Übersichtsarbeiten - OUP 05/2022
Arthrose – Klinische Aspekte, neurogene Schmerzverstärkung und neurologische Komorbidität
Wenn sich keine kausalen Therapieansätze ergeben, sollte bei Patienten, bei denen eine neuropathische Sensitivierung nachzuweisen ist, frühzeitig eine antineuropathische Medikation versucht werden. Die inzwischen doch recht vielfältigen medikamentösen Optionen finden sich mit ihren Dosierungen und klinisch relevanten Nebenwirkungen in Tabelle 1 aufgeführt (Tab. 1).
Dabei gehören Antikonvulsiva vom Kalziumskanal-Typ wie Pregabalin und Gabapentin zu den Medikamenten der ersten Wahl. Beide reduzieren den aktivierenden Kalziumeinstrom auf peripheren und zentralen nozizeptiven Neuronen [2]. Trizyklische Antidepressiva und selektive Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer wirken antinozizeptiv durch die Aktivierung absteigender noradrenerge inhibitorische Bahnen [7]. Darüber hinaus blockieren trizyklische Antidepressiva auch periphere Natriumkanäle und hemmen dadurch spontane ektopische Entladungen.
Beide Substanzgruppen werden oft als Co-Analgetika bezeichnet. Für die Behandlung neuropathischer Schmerzen sind Sie jedoch die am stärksten analgetisch wirksamen Medikamente, während übliche Nicht-Opioidanalgetika (NSAR, Cox-2-Hemmer, Paracetamol und Metamizol) keinen hinreichenden Effekt, aber ein erhebliches Nebenwirkungsspektrum (Blutungen, Nierenschäden etc.) aufweisen.
Diese Informationen sind für den Patienten sehr wichtig und sollten ihm vor Beginn der Behandlung in verständlicher Weise vermittelt werden. Er muss verstehen, warum er mit einem Epilepsiemittel und/oder einem Mittel gegen Depression behandelt wird und dass die ihm bekannten und bewährten Schmerzmittel bei dieser Schmerzart nicht hinreichend wirksam und nebenwirkungsträchtig sind. Darüberhinaus sind Patienten darauf hinzuweisen, dass je nach Ausprägung und Chronifizierungsgrad des neuropathischen Schmerzes eine Schmerzreduktion von >= 30 % ein realistisches therapeutisches Ziel darstellen und eine komplette Schmerzlinderung häufig nicht möglich sein wird. Ungewohnt ist für Patienten auch, dass sich ein analgetischer Therapieeffekt etwa bei Pregabalin erst nach 4-wöchiger Behandlung hinreichend sicher eingeschätzten lässt. Nebenwirkungen zeigen sich dagegen insbesondere zum Behandlungsbeginn, lassen im Verlauf aber oft nach oder können durch eine Dosisanpassung oder Medikamentenumstellung eliminiert werden. Sedierende, schlaffördernde und anxiolytische Nebeneffekte können dagegen durchaus erwünscht sein und therapeutisch genutzt werden [3].
Für Opioide ergibt sich insgesamt eine relativ schwache antineuropathische Evidenzlage. Tramadol und hochpotente Opioide kommen als Mittel der 3. Wahl in Betracht. Opioidtypische Nebenwirkungen, die Entwicklung einer Toleranz und die Dependenzgefahr müssen beachtet werden.
Bei ausgeprägter Symptomatik und Chronifizierungstendenz ist strategisch eine Kombinationsbehandlung anzustreben, um über unterschiedliche Mechanismen einen synergistischen Effekt zu erzielen. Dabei wird man versuchen, die jeweiligen Einzeldosierungen und somit auch die Nebenwirkungen möglichst niedrig zu halten.
Bei ausgeprägter lokaler Sensitivierung kann man in einigen Fällen auch durch die lokale Anwendung von hochkonzentriertem Capsaicin positive Effekte erzielen, die meist über ca. 2–3 Monate, vereinzelt aber auch über mehr als 6 Monate anhalten [4]. Eine Wiederholung der Behandlung ist bei Bedarf möglich. Als off Label-Therapie kommt außerdem die lokale Anwendung eines 5 %igen Lokalanästhetika-Pflasters in Betracht [5].
