vorliegen.
Eine (positive) Entscheidung über die Befreiung habe konstitutiven Charakter. Eine negative Entscheidung könne mit Widerspruch angefochten (§ 83 Sozialgerichtsgesetz) und nach Erteilung eines Widerspruchsbescheides mittels Klage einer gerichtlichen Überprüfung zugeführt werden (§§ 87 ff. Sozialgerichtsgesetz).
Vorliegend habe der Arzt noch unter Geltung der (Ergänzung des Verfassers: alten) GNO einen Befreiungsantrag gestellt, den die Antragsgegnerin im Jahr 2006 positiv beschieden hat. Hierauf könne sich der Arzt indes nicht berufen. Die Befreiung entfalte keine Wirksamkeit mehr.
Die für die Befreiung zuständige Stelle habe den Arzt mit Bescheid im Jahre 2006 „bis auf Widerruf“ von der Teilnahme am ärztlichen Notfalldienst befreit. Im Jahr 2011 habe sie die Befreiung widerrufen. Dieser Bescheid sei rechtsfehlerhaft zustande gekommen, weil nach Aktenlage keine Anhörung durchgeführt worden ist und der Bescheid sich damit als Überraschungsentscheidung darstelle. Die unterlassene Anhörung des Antragstellers stelle einen wesentlichen Mangel des Verfahrens dar, der allerdings nicht so schwerwiegend ist, dass deshalb der Verwaltungsakt nichtig wäre.
Der Widerspruch des Antragstellers gegen den Widerrufsbescheid habe zwar aufschiebende Wirkung (§ 86a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz), sodass dieser derzeit nicht bestandskräftig ist. Die Befreiung aus dem Jahr 2006 habe sich mit Wirksamwerden der neuen GNO jedoch im Sinne des § 39 Abs. 2 SGB X „auf andere Weise erledigt“. Eine solche Erledigung liege vor, wenn durch eine Änderung der Sach- oder Rechtslage das Regelungsobjekt des Verwaltungsaktes entfällt. Dazu würden insbesondere Sachverhalte zählen, bei denen für die getroffene Regelung nach der eingetretenen Änderung kein Anwendungsbereich mehr verbleibt bzw. bei denen der geregelte Tatbestand selbst entfällt (vgl. hierzu Bundessozialgericht, Urteil vom 11.07.2000, Az. B 1 KR 14/99 R), der Verwaltungsakt damit seine regelnde Wirkung verliert. Für die Gegenstandslosigkeit des Verwaltungsaktes bei nachträglicher Änderung der Sach- oder Rechtslage sei damit maßgeblich, ob er auch für den Fall geänderter Umstände noch Geltung beansprucht oder nicht (Bundessozialgericht, Urteil vom 06.09.2006, Az. B 6 KA 43/05 R = ArztR 2007, 199). Waren Bestand oder Rechtswirkungen des Verwaltungsaktes von vornherein für den Adressaten erkennbar an den Fortbestand einer bestimmten Situation gebunden, werde er gegenstandslos, wenn diese Situation nicht mehr besteht (Bundessozialgericht, Urteile vom 06.09.2006, Az. B 6 KA 43/05 R und 11.07.2000, Az. B 1 KR 14/99 R; vgl. auch Bundessozialgericht, Urteil vom 28.10.2008, Az. B 8 SO 33/07 R).