Übersichtsarbeiten - OUP 05/2022
Arthrose – Klinische Aspekte, neurogene Schmerzverstärkung und neurologische Komorbidität
Nicht unerwähnt bleiben sollen auch seltene Fälle, in denen psychologische Faktoren in besonderer Weise zu einer Fehlinterpretation der Befundlage führen können. So wurde uns eine Patientin fachärztlich zur Arthroskopie vorgestellt wegen einer vermeintlich sekundär infizierten posttraumatischen Gonarthrose. Bei der klinischen Aufnahmeuntersuchung zeigten sich bei ihr jedoch außer großen, um die Kniescheibe verteilten Hämatomen keine pathologischen Veränderungen des Gelenkes. Eigenanamnestisch sei das Gelenk seit einem mehrere Monate zurückliegenden Bagatelltrauma (Arbeitsunfall: Anstoßen an einer Türe) unverändert schmerzhaft bewegungseingeschränkt. Zwei ambulant durchgeführte MRT zeigten keine Binnenpathologie. Eine Vielzahl physiotherapeutischer Behandlungen blieb erfolglos. Klinisch ergab sich bei nur äußerlich geschädigtem Gelenk der Verdacht auf wiederholte Selbstverletzungen. Eine psychosomatische Vorstellung und Behandlung führte letztlich zur vollständigen Heilung.
Bemerkenswert ist, dass manche Patienten mit dem fachärztlichen Rat, ihre Arthrose konservativ und nicht wie erwartet operativ zu behandeln, unzufrieden sind. Dies kann mitunter in dem Vorwurf der Inkompetenz gipfeln.
Bereits leichter Arthroseschmerz wird gelegentlich gleich mit Krankheit assoziiert. Für Krankheit bietet die moderne und ökonomisierte Medizin die vielfach propagierte Aussicht auf Heilung, besonders schnell und gründlich durch operativen Ersatz des verschleißenden Körperteiles [11]. So die Meinung bspw. auch der Menschen, die den selektiven endoprothetischen Teilersatz des nur unikondylär arthrotischen Kniegelenkes ablehnen und stattdessen gleich die „richtige“ Totalendoprothese fordern. Diesem mechanistischen Denken nachzugeben, erscheint vielleicht manchmal einfacher und für den Patienten subjektiv zielführend. Hier gilt es jedoch, sich Zeit zu nehmen und in einem ruhigen Gespräch die Begründung für ein konservativeres Vorgehen ausführlich darzulegen. Dies ist allemal weiser, als der Griff nach der vermeintlich schnelleren umfassenden chirurgischen Lösung. Zumal schlechte Ergebnisse rekonstruktiver Chirurgie statistisch am deutlichsten mit der Anzahl vorangegangener Eingriffe am gleichen Körperteil assoziiert sind [10, 13].
Je nach Patientenklientel kann aber auch eine unbegründete Zurückhaltung gegenüber chirurgischer Intervention im Vordergrund stehen. Als Beispiel sei ein durch beidseitige ankylosierende Coxarthrose an Gehstützen gebundener kreislaufgesunder Akademiker mittleren Alters genannt, der sich unermüdlich von stationärer Schmerztherapie zu psychologischer Beratung und wieder zurück hangelte. Er war getrieben durch seine Angst vor der Endoprothetik, die sich aus zahlreichen medizinkritischen Artikeln nährte und durch seine Skepsis gegenüber Ärzten, die die schmerzhafte Bewegungseinschränkung seiner Hüften zunächst fehlinterpretiert hatten.
Neurogene
Schmerzverstärkung und neurologische Komorbidität
Bei ungewöhnlicher Diskrepanz zwischen dem Ausmaß der Gelenkveränderungen und der geschilderten Schmerzintensität oder bemerkenswerter Therapieresistenz können selbst für den erfahrenen Kliniker große Schwierigkeiten bestehen, die zugrundeliegenden Schmerzursachen zu interpretieren und im Einzelnen zuzuordnen. Liegt eine Komorbidität oder gar eine völlig andere Genese vor? Oder ist der Patient einfach sehr empfindlich, besteht eine funktionelle Komponente oder gar ein Rentenbegehren?
Heute wissen wir, dass in einem relevanten Anteil dieser Fälle differenzialdiagnostisch eine neuropathische Schmerzverstärkung in Frage kommt. Neuere Studien legen nahe, dass bei mehr als 25 % der Patienten mit Coxarthrose und bei sogar mehr als 30 % (- 68 %) der Patienten mit Gonarthrose eine bedeutsame neuropathische Schmerzkomponente vorliegt.
