Übersichtsarbeiten - OUP 04/2020
Management der akuten traumatischen cervikalen Querschnittlähmung
Die Verwendung von Kortikosteroiden bei der akuten Rückenmarkverletzung war in den letzten Jahrzehnten noch kontroverser als ein optimales Blutdruckmanagement diskutiert worden. Kortikosteroide, insbesondere Methylprednisolon, fanden in den 90er Jahren als starkes neuroprotektives Mittel enorme Beachtung. Die National Acute Spinal Cord Injury Study (NASCIS) II und III waren zentrale Studien bezüglich des Einsatzes von Kortikosteroiden [2, 3]. Sowohl NASCIS II als auch III wurden als prospektive, randomisierte Studien der Evidenz-Klasse I konzipiert. Ihre Ergebnisse zum Nutzen der Kortikosteroid Therapie im Rahmen des akuten traumatischen Rückenmarktraumas wurden jedoch nicht durch eine Post-hoc-Analyse bestätigt, wodurch das Evidenzniveau herabgestuft wurde. Darüber hinaus zeigten diese Studien einen Trend zu signifikant erhöhten Morbiditäts- und Mortalitätsraten bei Patienten, die mit Kortikosteroiden behandelt wurden, insbesondere bezüglich Pneumonie, Sepsis, ARDS (acute respiratory distress syndrom), gastrointestinaler Blutung und Tod [16]. Angesichts der Gesamtheit der aktuellen Literatur zur Kortikosteroidbehandlung bei akutem SCI, empfehlen wir die Verwendung nicht aufgrund der signifikanten Erhöhung von Komplikationen und dem Fehlen eines klar definierten Vorteils.
Chirurgische Prinzipien
Die Notwendigkeit einer Operation bei akuten traumatischen Verletzungen der Halswirbelsäule wird durch viele Faktoren beeinflusst. Eine effektive Fixierung und Fusion nahezu aller traumatischen Wirbelsäulenverletzungen haben die Fortschritte bezüglich der Operationstechniken und der Instrumententechnologie ermöglicht. Die Kombination aus Dekompression verletzter neuronaler Elemente mit Korrektur der Deformität, Reduktion von Frakturen und Fusion für eine langfristige Stabilität der Wirbelsäule sind wesentliche Elemente einer erfolgreichen Operation bei einem Wirbelsäulentrauma.
Die angemessene Entfernung von defekten Knochen und Bändern, zerrissener Bandscheiben und Hämatomen durch den Wirbelsäulenchirurgen sind wesentlich, um die Kompression der neuralen Elemente zu verringern. Ein Aspekt der Instrumentierung der Halswirbelsäule, der hervorgehoben werden muss, ist die Bedeutung sowohl der Fixierung als auch der Fusion. Diese Begriffe sollten nicht synonym verwendet werden. Die Fixierung bezieht sich auf die Instrumentierung, wie Massa- oder Pedikelschrauben, die mit entsprechenden Stäben verbunden sind. Diese Hardware, inzwischen meist aus Titan, dient als Bewehrung oder Gerüst zur Fixierung instabiler Segmente. Diese Fixierung bietet kurzfristige Stabilität und verhindert Bewegungen über die beteiligten Segmente. Fusion bezieht sich auf die knöcherne Durchbauung, die letztendlich eine langfristige Stabilität über Segmente hinweg bietet. Die Fusion wird durch Dekortieren des natürlichen Knochens erzeugt – insbesondere in den Facetten oder Bandscheibenräumen, die die natürlichen Gelenke der Wirbelsäule sind. Diese Räume werden dann entweder mit dem eigenen Autotransplantat- oder Allotransplantatknochen (oder beidem) gefüllt. Das Ziel ist es, eine knöcherne Fusion über Bewegungssegmente hinweg zu erzeugen, wobei ein großer funktioneller Knochen entsteht, in dem sich einst mehrere Knochen befanden. Der Fusionsprozess kann bis zu 1 Jahr dauern und wird durch direkte Kompression (ein Grundsatz, der als Wolff‘sches Gesetz bekannt ist) und durch Immobilisierung unterstützt. Die spezifischen Verfahren zur Fixierung und Fusion der Wirbelsäule gehen über den Rahmen dieser Arbeit hinaus. Stabilisierungsverfahren können jedoch entweder anterior, posterior oder kombiniert durchgeführt werden. Die Wahl des Verfahrens, das einem bestimmten Patienten am besten zugute kommt, wird durch das Verletzungsmuster, die Komorbiditäten, den Bereich mit der signifikantesten Kompression, die Art der Deformität und ebenso der Präferenz des Chirurgen bestimmt.
