Übersichtsarbeiten - OUP 05/2022
Arthroseschmerz
Hans-Georg Schaible, Annett Eitner
Zusammenfassung:
Arthroseschmerzen gehören zu den häufigsten chronischen Schmerzen. In der Regel handelt es sich um Nozizeptive Schmerzen als Folge von Entzündungs- und Schädigungsvorgängen, die mit der progressiven Knorpelschädigung verbunden sind. MRT-Untersuchungen des Gelenks können entzündliche Prozesse und Knochenmarködeme sichtbar machen. Histologische Untersuchungen der Synovialschicht bei Gelenkersatz zeigen unterschiedliche Synovitisgrade, die mit der Schmerzintensität korreliert sind. Chondrozyten des Arthrosegelenks können durch Freisetzung von Entzündungsmediatoren zur Gelenkentzündung beitragen. Typischerweise weist das gesamte Nozizeptive System eine gesteigerte Empfindlichkeit auf, das periphere und zentrale nozizeptive System einbeziehend (periphere und zentrale Sensibilisierung). Eine solche Sensibilisierung ist typisch für Entzündungsprozesse. Endogene Schmerzhemmung, z.B. die Aktivität vom Gehirn zum Rückenmark absteigender Hemmsysteme, kann bei Arthrose vermindert sein. Die periphere und zentrale Sensibilisierung kann durch Anamnese und Methoden der Quantitativen Sensorischen Testung (QST) dokumentiert werden. Ein Teil der Patienten zeigt zusätzlich Hinweise für neuropathische Schmerzkomponenten, die auf neuronale Schädigungen hindeuten, zumindest in Spätstadien der Erkrankung. Komorbiditäten wie Diabetes mellitus können die Schmerzintensität signifikant verstärken. Die Schmerztherapie zielt darauf, den Zustand der Sensibilisierung zu vermindern. Dies gelingt teilweise mit der Gabe von Cyclooxygenasehemmern, die die Prostaglandinsynthese reduzieren. Da jedoch andere Mediatoren, z.B. proinflammatorische Zytokine, ebenfalls sensibilisierend wirken, ist der Schmerz häufig mit COX-Hemmern alleine nicht zu beherrschen. Es ist zu beachten, dass chronischer Schmerz am besten mit einem biopsychosozialen Modell zu beschreiben ist. Daher sollten in der Schmerztherapie auch psychosoziale Faktoren berücksichtigt werden.
Schlüsselwörter:
Entzündung, neuropathischer Schmerz, Sensibilisierung, nozizeptives System
Zitierweise:
Schaible H-G, Eitner A: Arthroseschmerz
OUP 2022; 11: 208–213
DOI 10.53180/oup.2022.0208-0213
Summary: Osteoarthritis pain is among the most frequent chronic pains. In most cases the pain is nociceptive in its nature resulting from inflammatory and damaging processes which are associated with the progressive cartilage degeneration. MRI studies can visualize inflammatory processes and bone marrow lesions. Histological assessment of the synovial layer obtained during arthroplasty shows different grades of synovitis which are correlated with pain intensity. Chondrocytes of the osteoarthritic joint can contribute to joint inflammation by the release of inflammatory mediators. Typically the whole nociceptive system is in a state of hyperexcitability including the peripheral and central nociceptive system (peripheral and central sensitization). Such a sensitization is typical for inflammatory processes. Endogenous pain inhibition, e.g. the activity of inhibitory systems descending from the brainstem to the spinal cord, can be reduced in osteoarthritis. Peripheral and central sensiti-
zation can be documented by anamnesis and the methods of Quantitative Sensory Testing (QST). Part of the patients exhibit in addition neuropathic pain components which suggest neuronal damage, at least at later
disease stages. Comorbidities such as diabetes mellitus can significantly aggravate pain intensity. Pain therapy aims to attenuate the state of hyperexcitability. This is partly possible with the application of cyclooxygenase inhibitors which reduce prostaglandin synthesis. Since other mediators, e.g. proinflammatory cytokines also sensitize nociceptive neurons, the pain is often not sufficiently treated with COX inhibitors. It should be noted that chronic pain is best described by the biopsychosocial model. Therefore pain therapy should also address psychosocial factors.
