Übersichtsarbeiten - OUP 05/2022

Arthrose – Klinische Aspekte, neurogene Schmerzverstärkung und neurologische Komorbidität

Rolf Malessa, Wolfram Kluge

Zusammenfassung:
Die Arthrose unterliegt komplexen pathogenetischen Einflüssen. Eine Diskrepanz zwischen Arthroseschwere und Schmerzausprägung, eine ungewöhnliche Symptomkombination oder unerwartete Therapieresistenz erfordern oft neue und interdisziplinäre diagnostische und therapeutische Ansätze. Das Verständnis neurogener Sensitivierungsprozesse erlangt dabei zunehmende Bedeutung. Durch eine gemeinsame neurologisch-orthopädische Aufarbeitung können die verschiedenen Faktoren der Arthrose- und Schmerzentstehung besser differenziert werden, um auch in scheinbar therapieresistenten Fällen eine Linderung zu erreichen, Operationen, wo möglich, zu vermeiden und eine Schmerzchronifizierung zu verhindern.

Schlüsselwörter:
Arthrose, neurogene Sensitivierung, neuropathischer Gelenkschmerz, neurologisch-orthopädische Arthrosetherapie, interdisziplinär

Zitierweise:
Malessa R, Kluge W: Arthrose – Klinische Aspekte, neurogene Schmerzverstärkung und
neurologische Komorbidität
OUP 2022; 11: 201–207
DOI 10.53180/oup.2022.0201-0207

Summary: Arthritis and its symptoms are triggered by multifactorial pathogenetic mechanisms. Pain expressed by patients does not always relate to orthopaedic diagnostic findings and therapeutic management might be unsuccessful. Multidisciplinary diagnostic evaluation promotes a better understanding of neuroinflammation and chronic pain developing via central sensitization in patients suffering from arthritis. This paper illustrates our neuro-orthopaedic approach to cases apparently not responding to conventional treatment. Thereby, we hope to avoid potentially unsuccessful surgery and development of chronic pain.

Keywords: Arthritis, central sensitization, neuropathic joint pain, neuro-orthopedic therapy, multidisciplinary approach

Citation: Malessa R, Kluge W: Osteoarthritis – Clinical aspects, neurogenic pain and neurological comorbidity
OUP 2022; 11: 201–207. DOI 10.53180/oup.2022.0201-0207

R. Malessa, W. Kluge: Neurologisch-Orthopädische Nervenschmerz-Spezialstation (NONPain-Unit), Sophien- und Hufeland-Klinikum Weimar

Einleitung

Dieser Artikel soll wichtige klinische Aspekte der Arthrosebehandlung zusammenfassen und auf die therapeutische Bedeutung neurogener Sensitivierungsprozesse eingehen, die auf den Arthroseschmerz erheblichen Einfluss nehmen können. Dabei greifen die Autoren sowohl auf neuere Kenntnisse zur Pathogenese der Arthrose zurück, als auch auf ihre klinischen Erfahrungen, die sie in der interdisziplinären Zusammenarbeit auf der Neurologisch-Orthopädischen Nervenschmerz-Spezialstation (NONPain-Unit) am Sophien- und Hufeland-Klinikum Weimar in den letzten 10 Jahren sammeln konnten.

Bei deutlicher Diskrepanz zwischen Arthroseschwere und Schmerzausprägung oder ungewöhnlicher Symptomkombination sowie in Fällen mit unerwarteter Therapieresistenz eröffnet der interdisziplinäre Blick oft neue diagnostische und therapeutische Ansätze. Für Patienten kann sich dadurch auch nach längerem Leidensweg doch noch eine Klärung und Linderung der Beschwerden ergeben, was überdies dem natürlichen Kausalitätsbedürfnis entgegenkommt und das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient stärkt. Häufig können dann herkömmliche Analgetika eingespart oder unnötige Operationen vermieden werden. Gerade das Erkennen und die gezielte Behandlung einer neuropathischen Schmerzkomponente bieten vielfältige Möglichkeiten der Behandlungsoptimierung, auf die im zweiten Teil dieses Artikels eingegangen werden soll.

Klinisch relevante Aspekte aus orthopädischer Sicht

Arthrose kann bisher nicht durch Wiederherstellung normaler Gelenkphysiologie therapiert werden. Versuche der Eindämmung von Schmerz, Instabilität oder Bewegungseinschränkung ruhen auf den Säulen der operativ fusionierenden/mobilisierenden Gelenkentfernung bzw. des künstlichen Teilersatzes und der konservativen Behandlung. Die Einschränkungen der Lebensqualität durch Arthrose werden damit erträglich. Schmerzmittel und nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) sind Medikamente mit nachgewiesener lindernder Wirkung. Physiotherapeutische Behandlungen, gelenknahe Injektionen mildern ebenso wie Orthesen die Beschwerden.