Interdisziplinäres
Fallbeispiel
Abschließend soll anhand eines aktuellen Fallbeispiels die komplexe Interaktion zwischen Arthroseschmerzen und Nervenschmerz dargestellt werden. Der pflegerisch tätige junge Mann wurde wegen zunehmender Schmerzen und sensomotorischer Defizite sowie einer schmerzhaften Bewegungseinschränkung im linken Bein der hohen physischen und psychischen Anforderung in seinem Beruf nicht mehr gerecht. Die hausärztliche Untersuchung ergab eine fortgeschrittene Coxarthrose und eine diffuse Muskelschwäche des betroffenen Beines. Schließlich erfolgte aufgrund einer ausgeprägten Schmerzexazerbation im Bereich des linken Knies mit Schmerzausstrahlung in den linken lateralen Unterschenkel bis in die Digiti IV und -V die Vorstellung in der Notfallambulanz unserer Klinik. Zudem wurde über eine Schwäche im linken Knie geklagt. Neurologisch fand sich eine 4/5-Schwäche der Hüftbeuger, Hüftstrecker sowie Kniestrecker und -beuger linksseitig, wobei eine algogene Schmerzkomponente zusätzlich anzunehmen war. Darüber hinaus zeigte sich eine Fußsenker- und Zehensenkerschwäche links und eine Hypästhesie und Hypalgesie am linken lateralen Unterschenkel und an der lateralen Fußseite, die Digiti III und -IV einbeziehend. Kernspintomografisch ergab sich kein Hinweis auf eine relevante Kompression der L5– und/oder S1-Wurzel links. Es erfolgte eine stationäre neurologische Abklärung, bei der sich unter Berücksichtigung der elektrophysiologischen Befunde der V.a. eine Neuritis des Plexus lumbosacralis links ergab, sodass eine hochdosierte Methylprednisolonstoßbehandlung durchgeführt wurde mit prompter Regredienz der Schmerzen von VAS 9 auf VAS 3, was die Annahme einer immunvermittelten Plexusneuritis bestätigte. Nach einigen Monaten kam es erneut zu einer Schmerzverstärkung, die sich nun eindeutig auf das linke Hüftgelenk beziehen ließ mit Bewegungshemmung der Hüfte sowie Leisten- und Oberschenkelschmerzen, sodass der endoprothetische Ersatz des Hüftgelenkes vorgenommen wurde. Das operative Ergebnis entsprach nach Rekonvaleszenz den orthopädischen Erwartungen, doch kam es nicht zu der erhofften Schmerzfreiheit, vielmehr entwickelte sich ein tiefer, schlecht zu lokalisierender Beinschmerz mit Muskelschwäche, sodass an eine postoperativ getriggerte Reaktivierung der Beinplexusneuritis zu denken ist. Eine mechanische Irritation nervaler Strukturen konnte sicher ausgeschlossen werden. Entsprechend ist nun die neurologische Reevaluation ggf. mit einer erneuten immunmodulatorischen Therapie vorgesehen.
Resümee
Die Gemengelage ist zugegebenermaßen nicht ganz einfach. Unsere Patienten erwarten umfassendes ärztliches Verständnis und Fachkompetenz zur Beurteilung ihres Arthroseleidens. Dies erfordert ärztliches Einfühlungsvermögen und spezialisierte Sachkenntnis. Spezialisierung ist für den Behandler somit einerseits Voraussetzung, um spezifische Differenzialdiagnosen und Maßnahmen gegeneinander abzuwägen, sie birgt andererseits aber auch die Gefahr der fachspezifischen Fokussierung, die leicht den Blick über den Tellerrand hinaus verstellen kann. Patienten wiederum kann es kaum gelingen, den Dschungel der vielfältigen medizinischen Angebote zielgerichtet zu durchdringen.