Keywords: Inflammation, neuropathic pain, sensitization, nociceptive system
Citation: Schaible H-G, Eitner A: Osteoarthritis pain
OUP 2022; 11: 208-213. DOI 10.53180/oup.2022.0208-0213
H.-G. Schaible: Institut für Physiologie 1, Universitätsklinikum Jena
A. Eitner: Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie, Experimentelle Unfallchirurgie, Universitätsklinikum Jena
Einleitung
Arthroseschmerzen gehören zu den häufigsten chronischen Schmerzen [4]. Arthrose ist in der Regel eine progrediente Erkrankung mehrjähriger Dauer, eine kausale Therapie ist derzeit nicht möglich. Heilungen sind ausgeschlossen und es gibt bislang keine medikamentösen krankheitsmodifizierenden Ansätze. Daher kommt der Schmerzproblematik und Schmerztherapie eine erhebliche klinische Bedeutung zu. Viele Patienten können über Jahre erfolgreich gegen Schmerzen behandelt werden. Allerdings können sich die Schmerzen über die Zeit verstärken und in vielen Fällen nicht mehr ausreichend gelindert werden, sodass am Ende nur eine operative Behandlung der Arthrose (Gelenkersatz) zur Schmerztherapie bleibt. Durch die Operation werden die meisten Patienten schmerzfrei, jedoch treten bei 8–34 % der Patienten mit totaler Kniearthroplastik trotz gelungener Operation chronische post-chirurgische Schmerzen auf [30].
Wie entstehen Arthroseschmerzen? Diese Frage ist keinesfalls trivial, da die Arthrose ein sehr komplexer Krankheitsprozess ist. In den letzten Jahren ist es gelungen, etwas Licht in die Mechanismen des Arthroseschmerzes zu bringen. Dies hat bisher noch nicht zu wesentlichen Änderungen der Therapie geführt, lässt aber Hoffnung auf neue Ansätze der Schmerztherapie zu. Ein besseres Verständnis der Schmerzmechanismen ist eine wichtige Voraussetzung dafür, neue Therapieansätze zu entwickeln.
Das neue Bild der Arthrose und dessen Relevanz für
Arthroseschmerzen
Während im angelsächsischen Sprachraum eine Arthrose als Osteoarthritis bezeichnet wird, was die Arthrose als eine entzündliche Erkrankung erscheinen lässt, wird im deutschen Sprachraum in der Regel die Arthrose gegenüber der Arthritis als eine degenerative Erkrankung abgegrenzt. Inzwischen ist klar, dass auch degenerative Erkrankungen Entzündungskomponenten aufweisen (z.B. neurodegenerative Erkrankungen) und dass daher eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen degenerativen und entzündlichen Erkrankungen problematisch ist. So auch bei Arthrose. Das Hauptmerkmal der Arthrose ist der progrediente Untergang des Knorpels. Allerdings ist bei Arthrose das gesamte Gelenk erkrankt. Typisch sind eine subchondrale Knochensklerose, Os-
teophyten, und die betroffenen Gelenke weisen zahlreiche Entzündungskomponenten auf [7]. Die normalerweise einschichtige Synovialmembran ist häufig verdickt, von Entzündungszellen infiltriert, und das regelrechte subsynoviale Geflecht aus Kapillaren und Nervenfasern kann zumindest regional zerstört sein [8].
Während die klassische Röntgenaufnahme eine Arthrose anhand der Verschmälerung des Gelenkspalts und der Osteophyten identifiziert und eine Stadieneinteilung nach Lawrence-Kellgren erlaubt, zeigen bildgebende Verfahren, vor allem das MRT, Entzündungen (z.B. Hoffa-Synovitis, Effusions-Synovitis) und Knochenmarködeme in Arthrosegelenken [20]. Die histologische Untersuchung von Synovialgewebe aus Kniegelenken, die durch künstliche Gelenke ersetzt wurden, zeigte durchweg Synovitiden unterschiedlichen Grades. Hierbei war der Entzündungs-Score mit der Intensität des Arthoseschmerzes korreliert [9].
