Übersichtsarbeiten - OUP 05/2020

Subgruppenspezifische Psychotherapie in der Behandlung von chronischen Schmerz- und Funktionserkrankungen

Jane Henny Schulz

Zusammenfassung:
Chronische Schmerzen und Funktionserkrankungen des Bewegungssystems sind in der deutschen Bevölkerung weit verbreitet. Um bei komplexeren Schmerzsyndromen eine adäquate Behandlung zu gewährleisten, ist eine multimodale Diagnostik erforderlich, um nach dem bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell einen individualisierten Therapieplan erstellen zu können. Häufig lassen sich komorbid zu den chronischen Schmerzsyndromen psychische Störungen feststellen. Die Behandlung der psychischen Störung sollte zwingend in der Therapieplanung berücksichtigt werden, um einen langfristigen Behandlungserfolg zu erzielen. Empfehlenswert ist, die Patienten in Subgruppen zu differenzieren, sodass eine gezielte Behandlung umgesetzt werden kann.

Schlüsselwörter:
Psychische Komorbidität, multiprofessionell, chronischer Schmerz, individualisierte Behandlung

Zitierweise:
Schulz JH: Subgruppenspezifische Psychotherapie in der Behandlung von chronischen Schmerz- und Funktionserkrankungen. OUP 2020; 9: 295–299 DOI 10.3238/oup.2020.0295–0299

Summary: Chronic pain and functional diseases are a widespread phenomenon in the German population. In order to ensure adequate treatment, multimodal diagnostics initially needed to create an individualized therapy plan according to the bio-psycho-social disease model. Chronic pain syndromes and psychological disorders can often be diagnosed as comorbidities. The treatment of a mental disorder should be considered in the establishment of a therapy plan, to achieve positive long-term effects from the treatment. Therefore, a differentiation of patients into subgroups could offer the implementation of selective treatments.

Keywords: mental comorbidity, multi-professional, chronic pain, individualized treatment

Citation: Schulz JH: Subgroup-specific psychotherapy in the treatment of chronic pain and functional diseases. OUP 2020; 9: 295–299 DOI 10.3238/oup.2020.0295–0299

Westmecklenburg Klinikum Helene von Bülow, Hagenow

Nahezu jede 5. Person leidet in Deutschland an chronischen Schmerzen. Chronischer Schmerz wird als multidimensionales psychisches und somatisches Phänomen betrachtet [20, 26]. Die enge Verzahnung zwischen seelischen und körperlichen Faktoren wird deutlich. Daher ist bei komplexeren Erkrankungen die multimodale Diagnostik und Behandlung entsprechend dem bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell im ANOA-Konzept sinnvoll [1, 12]. Schmerzmediziner, Psychotherapeuten sowie Physiotherapeuten arbeiten eng zusammen, um dem Patienten eine befundorientierte individuelle Behandlung zu ermöglichen. Die Differenzierung der Patienten in unterschiedliche Subgruppen ermöglicht eine zielgerichtete und wirtschaftliche Behandlung, da Mechanismen-basiert gearbeitet werden kann [5].

Relevanz der Psychotherapie in der Behandlung von
chronischen Schmerzen und Funktionserkrankungen

Unterschiedliche psychische Faktoren, wie z.B. Angst oder Katastrophisierung, modulieren die Schmerzen und beeinflussen, wie diese beim Betroffenen wahrgenommen und verarbeitet werden [14]. Nur in seltenen Fällen ist die ausschließlich psychotherapeutische Behandlung bei chronischen Schmerzen wirksam. Vor allem die kombinierte Therapie im multiprofessionellen Team ist bei chronischen Schmerzen effektiv [4]. Besonders bei Rückenschmerzen, die den häufigsten Grund chronischer Schmerzen darstellen [8], haben sich psychotherapeutische Behandlungen als wirkungsvoll erwiesen [23]. Häufig stehen chronische Schmerzpatienten einer psychotherapeutischen Behandlung skeptisch gegenüber, da die Schmerzen oft auf somatische Faktoren zurückgeführt werden [22]. Hier ist es wichtig, schon zu Beginn der Therapie, durch die Vermittlung des bio-psycho-sozialen Krankheitsmodells, die Motivation der Patienten mit einem Psychotherapeuten zu arbeiten, zu erhöhen [20].