Eine mögliche Ursache ist die lokale Sensitivierung von Nervenstrukturen durch neurovaskuläre Entzündungsreaktionen im Gelenk. Die Schmerzschwelle wird entsprechend gesenkt, sodass vermehrte, mitunter sogar spontane Schmerzimpulse zum Rückenmark geleitet werden und dort eine neuronale Hyperexzitabilität induzieren. Inhibitorische Interneurone auf Rückenmarksebene und das deszendierende inhibitorische System werden durch den vermehrten nozizeptiven Input letztlich dysfunktional mit weiterer Disinhibition und Verstärkung der zentralen Sensibilisierung. Mechanische Allodynie und Hyperalgesie im betroffenen Areal sind die klinische Folge. Das schmerzhafte Areal kann sich dadurch klinisch sogar über das Innervationsgebiet der primär geschädigten Nervenfasern ausdehnen (sekundäre Hyperalgesie), was nicht selten zu Fehlinterpretationen führt und an der Glaubwürdigkeit der Beschwerdeschilderung zweifeln lassen kann. Dieser klinische Eindruck wird bei Vorliegen von psychischen Belastungsfaktoren oft noch bestärkt.
Die heute bekannte Schmerzmatrix des Gehirns umfasst diverse Areale vom Hirnstamm bis zum frontalen Kortex, die für die Schmerzbewertung, -intensivierung und -chronifizierung eine wichtige Rolle spielen. Insbesondere limbischen Arealen, die für die emotionale Schmerzqualität verantwortlich sind, kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu. Liegt eine emotionale Belastung vor, etwa durch Angst oder Depression, wird die Schmerzwahrnehmung i.d.R. verstärkt, Dabei handelt es sich aber nicht um eine „erhöhte Empfindsamkeit“ des Patienten, sondern, um eine tatsächlich verstärkte neuronale Aktivierung im Gyrus cinguli, in dem die Aversivität des Schmerzes codiert wird. Um ein Anspringen dieses Sensitivierungsnetzwerkes zu verhindern, sollten neuropathische Schmerzkomponenten möglichst frühzeitig detektiert und ungünstige emotionale Begleitfaktoren berücksichtigt und, wenn möglich, auch mitbehandelt werden. Die frühzeitige Diagnose und Anbehandlung ist der wichtigste Schutz vor Schmerzchronifizierung mit all ihren z.T. desaströsen Folgen für Arbeit, soziale Kontakte, Familie und Partnerschaft. Entsprechend sollte früh eine fachübergreifende Beurteilung durch Orthopäden, Schmerztherapeuten, Neurologen und ggfs. Psychologen erfolgen, um möglichst viele Einzelfaktoren, die zur Chronifizierung beitragen, zu identifizieren und eine individuelle angepasste Therapie abzustimmen oder eine multimodale Schmerztherapie zu ermöglichen.
Die Neigung zur Ausbildung neuropathischer Schmerzen nach Nervenschädigung ist bekanntermaßen selbst bei völlig identischem Schädigungsausmaß sehr unterschiedlich ausgeprägt – offenbar aufgrund einer spezifischen genetischen Disposition. Dies spiegelt sich auch in der interindividuell sehr unterschiedlichen Präsentation neuropathischer Schmerzkomponenten bei Arthrose wider. Dass neuropathische Sensitivierungen bei einem relevanten Anteil der Arthrosepatienten eine Rolle spielen, wurde bereits in der Multicenter Osteoarthritis Study (MOST) ausführlich dargestellt. Eine vermehrte Sensitivierbarkeit durch repetitive mechanische Reize und eine erniedrigte Druckschmerzschwelle bei Gonarthrose fanden sich signifikant assoziiert mit der Arthroseschmerzintensität, nicht jedoch mit der Dauer der Gonarthrose oder der radiologischen Ausprägung der Gelenkveränderungen. Eine neuropathische Sensitivierung bei Gelenkschmerz spiegelt demnach eine spezifische, am ehesten genetisch determinierte Eigenschaft des Betroffenen wider und ist primär keine Funktion der Arthroseschwere. Diese Erkenntnisse verändern zwangsläufig unseren klinischen Blick und Beurteilungsmaßstab.