Originalarbeiten - OUP 11/2012
Konservative Skoliosebehandlung – Was ist evidenzbasiert?
Die Korsettbehandlung ist durch eine prospektive kontrollierte Multicenter Studie der SRS (Scoliosis Research Society) [5], durch eine prospektive kontrollierte Langzeituntersuchung [6] und durch eine prospektive kontrollierte Studie mit strikten Einschlusskriterien [7] belegt. Somit wurde der Korsettbehandlung in einem Cochrane Review [8] eine Evidenz auf Stufe II zugestanden. Es ist belegt, dass man selbst mit relativ symmetrischen Korsetten (Boston Brace) die Krümmungszunahme im Wachstumsalter zu einem hohen Prozentsatz aufhalten kann, Verbesserungen lassen sich jedoch nur bei ausreichend hohem Korrektureffekt und bei gegebener Mitarbeit der Betroffenen erzielen [9].
Der Standard der Korsettversorgung bleibt jedoch auch weiterhin sehr unterschiedlich. Während die Erfolgsrate (Patientenanteil ohne Progression oder mit Verbesserung) der Behandlung mit einem Chêneau-Korsett in einem Zentrum bei 56 % lag [10], haben wir in einer Nachuntersuchung von Patienten, die mit den neusten Serien von Chêneau-Korsetten behandelt worden waren, eine Erfolgsrate von weit mehr als 95 % gefunden [11]. Wenn man bedenkt, dass die Korsettversorgung über das Wohl oder Wehe, über ein relativ unauffälliges oder über ein auffälliges klinisches Bild mit deutlichem Rippenbuckel entscheiden kann, ist eine Vereinheitlichung des Versorgungsstandards überfällig.
Es gibt allerdings Skolioseformen, die ohne Operation nicht erfolgreich behandelt werden können. Hierzu zählt die Kongenitale Skoliose mit langstreckiger Segmentationsstörung (Unilateral Bar, Rippensynostosen). Formationsstörungen hingegen benötigen nur selten eine Operation [12]. Im Zweifelsfall sollte daher grundsätzlich eine Zweitmeinung eingeholt werden.
Konservatives Skoliosemanagement heute
Waren Physiotherapie und stationäre Rehabilitation noch in den 80er Jahren das wesentliche Behandlungselement, so hat sich deren Wertigkeit mit der Entwicklung hoch korrigierender Orthesen deutlich verringert. War der Korsettstandard noch bis in die 90er Jahre allgemein noch recht dürftig, so können wir heute davon ausgehen, dass man im Wachstumsschub allein durch eine optimale Korsettversorgung nicht nur die Krümmungszunahme aufhalten, sondern gar signifikante Verbesserungen von Krümmungswinkel und klinischem Bild erzielen kann.
Den Einwand, die Muskulatur würde während einer Korsettbehandlung nicht beansprucht und die Muskelmasse würde sich dadurch verringern, kann man nach einer EMG Studie im Milwaukee-Korsett getrost in den Bereich der Legenden verbannen [13].
Im Hauptwachstumsschub beginnt man nach aktueller Auffassung ab 15° Cobb mit einem hoch korrigierenden Nachtkorsett [14], ab 20° mit einer Ganztagesversorgung. Ein Behandlungsbeginn vor Auftreten der Menarche (Stimmbruch) ermöglicht Korrekturen im Endresultat von teils > 50 % (Abb. 2). Bei guter Primärkorrektur und bei großer Wachstumsdynamik kann manchmal schon nach 6-monatiger Behandlung eine Korrektur auf < 20° ermöglicht werden. In diesen Fällen ist schon vor Auftreten der Menarche (Risser 1) eine weitergehende Teilzeitversorgung möglich. Nach 6 Monaten zeigen sich oft schon bedeutsame klinische Korrekturen (Abb. 3 und 4).