Häufig kommt die kognitive Verhaltenstherapie bei chronischem Schmerz zum Einsatz, da diese einer symptombezogenen Vorgehensweise nachgeht. Auch psychodynamische Verfahren werden eingesetzt [20, 23]. Unterschiedliche Therapien haben ihre Daseinsberechtigung, da sie auf verschiedene Schwerpunkte abzielen (Abb. 1). Die Auswahl des Verfahrens bzw. der Methode muss auf die entsprechende Zielsetzung abgestimmt werden (Tab. 1). Die Unterteilung in mehrere Subgruppen ermöglicht dem Therapeuten eine Orientierung hinsichtlich des zu erreichenden Behandlungszieles, welches mit dem Patienten gemeinsam festgelegt wird [20].

Auch Nickel [20] fordert auf, „nicht alle (chronischen Schmerzpatienten) in einen Topf“ zu werfen. Um der Heterogenität der chronischen Schmerzpatienten gerecht zu werden, ist ein differenzierter Zugang, der die Mechanismen der Schmerzstörung bzw. der Schmerzentstehung und Chronifizierung in den Fokus rückt, sinnvoll [4, 20]. Eine Mechanismen-bezogene psychotherapeutische Behandlung erfordert die nähere Betrachtung der ätiologischen Faktoren [14]. Hier bietet sich wiederum eine Einteilung in Subgruppen an, um eine individuellere Behandlung zu ermöglichen. Wesentliche Grundlage für die Einteilung in unterschiedliche Subgruppen ist eine differenzierte psychologische Diagnostik (psychologische und biografische Anamnese) sowie der Einsatz von psychologischen Testverfahren [2, 22]. Diverse Faktoren wie Konflikte, gegenwärtige Belastungen sowie traumatische Ereignisse können identifiziert werden [26].

Chronische Schmerzpatienten weisen häufig eine psychische Komorbidität auf. In mehreren Studien lässt sich ein hoher Anteil von strukturellen Störungen aufweisen: Depression, Angststörung und Abhängigkeitserkrankungen. Auch posttraumatische Belastungsstörungen, somatoforme- und Persönlichkeitsstörungen treten gehäuft auf [7, 26]. Die Einteilung der Subgruppen erfolgt in diesem Beitrag anhand der häufigsten komorbiden Störungen. Die Behandlung der psychischen Komorbidität ist neben der körperlichen Aktivierung wesentliches Kriterium für einen langfristigen Therapieerfolg und eine günstige Prognose [21]. Daher ist es nicht selten, dass eine weiterführende ambulante Psychotherapie nach dem (teil-)stationären Aufenthalt empfohlen wird. Das gemeinsame Ziel aller Behandler stellt die Anhebung der Schmerzschwelle dar [4]. Die Psychotherapie kann den Patienten dabei unterstützen, den Umgang mit den Schmerzen dauerhaft zu erleichtern [11].

Rolle der (psycho-
therapeutischen) Edukation

Um die Schmerzschwelle anzuheben, ist die Modulation von individueller Bewertung und Bedeutung der Schmerzen essentiell [26]. Daher ist es empfehlenswert, dass alle Subgruppen von chronischen Schmerzpatienten die schmerzrelevanten Informationen im Rahmen von Edukationen erhalten, welche dann ggf. in den psychotherapeutischen Einzelsitzungen weiter vertieft werden können. Durch die Vermittlung der Informationen, wird es den Patienten erleichtert, das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell anzunehmen und so auch die Motivation für eine psychotherapeutische Behandlung erhöht [4, 26]. Besonders bei chronischen Schmerzpatienten ist die Wirksamkeit der Edukation gut. Auch bei Patienten, die keine psychische Komorbidität aufweisen, lassen sich oft dysfunktionale Kognitionen bezüglich Copingstrategien und/oder Selbstwirksamkeitserwartungen feststellen wie z.B. „Ich kann nichts gegen meinen Schmerz tun“. Bei vielen Patienten kann schon durch die Vermittlung der Informationen ein Umdenken erreicht werden, das zu einer Schmerzreduktion führt [20]. Zudem bietet die Einteilung in Subgruppen die Möglichkeit der thematischen Spezifizierung.

Chronischer Schmerz und affektive Erkrankungen und/oder Angststörungen

SEITE: 1 | 2 | 3