Die Beteiligung entzündlicher Veränderungen an der Pathogenese der Arthrose wird durch weitere Untersuchungen gestützt. Ein wesentlicher Zelltyp in der entzündeten Synovialschicht sind Makrophagen. Die meisten Makrophagen im erkrankten Gelenk haben sich aus Monozyten differenziert und sind eingewandert. Diese Makrophagen haben einen proinflammatorischen Phänotyp (M1) und sind gewebeschädigend. Es gibt aber auch geweberesidente synoviale Makrophagen, die unabhängig von den Monozyten sind, und eher einen antiinflammatorischen Phänotyp (M2) besitzen. Eine Charakterisierung der Makrophagen im Arthrosegelenk und deren Funktionen ist derzeit Gegenstand intensiver Untersuchungen [30].
Proinflammatorische Makrophagen sind neben anderen Zellen eine Quelle von Entzündungsmediatoren. Dazu gehören Prostaglandine (z.B. PGE2 und PGD2), diverse Zytokine (TNF, Interleukin-1ß, Interleukin-6, Interleukin-8) und reaktive Sauerstoffspezies (ROS), die für die Schmerzentstehung große Bedeutung haben [30].
In einem systematischen Übersichtsartikel [5] wurde untersucht, ob bei Patienten mit Kniearthrose Entzündungsprozesse mit Arthroseschmerzen korreliert sind. Hierbei wurden als Marker MRT-Befunde, Ultraschallbefunde, Baker-Zysten, Zytokin-Spiegel und CRP-Spiegel herangezogen. Die Autoren kamen zu dem Ergebnis, dass es eine positive Korrelation zwischen Entzündungsparametern (insbesondere Synovitis) und Schmerz gibt. Allerdings sei diese Korrelation insgesamt als moderat einzustufen. Besonders bei den Zytokinen wurden sich widersprechende Daten gefunden [5]. Dies mag damit zusammenhängen, dass bei den Zytokinspiegeln nicht zwischen Spiegeln in der Synovialflüssigkeit und im Serum unterschieden wurde und dass das experimentelle Design der Schmerzerfassung unterschiedlich war (keine Unterscheidung von Schmerzen bei Ruhe oder Belastung).
Als Ort der Entzündung werden Gelenkstrukturen außerhalb des Knorpels genannt (s.o.). Als avaskuläre Struktur kann der Knorpel keine Entzündung ausbilden. Dies schließt aber eine Rolle des Knorpels bei den Entzündungsvorgängen nicht aus. Chondrozyten können zahlreiche Mediatoren bilden, die zu den intraartikulären Spiegeln von Entzündungsmediatoren beitragen. Von Chondrozyten produziert und freigesetzt werden z.B. Prostaglandine, proinflammatorische Zytokine, Radikale Sauerstoffspezies (ROS), Stickoxid (NO) und viele andere Mediatoren [7]. Sie beeinflussen das Milieu im Knorpel selbst [7], gelangen aber nach Diffusion in die Synovialflüssigkeit auch in die innervierten Gelenkstrukturen und können so zur Schmerzentstehung beitragen.
Arthrose und
Komorbiditäten
Bei der Betrachtung des Krankheitsbildes der Arthrose hat ein weiterer Aspekt Bedeutung gewonnen, nämlich Komorbiditäten. Während eine posttraumatische Arthrose schon bei jungen Patienten als isoliertes Krankheitsbild auftreten kann, sind die Mehrzahl der Patienten mit Arthrosen ältere Menschen, die häufig Komorbiditäten aufweisen wie Adipositas, Diabetes mellitus, Herz-Kreislauf-Erkrankungen etc.. Viele Arthrosepatienten weisen eine niedergradige systemische Entzündung auf [3, 9]. Es gibt Evidenz dafür, dass metabolische Faktoren die entzündlichen Vorgänge im Gelenk fördern können [3]. Welchen Einfluss haben solche Komorbiditäten auf den Arthroseschmerz?