2018 haben Steinmeyer et al. [14] an dieser Stelle eine ausführliche Darstellung der medikamentösen Therapie der Gonarthrose mit Bezug zu den aktuellen Leitlinien veröffentlicht, welche prinzipiell für andere Gelenke übernommen werden kann und heute unverändert gültig ist.

Gelenkknorpel kann sich selbst nicht defektfrei erneuern – so unsere bisherige Lehrmeinung. Die aktuelle Grundlagenforschung vermittelt immer wieder Hoffnung auf Eigenregeneration spezifischer Knorpel. Untersuchungen zum Proteinumsatz im Knorpel zeigen bspw. belastungs- und lageabhängige Gradienten mit dem höchsten Umsatz im Sprunggelenk, gefolgt vom Knie und am geringsten in der Hüfte [9]. Spektroskopische Untersuchungen der Autoren finden die stärksten Stoffwechselaktivitäten direkt unter der Knorpeloberfläche und dies vor allem bei arthrotisch geschädigtem Knorpel. Die Autoren schließen daraus, dass ein dynamischer Anabolismus der Extremitätenknorpel existiert, welcher Ausdruck eigenregenerativer Fähigkeit des menschlichen Knorpels ist. Eine leichte Entzündungsreaktion im minimal verletzten Gelenk kann Heilung des Knorpels fördern, langanhaltende starke Entzündung den Knorpel jedoch zerstören. Es ist bekannt, dass intraartikuläre Frakturen von einer fulminanten Synovialitis begleitet werden. Diese Immunantwort kann zur degenerativen Zerstörung des Gelenkes führen und wird durch Makrophagen (M1-Typ entzündungsfördernd und M2-Typ entzündungshemmend) moderiert [1]. Unterdrückung dieser starken Entzündungsreaktion bietet einen therapeutischen Ansatz zur Limitierung posttraumatischer Arthrose.

Genetische Disposition beeinflusst die Ätiologie der Arthrose. Eine tierexperimentelle Studie [12] konnte zeigen, dass regenerative oder degenerative Phänotypen existieren. Die Identifikation von Genen für regenerative Vorgänge im Knorpel könnte therapeutischen Nutzen erbringen. Wie diese wenigen ausgewählten Beispiele zeigen, vermittelt die Forschung zwar immer neue Erkenntnisse zur Ätiologie und Pathogenese der Arthrose, doch zeichnen sich aktuell keine bahnbrechenden Verbesserungen der Arthrosetherapie hin zu einem kausalen Ansatz ab.

Die Phase zwischen milden degenerativen Veränderungen und dem operativ erfolgreich zu behandelnden Endstadium der fortschreitenden Arthrose stellt eine Herausforderung für Ärzte und Patienten dar. Vor der Entscheidung zu einer Operation müssen differenzialdiagnostisch mögliche Schmerzverstärkungen durch sich überlagernde Krankheitsbilder ausgeschlossen werden. Dafür ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit nach unserer Erfahrung außerordentlich hilfreich. Ein Fallbeispiel, dass die komplexen Verknüpfungen muskuloskelettaler mit nervalen Pathologien verdeutlichen soll, findet sich im vorletzten Abschnitt des Textes.

Auch wenn die Entscheidung zur Operation gefallen ist, sollte psychischen Komorbiditäten besondere Beachtung geschenkt werden. Xiao et al [15] konnten zeigen, dass eine gezielte psychologische Intervention in der perioperativen Phase der Knieendoprothetik bei depressiven Patienten nicht nur zu signifikant höherer Patientenzufriedenheit führt, sondern auch zu objektiv besseren Ergebnissen. In der orthopädischen Sprechstunde stellen sich nicht selten Menschen vor, die ihr Arthroseleiden als primär ursächlich für eine ihnen ausweglos erscheinende Lebenssituation interpretieren. Die subjektiv überhöhte Bedeutung des Arthroseleidens kann in solchen Fällen tatsächlich zu einer Schmerzverstärkung beitragen und den Wunsch zu einer Operation bestärken. Auch in derartigen Fällen kommt einer psychologischen Intervention eine besondere Bedeutung zu und kann mitunter den dringenden Wunsch zu einer Operation relativieren.

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