Übersichtsarbeiten - OUP 05/2020
Nicht spezifischer Rückenschmerz oder spezifische Subgruppenbildung?Diskussion einer Modellbildung
Kay Niemier
Zusammenfassung:
Aktuell existieren 2 Sorten von Rückenschmerzen, spezifischer und nicht spezifischer.
Auf dieser Grundlage werden Versorgungsleitlinien entwickelt, Studien durchgeführt und Patienten behandelt. Die Ergebnisse sind wie der Rückenschmerz nicht spezifisch bzw. schlecht.
Das Bewegungssystem ist ein funktionelles System und dient in der Interaktion mit anderen Systemen der Bedürfnisbefriedigung. Auf der Grundlage des funktionellen Systems des Verhaltens nach Anochin lässt sich ein funktionelles Modell zum biopsychosozialen Verständnis von Rückenschmerzen entwickeln. Pathomorphologische, funktionelle, psychosoziale und neurophysiologische Aspekte der Entwicklung und Chronifizierung von Rückenschmerzen
fließen hier ein und bilden die Grundlage für eine spezifische Subgruppeneinteilung.
Die multimodale Komplextherapie des Bewegungssystems nach dem ANOA-Konzept behandelt spezifisch Patienten, bei denen die Funktionsstörungen des Bewegungssystems der zentrale Faktor in der Pathogenese sind. Für diese Subgruppe von Patienten konnten gute und nachhaltige Behandlungsergebnisse dargestellt werden.
Schlüsselwörter:
Rückenschmerz, Funktionsstörungen, Funktionelles System, Subgruppen, ANOA-Konzept
Zitierweise:
Niemier K: Nicht spezifischer Rückenschmerz oder spezifische Subgruppenbildung?
Diskussion einer Modellbildung. OUP 2020; 9: 285–292 DOI 10.3238/oup.2020.0285–0292
Summary: Up till now, there are only 2 types of low back pain, specific and non-specific. On this basis, clinical guidelines were developed, studies undertaken and patients treated. The results are, like the low back pain somewhat non-specific, if not to say poor.
The loco-motor-system is a functional system with the aim to satisfy needs. On the basis of the functional model of behavior (Anochin) it is possible to develop a bio-psycho-social understanding of low back pain. Pathormophological and psychosocial findings, somatic dysfunctions as well as neurophysiological aspects are included and are a sound basis to classify subgroups.
The complex treatment of the loco-motor-system according to the ANOA-concept treats patients with somatic dysfunction as the central problem. Positive results of this approach were demonstrated.
Keywords: low back pain, somatic dysfunction, functional system, subgroups, non-specific, ANOA-concept
Citation: Niemier K: Non specific low back pain or specific subgroups? Discussion of a new model.
OUP 2020; 9: 285–292 DOI 10.3238/oup.2020.0285–0292
Westmecklenburg Klinikum Helene von Bülow, Krankenhaus Hagenow
Einführung
Die Klassifikation von Rückenschmerzen in spezifische und nicht spezifische Schmerzen ist über 20 Jahre alt. Ausgangspunkt dieser Klassifikation waren Studien, die zeigten, dass nur eine Minderheit von Rückenschmerzen pathomorphologisch definierten Erkrankungen zuzuordnen ist (Tab. 1) [12].
Inwiefern diese als spezifisch bezeichneten Schmerzen wirklich auf die dargestellten pathomorphologischen Befunde zurückzuführen sind, ist zu hinterfragen. Klinisch sind z.B. osteoporotische Wirbelkörperfrakturen oft nicht schmerzhaft bzw. Schmerzen entstehen erst aufgrund sekundärer Funktionsstörungen. Das gleiche gilt für andere Erkrankungen bzw. Befunde (Abb. 1).