Unsere Arbeitsgruppe hat sich vor allem mit dem Einfluss von Adipositas und Diabetes mellitus auf den Arthroseschmerz befasst. Bei Patienten, deren Kniegelenke im Endstadium der Arthrose durch ein künstliches Gelenk ersetzt wurden, zeigten Patienten mit Diabetes mellitus im Schnitt höhere Schmerzintensitäten und stärkere Synovitiden als Patienten ohne Diabetes mellitus. Dagegen bestand kein signifikanter Unterschied in der Schmerzintensität zwischen Patienten mit normalen und hohen BMI-Werten [9]. In einer Analyse von Daten einer großen Arthrosekohorte (Osteoarthritis Initiative) wiesen Patienten mit Diabetes mellitus stärkere Schmerzen auf als Patienten ohne Diabetes mellitus, unabhängig von BMI, Schweregrad der Arthrose, Alter und Geschlecht, sodass Diabetes mellitus ein zusätzlicher und unabhängiger Risikofaktor für stärkere Schmerzen ist [6].
Das aktuelle Bild der Schmerzentstehung
Derzeit werden Schmerzen nach ätiopathogenetischen Gesichtspunkten klassifiziert. Man unterscheidet nozizeptive Schmerzen, neuropathische Schmerzen und noziplastische Schmerzen.
Nozizeptive Schmerzen
Bei nozizeptiven Schmerzen sind die nozizeptiven Nervenzellen intakt und erfüllen ihre eigentliche Aufgabe, nämlich die Aufnahme und Kodierung noxischer Reize. Durch Krankheitsprozesse kann eine erhebliche Neuroplastizität induziert werden, die zu einer deutlichen Empfindlichkeitssteigerung führt. Das System wird „sensibilisiert“. Selbst heftige Schmerzen sind häufig belastungsabhängig und ihrer Natur nach „plausibel“.
Neuropathische Schmerzen
Sie entstehen, wenn Nervenzellen inklusive der nozizeptiven Nervenzellen selbst geschädigt werden. Solche Nervenzellen verhalten sich nicht wie gesunde Nozizeptoren. Sie erzeugen Aktionspotentiale manchmal spontan, ihr Entladungsverhalten ist abnormal, der Schmerz zeigt häufig keine noxische Reizung an, und er wird als abnormal (brennend, elektrisierend etc.) empfunden.
Noziplastische Schmerzen
Im Jahr 2016 wurde dieser neue Begriff eingeführt. Kann eine vermehrte Schmerzempfindlichkeit weder durch nozizeptive noch durch neuropathische Mechanismen erklärt werden, wird angenommen, dass das nozizeptive System „aus sich heraus“ übermäßig aktiv ist. Ein Beispiel ist die Fibromyalgie [17].
Der Schmerz bei Arthrose
Der Schmerz bei Arthrose wird zumeist als nozizeptiver Schmerz eingestuft. Er wird als dumpf beschrieben, kann über die Zeit permanent werden mit episodischen Schmerzspitzen [12]. Er tritt (vermehrt) bei Bewegungen auf, kann aber auch in Ruhe und im Liegen, z.B. in der Nacht bestehen [9]. Es gibt Hinweise, dass bei manchen Arthrosepatienten auch neuropathische Schmerzkomponenten auftreten, besonders in Spätstadien (s.u.).
Schmerzen entstehen im
Nozizeptiven System
Schmerzen lassen sich anhand der Anamnese und mit diversen Testmethoden erfassen, z.B. mit der „Quantitativen Sensorischen Testung“ (QST) [1]. Für Arthroseschmerzen sind, wie bei anderen Erkrankungen, mehrere Ebenen zu betrachten (Abb. 1).
Die peripheren
Gelenknozizeptoren
Sie haben im normalen Gelenk eine hohe Erregungsschwelle für mechanische Reize. Im normalen Gelenk werden sie nur durch Bewegungen außerhalb des Arbeitsbereiches (z.B. Überdrehungen) aktiviert (hierbei tritt auch sofort heftiger Schmerz auf). Bei Entzündungsprozessen werden Gelenknozizeptoren „sensibilisiert“, d.h. ihre Erregungsschwelle wird abgesenkt, sodass schon bei geringen Reizen (z.B. Bewegungen im Arbeitsbereich) Aktionspotentiale ausgelöst werden („periphere Sensibilisierung“) [24, 27]. In experimentellen Arthrosemodellen wurde, bei einigen Unterschieden im Detail, eine Sensibilisierung peripherer Nozizeptoren gefunden [14, 28]. Patienten klagen über Schmerzen bei normalen Bewegungen. Bei der QST ist eine Abnahme der „Pressure Pain Threshold“ (PPT) am Gelenk zu finden [1]. Geschädigte Nozizeptoren können auch spontan Aktionspotentiale bilden (s.u.).
