Übersichtsarbeiten - OUP 05/2020
Nicht spezifischer Rückenschmerz oder spezifische Subgruppenbildung?Diskussion einer Modellbildung
Die interagierenden primären Störungen resultieren bei Überschreitung der Kompensationsmöglichkeiten in sekundären, Nozizeption auslösenden Funktionsstörungen (potentielle Gewebeschädigung) und ggf. pathomorphologischen Veränderungen. Eine Nichtkongruenz zwischen tatsächlicher und antizipierter Afferenz ist ein weiterer potentiell nozizeptiver Reiz für das ZNS. Die Nozizeption kann Schmerzen auslösen sowie zu Veränderungen in der neurophysiologischen Modulationsfähigkeit führen (s.o.). Schmerz selber führt wiederum zu komplexen Verhaltensreaktionen.
In diesem Modell bilden also die primären und sekundären Funktionsstörungen des Bewegungssystems zusammen mit anderen Einflussfaktoren die Grundlage für das „sozialmedizinische Problem Rückenschmerz“. Primäre Funktionsstörungen sind dabei Störungen, die entweder die Belastbarkeit in einer Struktur vermindern bzw. deren Belastung erhöhen (z.B. Koordinationsstörungen, Dekonditionierung). Sekundäre Störungen sind die Ergebnisse der Diskrepanz zwischen Belastung und Belastbarkeit und rufen Nozizeption hervor und führen zu Dysbalancen (z.B. Verspannungen, Triggerpunkte (TRP), Abb. 9).
Funktionserkrankungen des Bewegungssystems werden als gesundheitliche Störungen, bei denen Funktionsstörungen des Bewegungssystems die Ursache/Haupteinflussfaktoren von Funktions-, Aktivitäts- und Partizipationsbeeinträchtigungen und/oder Schmerzen sind, definiert. Morphologische und psychosoziale Faktoren sowie Veränderungen in der neurophysiologischen Modulation der Nozizeption können relevant sein [33].
Einzelne Funktionsstörungen werden in der Regel gut kompensiert. Kommt es zur Überforderung der Kompensationsmechanismen, werden Funktionsstörungen symptomatisch, verursachen typische Leitsymptome (Schmerz, Bewegungs- und Partizipationsstörungen) und werden zur Funktionserkrankung. In der Regel sind Funktionserkrankungen selbstlimitierend und kurzlebig. Ausgeprägte/nicht beachtete primären Funktionsstörungen im Zusammenspiel mit anderen Faktoren, z.B. Veränderungen der neurophysiologischen Schmerzregulationsfähigkeit, autonome Dysbalancen oder psychosozialen Einflussfaktoren führt zu Rezidiven und zur Chronifizierung von Funktionserkrankungen des Bewegungssystems [32–34].
Subgruppenbasierte
Behandlungskonzepte
am Beispiel des
ANOA-Konzepts [32]
Das ANOA-Konzept (Arbeitsgemeinschaft nichtoperativer orthopädischer/manualmedizinischer Akutkrankenhäuser) wurde für die tertiäre Versorgung von Patienten mit Erkrankungen des Bewegungssystems entwickelt. Auf Grundlage einer interdisziplinären Differentialdiagnostik inklusive der Einbeziehung funktioneller, psychosozialer, morphologischer und neurophysiologischer Aspekte erfolgt eine Subgruppenbildung und Zuordnung von Patienten in verschiedene Therapiepfade. Das ANOA-Konzept ist eines der wenigen Konzepte mit einer Subgruppen-basierten Therapiesteuerung von Patienten mit Erkrankungen des Bewegungssystems [20]. Es wurde auf der Basis des Diagnostik- und Therapiekonzepts der Klinik für Manuelle Medizin in Kremmen/Sommerfeld entwickelt. Wesentliche Annahmen liegen diesem System zu Grunde:
Neben der chronischen Schmerzerkrankung des Bewegungssystems im Sinne der eigenständigen Schmerzerkrankung bestehen andere Entitäten bei denen funktionelle, psychosoziale und pathomorphologische Befunde relevant sind.
Funktionsstörungen des Bewegungssystems spielen in der Pathogenese von Schmerzen des Bewegungssystems und deren Chronifizierung eine wichtige Rolle.
Eine Subgruppenbildung auf Basis einer interdisziplinären Diagnostik, insbesondere der Funktionsdiagnostik, ist möglich.
