Originalarbeiten - OUP 12/2012
Kreuzschmerzen – Epidemiologie, Klassifizierung und
ein Überblick über die aktuellen Leitlinienempfehlungen
ein Überblick über die aktuellen Leitlinienempfehlungen
Rückenschmerzen können nach der Zeitdauer des Auftretens unterteilt werden, in den meisten Leitlinien hat sich die folgende Definition durchgesetzt:
Akuter Rückenschmerz: Schmerzdauer bis zu 6 Wochen
Subakuter Rückenschmerz: Dauer bis zu 12 Wochen
Chronischer Rückenschmerz: Dauer länger als 12 Wochen
Unspezifische Kreuzschmerzen (nichtradikulär, sog. Lumbago) treten meist bei Patienten jüngeren Alters auf. 85 % dieser Schmerzen heilen spontan und die Ursache bleibt unklar [18]. 2 % dieser Beschwerden müssen später jedoch auf extravertebrale Ursachen wie Nieren- , gynäkologische Erkrankungen oder retroperitoneale Beschwerden zurückgeführt werden [19].
Spezifische Kreuzschmerzen haben eine klar definierte Ursache und müssen entsprechend gezielt behandelt werden. Hierzu gehören Krankheitsbilder wie Tumore, Metastasen, osteoporotische Frakturen, Tuberkulose etc.
Kreuzschmerzen mit Ausstrahlungen als Folge einer Nervenwurzelirritation werden als Wurzelreizsyndrom oder lumbale Radikulopathie bezeichnet, hiervon unterscheiden wir Pseudoradikuläre Syndrome, bei denen der neurologische Untersuchungsbefund unauffällig ist und Nervendehnungszeichen fehlen.
Flaggen
Im englischen Sprachraum wird die wichtige Unterscheidung unspezifischer Rückenschmerzen von radikulären Syndromen und spinalen Pathologien als „diagnostische Triage“ bezeichnet. Bei der ersten Konsultation eines Patienten mit Rückenschmerzen sind vom Arzt die 3 folgenden Fragen zu klären:
1. Liegt eine gefährliche Erkrankung (Tumor, Fraktur, Entzündung u.a.) vor?
2. Gibt es Hinweise für eine Nervenkompression?
3. Finden sich Hinweise auf Chronifizierungsfaktoren?
Tab. 1 gibt die von der AG Kurative Versorgung der Bertelsmann Stiftung [15] unterschiedene Einteilung der Chronifizierungs- oder Belastungsfaktoren (dunkelrote, rote, gelbe Flaggen) wieder.
Dunkelrote Flaggen sind Alarmzeichen und erfordern eine sofortige Versorgung des Patienten in einem hierfür eingerichteten Krankenhaus. Rote Flaggen erfordern im Einzelfall weitere diagnostische Abklärung und Therapie, in der Regel eine MRT-Untersuchung über die konventionellen Röntgenaufnahmen hinaus. Gelbe Flaggen gelten als Prädiktoren für den Übergang zu chronischen Verläufen und müssen bei ausbleibendem Therapieerfolg evaluiert werden.
Zur Chronifizierung beitragen können
die psychische Disposition des Patienten
Rentenbegehren
die individuelle soziale Situation des Patienten
der Arzt.
Inwiefern kann der Arzt einer Chronifizierung Vorschub leisten?
Radiologische Befunde dürfen nicht überbewertet und der Patient hierdurch verunsichert oder stigmatisiert werden. Im Gegenteil: Wir sollten Patienten mit unspezifischen Rückenschmerzen ohne „red flags“ ausreichend über deren Gutartigkeit aufklären. Unkritische Infiltrationen müssen unterbleiben ebenso wie eine prolongierte Krankschreibung des Patienten.
Hinweise zur Diagnostik und Therapie von akuten und chronischen unspezifischen Rückenschmerzen nach den aktuellen Leitlinien
Für die Befunderhebung braucht es neben guten Kenntnissen in der Untersuchungstechnik der Wirbelsäule und Evaluation der individuellen Situation des Patienten häufig auch ein fachübergreifendes, interdisziplinäres und berufsgruppenübergreifendes Netzwerk von engagierten Kollegen und Therapeuten.