Die nozizeptiven Nervenzellen im Rückenmark, Thalamus und Gehirn
Sie verarbeiten den nozizeptiven Eingang aus der Peripherie. In diesen zentralnervösen Zellen kann durch neuroplastische Vorgänge eine „zentrale Sensibilisierung“ entstehen. Hierbei antworten die Nervenzellen verstärkt auf den nozizeptiven Eingang, d.h. das Zentralnervensystem verstärkt die Schmerzen. Eine zentrale Sensibilisierung bei Arthrose zeigt sich durch mehrere Charakteristika: Häufig ist der Schmerz nicht auf das betroffene Gelenk beschränkt, sondern wird als ausgedehnt über weitere Bereiche empfunden [24, 27]. Auch eine hohe Schmerzintensität ist ein Hinweis. Bei QST-Testung ist die PPT auch gelenkfern gesenkt, z.B. am Sternum. Ein weiterer Test ist die „Temporal Summation“ (TS). Hierbei wird ein Testreiz in Abständen von ca. 1s wiederholt. Typischerweise kommt es hierbei zu einer sukzessiven Steigerung der Schmerzintensität vom ersten bis zum zehnten Reiz. Bei zentraler Sensibilisierung ist die TS stärker ausgeprägt als bei gesunden Menschen [1].
Absteigende Hemmsysteme
Hierunter versteht man Nervenbahnen, die vom Hirnstamm absteigen und auf der spinalen Ebene die nozizeptive Verarbeitung dämpfen (deszendierende Hemmung). Bei intakter Hemmung antworten Nervenzellen des Rückenmarks weniger stark auf den nozizeptiven Eingang, und daher dämpft dieses endogene Hemmsystem Schmerzen. Eine im Patienten testbare Variante ist die Überprüfung der „Conditioned Pain Modulation“ (CPM). Hierbei wird geprüft, ob die Schmerzantwort auf einen noxischen Testreiz an einer Körperstelle durch einen schmerzhaften Reiz an anderen Körperstellen abgeschwächt wird. Hintergrund ist, dass ein schmerzhafter Reiz generell die absteigende Hemmung aktiviert, sodass nachfolgende Schmerzreize weniger stark empfunden werden. Bei chronischem Arthroseschmerz ist, wie bei anderen chronischen Schmerzen, die absteigende Hemmung häufig geschwächt, wodurch die Rückenmarkzellen stärker auf den noxischen Eingang aus der Peripherie reagieren können [1, 15]. Die CPM kann nach künstlichem Gelenkersatz und dadurch erzielter Schmerzfreiheit wieder hergestellt werden [15].
Neuronale Schaltkreise der
kognitiven und emotionalen Verarbeitung
Das Gehirn bewertet Reize und Vorgänge nach ihrer Relevanz. Dies findet in einem umfassenden kortikalen und subkortikalen Netzwerk statt. Schmerzempfindungen haben nicht nur eine sensorisch-diskriminative Komponente (Wo ist der Schmerz?, wann ist er aufgetreten?, wie stark ist er? etc.), sondern eine emotional-affektive Komponente (eine Furcht- und Leidenskomponente). Letztere wird in den Strukturen des limbischen Sytems, z.B. in der Insula und im Gyrus anterior cinguli (ACC) erzeugt. Gehirn-Imaging-Studien zeigen Aktivierungen [11, 16] und morphologische Veränderungen in solchen Arealen [12], was darauf hinweist, dass Patienten mit chronischen Arthroseschmerzen auch auf dieser Ebene Veränderungen haben können. Diese Vorgänge sind reversibel, wenn durch Gelenkersatz der Schmerz beseitigt wird [24]. Da die kognitive und emotionale Verarbeitung personenspezifische Merkmale einbezieht, wird der Schmerz am besten durch ein biopsychosoziales Modell beschrieben, in dem neben den nozizeptiven Vorgängen auch psychologische und soziale Aspekte relevant sind. Diese Faktoren haben zweierlei Bedeutung. Erstens, Patienten verarbeiten ihre Schmerzen unterschiedlich. So neigt ein Teil der Patienten zur Katastrophisierung, was die Schmerzproblematik verschärft. Zweitens, Schmerztherapie muss den ganzen Menschen umfassen und Komorbiditäten berücksichtigen (z.B. Depression). So ist neben medikamentösen Maßnahmen z.B. auch die Edukation der Patienten erforderlich, in der mit dem Patienten über das Krankheitsbild, therapeutische Ziele und Maßnahmen ausführlich gesprochen wird. Außerdem bilden diese kognitiven und emotionalen Verarbeitungsprozesse auch eine rationale Basis für die schmerzlindernde Wirkung von Verfahren, die der Komplementärmedizin zugeordnet werden, z.B. Akupunktur [29].