Bezüglich des Operationszeitpunkts gibt es weiterhin Diskussionen. Während einige Chirurgen eine frühe Dekompression befürworten, um die Zeit der Rückenmarkskompression zu minimieren, muss der optimale Zeitpunkt für die Dekompression noch randomisiert und prospektiv untersucht werden. Die bekannte STASCIS (Surgical Timing in Acute Spinal Cord Injury Study) zeigte ein besseres Outcome nach 6 Monaten nach früher Operation (< 24 h nach Verletzung) im Vergleich zur späten Operation (? 24 h) [12]. Während eine frühe Dekompression der Wirbelsäule einen neurologischen Nutzen bringen kann, ermöglicht die Stabilisierung der Wirbelsäule die frühe möglichst querschnittspezifische Therapie inklusive Mobilisation. Obwohl es keine Klasse I Evidenz für eine frühzeitige Dekompression des Myelons gibt, glauben wir, dass diese bei akuter traumatischer Rückenmarkschädigung ein wesentlicher Baustein ist, um die Chancen und den Grad der neurologischen Erholung zu maximieren. Aktuelle Meta-Analysen untermauern diese Empfehlungen [11, 22].
Fallbeispiel
22-jährige Patientin mit Hochrasanztrauma. Pkw-Unfall mit 130 km/h, angeschnallt, nicht überschlagen, keine Airbag-Auslösung. Transport mit Rettungswagen in das Krankenhaus. Kein Stiff-Neck. Keine Notarztbegleitung. Nackenschmerzen, progrediente Sensibilitätsstörungen in den Armen, keine Blasen-Mastdarmstörung – direkte Anlage Stiff-Neck in Notaufnahme und weitere Diagnostik.
Röntgen HWS in 3 Ebenen zeigt eine C2-Fraktur.
CT-HWS zeigt eine C2-Fraktur sowie eine Fraktur der Vorderkante C6 und des Bogens C5 (Abb. 1).
MRT-HWS zeigt eine C2-Fraktur ohne Kompression des Myelon sowie eine Zerreißung des Bandscheibenfachs C5/6 mit traumatischem Bandscheibenvorfall C5/6 mit Myelonkompression (Abb. 2).
Operative Therapie (< 24 h) nach videoassistierter Intubation – zuerst ventrale Dekompression des Rückenmarks mittels Diskektomie C5/6 und Fusion C5/6 mittels Cage und ventraler Platte. Dann dorsale Stabilisierung und Fusion C1 auf C3 (Abb. 3).
Postoperativ keine neurologischen Defizite.
Schlussfolgerung
Rückenmarksverletzungen bleiben eine klinische Herausforderung. Die Bewertung, Klassifizierung und Erstbehandlung von Patienten mit diesen schweren Verletzungen ist zunehmend standardisiert. Beträchtliche Ressourcen werden eingesetzt, um sowohl medizinische als auch chirurgische Behandlungsoptionen zu verbessern. Trotz der Fortschritte, die bei der akuten Behandlung von Patienten mit Rückenmarkschädigung erzielt wurden, haben sich die neurologischen Ergebnisse in den letzten Jahrzehnten lediglich dahingehend verbessert, dass sich der Anteil der sensomotorisch inkomplett querschnittgelähmten Patienten von einem Drittel auf zwei Drittel verbessert hat. Die immer weiter verbesserten Managementstrategien, einschließlich der querschnittspezifischen komplexen Ersttherapie in spezielle Zentren, bleiben aktuell für die Optimierung der Ergebnisse von entscheidender Bedeutung.