Befunde aus der funktionellen oder psychosomatischen Medizin bzw. neurophysiologische Veränderungen der Schmerzmodulation werden in das System spezifisch/nicht spezifisch hinsichtlich ihrer Spezifik bzw. in ihren Interaktionen als Ursache für Schmerzen nicht integriert. Es werden alle nicht (eindeutig) pathomorphologisch zuordenbaren Rückenschmerzen als nicht spezifisch klassifiziert. Bis heute existiert kein reliables und valides Klassifikationssystem für die nicht spezifischen Rückenschmerzen [24]. Zur Problematik, die Chronifizierung von Rückenschmerzen weder reliabel noch valide zu bestimmen zu können, tritt damit das differentialdiagnostische Problem der nicht einzuordnenden Befunde bzw. Befundkonstellationen. Auf dieser Grundlage sind weder valide epidemiologische [40] noch klinische Studien möglich.
Für die Klassifikation spezifisch/nicht spezifisch selbst existieren nach Kenntnis des Autors keine Daten zur Reliabilität oder Validität. Die Klassifikation kann als ein (weithin) akzeptierter, wenn auch umstrittener Expertenkonsens, jedoch nicht als ein wissenschaftlich etabliertes Instrument angesehen werden. Trotzdem wurden auf dieser Grundlage in Deutschland eine Nationale Versorgungsleitlinie zum nicht spezifischen Kreuzschmerz (NVL) und eine S2K-Leitlinie zum spezifischen Rückenschmerz erstellt [21, 23]. In der NVL Kreuzschmerz wird die Einteilung spezifisch/nicht spezifisch nicht diskutiert, sondern als gegeben angenommen. Es erfolgt keine Wichtung der Evidenz hinsichtlich der Grundannahme der Leitlinie. Die S2K-Leitlinie spezifischer Rückenschmerz kontrakariert die Klassifikation vollends. War ein ursprüngliches Ziel der Klassifikation spezifisch/nicht spezifisch die Schärfung des Bewusstseins für die Schwierigkeit die Mehrzahl der Rückenschmerzen mit der herkömmlichen Diagnostik und Therapie zu erfassen, werden in der S2K-Leitlinie Einzelbefunde (z.B. Blockierung, Fazettenarthrose) wider besseres Wissen zu spezifischen Schmerzursachen.
Interpretiert man die Klassifikation spezifisch/nicht spezifisch positiv, ist sie ein (gescheiterter) Versuch, mit monokausalen Erklärungsmodellen und resultierenden Diagnostik- sowie Therapieansätzen aufzuräumen. Die Mehrzahl der Schmerzen des Bewegungssystems lassen sich nicht durch eine bildmorphologisch sichtbare Diagnose erklären. Vielmehr ist bei der absoluten Mehrzahl, auch bei als spezifisch klassifizierten Schmerzen, das Zusammenspiel verschiedenster Faktoren für die Schmerzentstehung und Chronifizierung ursächlich. Bei spezifischen Schmerzen steht möglicherweise zur Diagnosestellung der spezifische pathomorphologische Befund im Mittelpunkt, dieser ist jedoch in der Regel nicht alleinig therapierelevant. Nimmt man die positive Interpretation des Systems spezifisch/nicht spezifisch ernst, wäre damit zumindest für die nicht spezifischen Schmerzen des Bewegungssystems der Weg für eine echte interdisziplinäre Diagnostik, Subgruppeneinteilung und spezifische, ggf. multimodale interdisziplinäre Therapie bereitet (siehe auch Beitrag J. Schulz, Seite 295, und J. Emmerich, Seite 309). Dies, insbesondere die Suche nach Subgruppen, findet jedoch mit wenigen Ausnahmen nicht statt. Wichtige Ausnahmen sind die Patientenauswahl für die Therapieprogramme auf der Basis der „functional restoration“ (dysfunktionale Kognitionen [25] und die Auswahl von Patienten für die multimodale Komplextherapie der Bewegungssystems (Funktionserkrankungen des Bewegungssystems) [11, 41]. Ansonsten gilt, dass Patienten das bekommen, was es gibt. Die Diagnostik und Therapie ist nicht abhängig von der Befundkonstellation, sondern von der behandelnden Abteilung/Praxis [10].