Eine neuropathische
Schmerzkomponente bei
Arthroseschmerzen
Wie oben angedeutet, kann eine neuropathische Schmerzkomponente hinzukommen. Hinweise auf eine neuropathische Schmerzkomponente kann der Schmerzfragebogen „PainDetect“ bieten. Hierbei werden Besonderheiten der Schmerzempfindung abgefragt. In experimentellen Arthrosemodellen konnten Anzeichen neuropathischer Mechanismen gefunden werden, z.B. das Auftreten des Markers ATF3 in sensorischen Neuronen. ATF3 wird exprimiert, wenn in geschädigten Nervenzellen Regenerationsvorgänge ablaufen[13]. Eine neue Übersichtsarbeit gibt an, dass bei Kniearthrose 40 % der Patienten eine neuropathische Komponente aufweisen, bei Hüftgelenkarthrose 29 % [12]. Die genaue Ursache der neuropathischen Schmerzen ist allerdings unklar. Ob die o.g. Zerstörungen des subsynovialen Kapillar- und Nervengeflechts [8] dafür verantwortlich sein könnten, ist unbekannt. Zu bemerken ist, dass auch Aussprossungen von Nervenfasern beschrieben wurden. In einigen osteochondralen Kanälen, die sich in Arthrosegelenken zwischen der subchondralen Knochenschicht und dem darüber liegenden Knorpel ausbilden, wurden sowohl Blutgefäße als auch vereinzelt Nervenfasern gefunden [2]. Ob diese wenigen neuen Nervenfasern in den unteren Knorpelschichten einen signifikanten Beitrag für Arthroseschmerzen ausmachen, ist unbekannt. Die Lysophosphatidsäure (LPA) wurde als Bindeglied zwischen Arthrose und neuropathischem Schmerz ins Spiel gebracht. In der Synovialflüssigkeit steigt die LPA bei Intensivierung der Erkrankung an. Experimentell verursacht LPA im Gelenk eine Abnahme des Myelinisierungsgrades von Nervenfasern und eine ATF3-Hochregulation, und eine pharmakologische Blockade der LPA-Rezeptoren hemmt den Schmerz [18].
Molekulare Vorgänge der Schmerzentstehung im
Gelenk
Wie oben ausgeführt, sind Entzündungsvorgänge für die Arthroseschmerzen sehr relevant. Entzündungen werden mit dem neuronalen Prozess der Sensibilisierung in Verbindung gebracht, der dazu führt, dass „normale“ Gelenkbeanspruchungen zu Schmerzen führen. Das Verständnis dieser Mechanismen ist nicht nur von akademischem Interesse. Tatsächlich stellt sich an dieser Stelle die Frage nach den therapeutischen Möglichkeiten der medikamentösen Bekämpfung des Arthroseschmerzes.