Folgende Hinweise basieren auf evidenzbasierten Empfehlungen der aktuellen Leitlinien:
Akute unspezifische
Kreuzschmerzen:
Diagnostik:
Anamnese und klinische Untersuchung zum Ausschluss von Roten Flaggen (red flags) diagnostische Triage
Psychosoziale Chronifizierungsfaktoren wenn möglich primär mit erfassen
In den ersten 4 Wochen keine Röntgen- oder MRT-Untersuchung (Ausnahme: Hinweis auf spezifische Rückenschmerzen!)
Nach 4 Wochen Reassessment, wenn keine Besserung eingetreten ist, den Patienten rasch hinsichtlich der Chronifizierungsvermeidung einer gezielten fachärztlichen Untersuchung und Therapie zuführen, frühzeitig auch psychotherapeutsiche Mitbetreuung erwägen
Therapie:
den Patienten ausreichend über die Gutartigkeit der Erkrankung aufklären
keine Bettruhe. Wenn schmerzbedingt nicht möglich, längstens 2–3 Tage, der Patient soll aktiv bleiben!
Versorgung mit adäquaten Analgetika, Paracetamol, NSAR, ggf. Muskelrelaxanzien, ggf. Opioide
Wenn sich keine Besserung einstellt, physiotherapeutisches Übungsprogramm mit dem Patienten erarbeiten, manuelle Therapie und ggf. Akupunktur
Rasche Einleitung multidisziplinärer Evaluations- und Behandlungsprogramme in spezialisierten Zentren für Patienten, die innerhalb von 4–8 Wochen nicht an ihren Arbeitsplatz zurückkehren und für alle, die Hinweise für eine Chronifizierung zeigen
Chronische unspezifische Kreuzschmerzen:
Diagnostik:
Anamnese und klinische Untersuchung zum Ausschluss von red flags, diagnostische Triage
Auch bei wiederholter Vorstellung des Patienten bereit sein, die Diagnose zu hinterfragen
Prognostische Faktoren (yellow flags) erfassen, mittels geeigneter Instrumente das Chronifizierungsrisiko bzw. den Chronifizierungsgrad erfassen
Röntgen – ohne dass altersentsprechende degenerative Veränderungen überbewertet werden
MRT zur weiterführenden Diagnostik, Abklärung von ausstrahlenden Beschwerden, Ausschluss radikulärer Symptome, Entzündung, Fraktur, Metastasen
Spätestens nach 8 Wochen sollte der Patient einer spezialisierten ambulanten, teilstationären oder stationären multimodalen und interdisziplinären Therapie in einem spezialisiertem Zentrum zugewiesen werden
Therapie:
Es liegt leider eine Unterversorgung vor mit spezialisierten Zentren und besonders auch psychosomatischen Diagnostik- und Behandlungsmöglichkeiten, sodass oft kein ganzheitliches Konzept zur Therapie der chronischen Rückenschmerzen ermöglicht wird.
Orientierend als Essenz aus den Leitlinien sei eine Übersicht zusammengestellt, wobei jedoch die Erfahrung des Behandlers mit einzelnen therapeutischen Methoden nicht beeinflusst werden sollte.
Physiotherapie mit Erarbeitung von individuellen Übungsprogrammen ist die Therapie der ersten Wahl! Auch Gruppentherapie und Therapien mit kognitiv-verhaltenstherapeutischem Ansatz sind empfohlen.
Eine ausreichende Evidenz für die Anwendung von Interferenzstrom, Kurzwelle, Lasertherapie, Ultraschall, Thermotherapie, Miederversorgung, TENS-Gerät, Traktionen fehlt.
Eine Serie Manualtherapie sollte angeboten werden.
Patientenaufklärung und Motivation zu Bewegungsprogrammen und Rückkehr in normale Aktivitäten, Reduktion von krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit oder gar Berentung. Offene Gespräche über Behandlungsmöglichkeiten und deren Erfolgsaussichten
Verhaltenstherapie, psychologische Mitbetreuung, und bei Somatisierungsstörung auch psychosomatische oder psychotherapeutische Mitbetreuung des Patienten.
Multidisziplinäre, biopsychosoziale stationäre Rehabilitation in spezialisierten Zentren, wenn vorherige Therapien versagt haben.
Neben der Schmerztherapie mit Paracetamol und NSAR (kurzfristig und bei Patienten älter als 45 nur in Kombination mit einem Protonenpumpenhemmer) kurzfristig auch Gabe von Muskelrelaxanzien und Antidepressiva erwägen.