Für die gebildeten Subgruppen können entsprechende Therapiekonzepte/Therapiepfade entwickelt werden.
In Studien konnten Behandlungskonzepte auf dieser Grundlage positiv evaluiert werden. Neben einer Schmerzlinderung konnte insbesondere die Funktionalität verbessert werden. Positive Effekte lassen sich auch im Langzeit-follow up nachweisen [11, 38, 39, 41].
Im Gegensatz hierzu führen Behandlungskonzepte, die von monokausalen Zusammenhängen ausgehen, zu negativen Ergebnissen, z.B. zur Schmerzgeneralisierung, Zunahme von Chronifizierung sowie hoher Inanspruchnahme medizinischer Leistungen [28, 29, 35].
Um Patienten im Vorfeld zu selektieren, wurde im Schmerz- und Rückenzentrum am Westmecklenburg Klinikum Helene von Bülow ein Triagesystem für zugewiesene Patienten entwickelt (Abb. 10). Entsprechend der Triage erfolgt die Zuordnung der Patienten in spezifische Diagnostik- und Therapieangebote.
Im Rahmen der multimodalen Komplextherapie des Bewegungssystems ist ein standardisiertes Assessment obligat (siehe OPS 8–977). Mit dem Sommerfelder Diagnostik System (SDS) wurde ein Expertenrating für die Tertiärversorgung entwickelt und evaluiert [36, 37]. Die Evaluation erfolgt im Rahmen eines Ratings von 0–3 für 4 Befundebenen, zuzüglich der Chronifizierung von Schmerz und relevanten Komorbiditäten.
Folgende Befundebenen werden in das SDS einbezogen:
Morphologische Befundebene
Funktionelle Befundebene
Regionale Befunde
Bewegungsmusterstörungen/Koordinationsstörungen
Vegetative Störungen
Psychische Befundebene
Soziale Befundebene
Neben der quantitativen und qualitativen Befunderhebung erfolgt die Bewertung der Befunde auf ihre Relevanz für das bestehende Krankheitsbild.
Das interdisziplinäre Assessment im Rahmen des ANOA-Konzeptes erfolgt durch die Zusammenarbeit verschiedener Fachdisziplinen. Folgende Fachdisziplinen sind im Rahmen des Assessment empfohlen:
Arzt mit Zusatzqualifikation Manuelle Medizin/bei der Erbringung Schmerztherapeutischer Leistungen auch spezielle Schmerztherapie
Psychologe
Physiotherapeut mit Weiterbildung Manuelle Therapie
Pflege
Neben der Anamnese und klinischen Befunderhebung werden im Rahmen des Assessments die Vorbefunde gesichtet und bewertet, ggf. weitere diagnostische Verfahren veranlasst und die Funktionsdiagnostik durch apparative Verfahren der Funktionsdiagnostik, z.B. Ergometrie, Gang- und Bewegungsanalysen und Kraftanalysen unterstützt [2, 30, 31].
Auf Grundlage des Assessments werden Patienten in verschiedene Therapiepfade eingeordnet. Die Zuordnung erfolgt anhand der Befundlage bzw. der Befundkombination. Innerhalb der Therapiepfade werden weitere Subgruppen gebildet, um eine möglichst passgenaue individuelle Therapie für jeden Patienten darzustellen. Siehe auch Beitrag J. Emmerich in diesem Heft.
In ANOA-Zentren mit dem gesamten Spektrum von Diagnostik- und Therapiemöglichkeiten, werden Patienten anhand ihrer Befundlage auf die geeigneten Behandlungssettings verteilt (Abb. 11). Die Zuordnung zur teilstationären bzw. stationären Schmerztherapie erfolgt anhand von aufgestellten Kriterien [5, 27] (Tab. 2).
Die konzeptuelle Arbeit führte letztendlich zur Anerkennung des ANOA-Konzeptes und die Aufnahme der multimodalen Komplexbehandlung des Bewegungssystems in das Finanzierungssystem für Krankenhäuser in Deutschland durch das INEK-Institut mit einer eigenen OPS-Ziffer (8–977). Des Weiteren wurde mit dem Medizinischen Dienst der Krankenkasse (MDK, SEG 4) ein Prüfleitfaden für die Komplexbehandlung entwickelt und publiziert [4, 22]. Um die strukturelle und die Ergebnisqualität des ANOA-Konzeptes sichern zu können, wurde in Kooperation mit Certcom ein Qualitätssiegel entwickelt und in die Praxis eingeführt.