Arzt und Recht - OUP 10/2012
Straf- und Haftungsfalle: Befunderhebungspflicht auch auf fremdem Fachgebiet
1. Der Arzt darf sich im Rahmen der Anamnese auf die tatsächlichen Angaben des Patienten verlassen. Das OLG München4 bestätigte dies unter der Maßgabe, dass kein Verdacht für die Unrichtigkeit der Angaben des Patienten besteht. Nur wenn die Angaben des Patienten eindeutig (wie in obigem Fall nicht) und zweifelsfrei (wie in obigem Fall ebenfalls nicht) sind, muss der Arzt keine weitergehende Befragung durchführen. Nicht überraschend ist in diesem Zusammenhang die Feststellung des OLG Koblenz, dass der Arzt sich nicht auf laienhafte „Diagnosen“ und vermeintliche berufsbedingte Sachkunde von Patienten verlassen darf.
2. Die Anamnese hat im Hinblick auf die vom Patienten geschilderten Beschwerden so umfassend wie möglich zu erfolgen. Das OLG Düsseldorf5 stellte hierzu fest, dass sämtliche Hintergründe der Befindlichkeitsstörungen näher zu erfragen und abzuklären sind. Der Arzt muss die Umstände so vollständig wie möglich (Beginn, Dauer, Verlauf, Vorgeschichte bzw. mögliche Ursache, Patientengewohnheiten) erfragen.
3. Auch jenseits der Fachgebietsgrenze wird von dem Arzt eine (Veranlassung der) Befunderhebung erwartet, jedoch lediglich eingeschränkt auf die vorausgesetzten Kenntnisse und Fähigkeiten. Diese Einschränkung jenseits der Fachgebietsgrenze ergibt sich schon aus der oben dargestellten BGH Rechtsprechung, die auf „Zufalls“-Befunde abstellt, denen gegenüber der Arzt seine Augen nicht verschließen darf. Die Erkennbarkeit abklärungsbedürftiger Umstände jenseits der Fachgebietsgrenzen dürfte an dem durch das Medizinstudium vermittelten Wissen unter Berücksichtigung der allgemeinen Weiterbildungspflichten zu messen sein. Welche Einschränkungen sich nach der bisher von der Rechtsprechung entwickelten allgemeinen Formel im Einzelfall aus der „berufsfachlichen Sicht des Fachgebietes“ und den „im Fachbereich vorausgesetzten Kenntnissen und Fähigkeiten“ ohne Haftungsgefahr ergeben (dürfen), muss jedoch von einem Sachverständigen für den Zeitpunkt der streitigen Anamnese festgestellt werden.
Der Facharzt, der eine umfassende Anamnese erhebt und zuvor seinen Weiterbildungspflichten nachgekommen ist, kann (anders als der Orthopäde im oben beschriebenen Fall) im Streitfall gute Gründe vorbringen, falls fachgebietsfremde Abklärungsbedürfnisse für ihn nicht erkennbar waren. Jedenfalls ist die Anamnese möglichst genau zu dokumentieren, um sich gegebenenfalls nicht abwendbarer Beweislasten entledigen zu können.
Korrespondenzadresse
RA Dr. Christoph Osmialowski
Kanzlei für ArztRecht
Fiduciastraße 2, 76227 Karlsruhe
kanzlei@arztrecht.org
www.arztrecht.org
Fussnoten
1 Az. 5 U 857/11.
2 Az. VI ZR 284/09.
3 vgl. bereits BGH, Urteil vom 21.09.1982, Az. VI ZR 302/80, ArztRecht 1983, 60 und BGH, Urteil vom 03.02.1987, Az. VI ZR 56/86, ArztRecht 1987, 279.
4 Urteil vom 10.08.2006, Az. 1 U 2438/06.
5 Urteil vom 15.05.1997, Az. 8 U 115/96.