Die dauerhafte Anwendung der Physiotherapie ist im Hauptwachstumsschub bei Korsettindikation mit einer Tragezeit von 20–23 h täglich nicht erforderlich. Ein Übungsprogramm von 20 min/d kann nicht mit den ganztägigen Korrekturen im Korsett konkurrieren. Außerdem führt schon allein das vollzeitige Tragen einer hoch korrigierenden Orthese zu einer deutlichen Verbesserung des Haltungsgefühls. Allerdings empfiehlt sich die physiotherapeutische Schulung der Alltagsaktivitäten (Abb. 5) zur Korsettabschulung im reiferen Adoleszentenalter besonders bei Restkrümmungen jenseits der 30° Grenze. Ab 35° werden im Erwachsenenalter ohne Behandlung schleichende Krümmungszunahmen erwartet [15].
Bei Problemen, die verordnete Korsettversorgung zu akzeptieren, ist auch heute noch eine stationäre Rehabilitation zur psychischen Entlastung und Steigerung der Akzeptanz hilfreich. Angesichts der zunehmenden Multimorbidität auch bei Kindern und Jugendlichen (Allergie, Asthma, Nahrungsmittelunverträglichkeiten) sollte eine Rehabilitationseinrichtung gewählt werden, welche sich auch diesen Problemstellungen annehmen kann.
Waren noch in den 90er Jahren unter Korsettversorgung stärkere Schmerzen zu erwarten, welche bei einer großen Zahl der Betroffenen zum Abbruch der Korsettversorgung führten, so ist es heute möglich, die Korsettversorgung vollkommen schmerzfrei zu gestalten. Mit Hilfe des CAD/CAM-Verfahrens zur Korsettherstellung ist es möglich, die Versorgungen zu standardisieren und immer wiederkehrende Problemstellungen am Korsettmodell im Computer zu bearbeiten. Hierdurch wurde unsere Versorgungsreihe immer bequemer zu tragen und wir wurden dadurch in die Lage versetzt, bei Patienten, die einer schnellen Versorgung bedürfen (Patienten aus dem Ausland), innerhalb von 2 Tagen zu einer schmerzfreien Versorgung mit gutem Korrekturergebnis zu gelangen. Das CAD/CAM-Verfahren ermöglicht uns auch den Korrektureffekt am Modell im Computer virtuell zu verstärken. Jedes Modell kann verbessert werden und diese Verbesserungen stehen dann sogleich für alle weiteren Patienten zur Verfügung.
Auch wenn unsere aktuelle Baureihe (Gensingen Brace) im Vergleich zu den Vorgängern deutlich kleiner und bei verbesserter Korrektur bequemer geworden ist, muss die Beeinträchtigung der Lebensqualität der Betroffenen anerkannt werden. Für die Patienten in der Adoleszenz ist sicherlich jedwede Erleichterung willkommen. Daher sollten alle Anstrengungen unternommen werden, die möglicherweise zu einer weiteren Verbesserung der Lebensqualität der Patienten unter Behandlung ohne Verlust an Wirksamkeit führen [16]. In unabhängigen prospektiv kontrollierten Studien wurde einem in den USA weit verbreiteten Softbrace jedwede Wirkung abgesprochen [7, 17], dennoch ist das Konzept der Korsettbehandlung ohne Hartschalen bestechend. Aus diesem Grund haben wir eine Neuentwicklung auf diesem Gebiet gestartet mit vielversprechenden Korrektureffekten (Abb. 6).
Neben der Versorgung mit einem optimalen Hilfsmittel ist in der Behandlung der Skoliose ein optimales „Timing“ erforderlich. Im Hauptwachstumsschub bei Risser 0 können noch beträchtliche klinische und radiologische Verbesserungen erzielt werden. Ab Risser Stadium 3 (ca. 18 Monate postmenarchial) sind größere radiologische Korrekturen in der Regel nicht mehr, wohl aber noch bedeutsame klinische Korrekturen möglich. Ab Risser 4 nur noch geringe klinische Verbesserungen.