Wie löst ein mechanischer Reiz, z.B. eine Überdrehung des Gelenks, Schmerzen aus? Prinzipiell ist die sensorische Endigung des Nozizeptors im Gewebe mit Ionenkanälen ausgestattet, die durch mechanische Reize geöffnet werden (Mechanosensoren) (Abb. 2). Vermutlich führt die Verformung der Zellmembran, in die der Ionenkanal eingebettet ist, über Scherkräfte zur Öffnung. Sobald der Ionenkanal geöffnet ist, fließen Kationen (insbesondere Na+ und Ca2+) in die Zelle ein und lösen dort ein elektrisches Rezeptorpotential (RP) aus, eine lokale Depolarisation. Ist diese Depolarisation ausreichend stark, öffnet sie spannungsgesteuerte Natriumkanäle, die die Aktionspotentiale (AP) bilden, die über das Axon des Neurons weitergeleitet werden. Es ist noch nicht klar, welche Ionenkanäle im Gelenk als Mechanosensoren für schmerzhafte mechanische Reize fungieren. Hinweise gibt es für einen Ionenkanal namens Piezo 2 [21] und einen Ionenkanal namens TRPV4 [22].
Zusätzlich zu verschiedenen Ionenkanälen verfügt die sensorische Endigung der Nozizeptoren über Rezeptoren für zahlreiche Entzündungsmediatoren. Letztere können bei ihrer Besetzung durch Entzündungsmediatoren Second Messenger-Prozesse in der Zelle auslösen. Die Second Messenger-Kaskaden können dann die Empfindlichkeit der Ionenkanäle für die Mechanotransduktion (s.o.) und der spannungsgesteuerten Natriumkanäle erhöhen, sodass als Endresultat die Nervenzelle sensibilisiert wird. In diesem Zustand sind leichte bis moderate Reize ausreichend, Gelenknozizeptor zu erregen, und daher werden bei Entzündungsvorgängen Schmerzen durch leichte mechanische Reize ausgelöst. Neben den Ionenkanälen für mechanische Reize gibt es auch Ionenkanäle für thermische Reize (z.B. den TRPV1-Ionenkanal) und für chemische Reize (z.B. für ATP). Auch solche Kanäle können durch Entzündungsmediatoren sensibilisiert werden.
Ziel der medikamentösen Schmerzbekämpfung
Ziel der Schmerztherapie ist es, den Zustand der neuronalen Sensibilisierung rückgängig zu machen. Diese Wirkung haben die Cyclooxygenasehemmer bzw. nichtsteroidalen antientzündlichen Drugs (NSAIDs), die die Prostaglandinproduktion hemmen. Prostaglandin E2 aktiviert über EP-Rezeptoren in der Zellmembran der Nozizeptoren Second Messenger -Kaskaden, insbesondere cAMP-abhängige Signalwege, die ihrerseits bestimmte Ionenkanäle der Transduktion und spannungsgesteuerte Natriumkanäle in den Nervenzellen so beeinflussen, dass das Neuron sensibilisiert wird [19]. Wird die Prostaglandinsynthese gehemmt, wird die neuronale Sensibilisierung zurückgeführt. Die topische und systemische Gabe von NSAIDs ist eine wichtige Basistherapie von Arthroseschmerzen.
Allerdings reicht die Wirkung der COX-Hemmer bei starken Schmerzen häufig nicht aus. Dafür gibt es zahlreiche Gründe. Erstens, Prostaglandin E2 ist nur einer von vielen Mediatoren, die sensibilisierend wirken. Andere Mediatoren mit sensibilisierender Wirkung sind Bradykinin, Nervenwachstumsfaktor (NGF), und proinflammatorische Zytokine, z.B. TNF, Interleukin-6, Interleukin-17 und andere. Zweitens, Prostaglandin E2 aktiviert nicht nur EP-Rezeptoren, die sensibilisierend wirken (EP2 und EP4), sondern auch den EP3-Rezeptor, der antinozizeptiv wirkt [19]. Daher reduziert die Hemmung der Prostaglandinsynthese nicht nur pro-, sondern auch antinozizeptive Prostaglandinwirkungen.
Große Hoffnung lag in der Einführung einer Therapie mit monoklonalen Antikörpern gegen NGF. Dieser Antikörper reduziert Arthroseschmerzen nachhaltig bei einmaliger Applikation, weil er an verschiedenen Ionenkanälen angreift, die für die Nozizeption relevant sind. Unglücklicherweise wurde die Antikörpertherapie nach jahrelanger Erprobung nicht zugelassen, weil sie einzelne Fälle von rascher progredienter Arthrose auslöste [26].
Proinflammatorische Zytokine (TNF, Interleukin-6, Interleukin-1ß, Interleukin-17) erzeugen in Gelenknozizeptoren mit unmyelinisierten Axonen (C-Fasern) eine langanhaltende Sensibilisierung für mechanische Reize [25]. Da Zytokine bei Arthrosen als wichtige Mediatoren mit schädigender Wirkung angesehen werden, kann ihnen bei der Entstehung von Arthroseschmerzen eine maßgebliche pathogenetische Rolle zukommen. Bei der Behandlung der rheumatoiden Arthritis ist die Neutralisierung von Zytokinen häufig mit einer raschen Schmerzreduktion verbunden [25]. Ob die Neutralisierung von Zytokinen auch eine Option für die Behandlung der Arthrose und des Arthroseschmerzes ist, wird derzeit untersucht. Klinische Studien zur Effektivität der Neutralisation von Interleukin-1 waren enttäuschend. Der Effekt der Antikörper war nicht größer als der, allerdings sehr große, Placeboeffekt [10]. Inwieweit die Neutralisierung anderer Zytokine, z.B. von Interleukin-6, besser abschneiden wird, ist noch unklar. Ähnliches gilt für Chemokine, die bei experimenteller Arthrose eine Bedeutung für die
Schmerzentstehung haben [23].
Eine Reihe anderer Targets wird derzeit hinsichtlich ihrer Eignung für die Schmerztherapie erforscht. Hierzu zählen auch Substanzen, die die Transduktionsmoleküle, z.B. den TRPV1-Ionenkanal, und spannungsabhängige Natriumkanäle blockieren [24].
Die intraartikuläre Injektion von hochmolekularen! Hyaluronsäurepräparaten wurde in einigen Studien als effektiv gegen Gelenkschmerzen beschrieben. Ihr genauer Wirkungsmechanismus ist unklar. Möglicherweise schirmen sie Nervenfasern gegen Reize ab, oder sie „binden“ Entzündungsmediatoren durch Molekülinteraktionen. Auch übt Hyaluronsäure eine trophisch-metabolische Funktion aus [24].
Eine weitere Herausforderung ist die Behandlung neuropathischer Schmerzzustände. Typischerweise werden neuropathische Schmerzen nicht mit den o.g. Analgetika behandelt, sondern mit Medikamenten, die die neuronale Erregbarkeit durch Beeinflussung von Ionenkanälen blockieren. Dazu gehören Antidepressiva und Gabapentin.
Fazit für die Praxis
Patienten mit Arthrose haben nicht nur eine komplexe Gelenkerkrankung. Sie leiden auch an einer komplexen Schmerzproblematik, die nicht nur Spiegel dessen ist, was sich im Gelenk abspielt, sondern auch eigendynamische Komponenten hat. Dass die durch die Arthrose ausgelösten Schmerzprozesse in vielen Fällen durch den konstanten noxischen Eingang aus der Peripherie aufrechterhalten werden, könnte man aus der durch Operation häufig erreichbaren Schmerzfreiheit schlussfolgern. Allerdings ist die Operation nur der Schlussstrich unter einer langen Schmerzperiode. Daher sollte in den Jahren vor der Operation der Komplexität der Schmerzproblematik Rechnung getragen werden und mit dem Patienten zusammen die beste Lösung gefunden werden. Hier sind auch die Komorbiditäten zu berücksichtigen, deren therapeutische Beeinflussung auch Teil der Arthroseschmerztherapie sein sollte. Wie eingangs beschrieben, führt die Operation nicht in allen Fällen zur Schmerzfreiheit. Durch QST-Untersuchungen wird derzeit untersucht, welche Schmerzcharakteristika prognostisch ungünstig sind [1]. Komorbiditäten wie Diabetes mellitus bergen ein höheres Risiko für nicht erreichbare Schmerzfreiheit [7].
Interessenkonflikte:
Keine angegeben.
Das Literaturverzeichnis zu
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Korrespondenzadresse
Prof. Dr. med. Hans-Georg Schaible
Institut für Physiologie 1/
Neurophysiologie
Teichgraben 8
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