Übersichtsarbeiten - OUP 05/2016

Chronische Rückenschmerzen – entzündlich, funktionell, psychosomatisch?

juvenile Oligoarthritis Typ 2

Bei den rheumatisch bedingten chronischen Rückenschmerzen spielt bei vorhandener Entzündungsaktivität die antientzündliche Behandlung eine entscheidende Rolle.

Somatisch funktionelle Aspekte

Funktionsstörungen des Bewegungssystems sind häufig für Schmerzen im Bewegungssystem verantwortlich und spielen bei der Schmerzchronifizierung von Rückenschmerzen eine zentrale Rolle [5, 6, 7].

Wichtig ist die Unterscheidung in primäre und sekundäre Funktionsstörungen [8, 9].

Sekundäre Funktionsstörungen sind Störungen in der Funktionalität von Geweben oder Strukturen. Diese können lokal, regional, zum Teil auch generalisiert auftreten und sind in der Regel schmerzhaft. Sekundäre Funktionsstörungen treten nicht spontan auf, sondern resultieren aus Fehl- oder Überlastungen der betroffenen Strukturen. Ursächlich können z.B. Fehlbelastungen bei Kompensationsmechanismen (z.B. Trendelenburghinken bei Coxarthrose), erhöhte muskuläre Anspannungen (z.B. bei Angst) oder Fehlbelastungen bei zugrunde liegenden primären Funktionsstörungen sein. Zu den sekundären Funktionsstörungen gehören z.B. muskuläre Triggerpunkte, Muskelverspannungen und somatische Dysfunktionen (Blockierung).

Primäre Funktionsstörungen sind Ursache für Fehl- und Überlastung im Bewegungssystem und sollten in der Diagnostik und Therapie immer mit Berücksichtigung finden. Häufige primäre Funktionsstörungen sind die insuffiziente Stabilisation der Wirbelsäule und Gelenke (Tiefenstabilisation), Koordinationsstörungen sowie die konstitutionelle Hypermobilität.

Psychosoziale Aspekte

Die Bedeutung psychosozialer Faktoren für die Schmerzchronifizierung ist unbestritten [10]. Neben psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Angst, spielen primäre psychische Schmerzerkrankungen (z.B. Somatoforme Schmerzstörung) und dysfunktionale Krankheitseinsichten bzw. Verhaltensweisen eine entscheidende Rolle. Hinzu kommen Psychopathologien, die die Diagnostik und Therapie erschweren oder unmöglich machen können (z.B. Persönlichkeitsstörungen).

Psychosoziale Risikofaktoren sollten schon in der Frühphase einer Schmerzerkrankung durch den Primärarzt erhoben werden, um eine entsprechende Weiterdiagnostik zu veranlassen. Strukturell ist eine schnelle Diagnostik durch einen ärztlichen oder psychologischen Psychotherapeuten aufgrund langer Wartezeiten meist jedoch nicht möglich.

Bei chronifizierten oder chronifizierungsgefährdeten Patienten ist eine qualifizierte psychosoziale Diagnostik (Einzelgespräche durch Schmerzpsychotherapeut) unumgänglich, unterstützt durch eine entsprechende Fragebogendiagnostik. Soziale Faktoren wie z.B. Kompensationsforderungen spielen eine zentrale Rolle in der Bewertung der Behandelbarkeit und Prognostik und sollten frühzeitig Berücksichtigung finden [11, 12].

Neurophysiologische Aspekte der Schmerzchronifizierung

Oft wird von Patienten und Behandlern das Phänomen Schmerz als reines Reiz-Wirkungsprinzip missverstanden. Viele Schmerzphänomene wie z.B. chronische Rückenschmerzen lassen sich so nicht erklären.

Moderne Modelle der Schmerzphysiologie gehen von komplexen Wahrnehmungs-, Modulations-, Steuerungs- und Anpassungsprozessen auf Schmerzreize aus.

Nach Verletzungen bzw. wiederholter Reizungen von (primären) nozizeptiven C- oder A-delta-Fasern steigert sich deren Empfindlichkeit und damit auch die Schmerzempfindlichkeit [13]. Dieser Prozess wird periphere Sensitivierung genannt und ist gekennzeichnet durch eine Absenkung der Schmerzschwelle, stärkere Antworten der Nervenfaser auf überschwellige Reize und spontane Aktivität der Nervenfasern.

Die primären nozizeptiven C- oder A-delta-Fasern werden im Hinterhorn des Rückenmarks auf verschiedene sekundäre Neurone umgeschaltet. Neben Neuronen mit niedriger (low threshold neuron) und hoher (high threshold neuron) Reizschwelle finden sich sogenannte wide dynamic range neurons (WDR-Neurone). Diese haben die Eigenschaft, sowohl auf geringe wie hohe Reizintensitäten zu reagieren und können so Reizintensitäten kodieren. Eine weitere entscheidende Eigenschaft der WDR-Neurone ist die Konvergenz. Konvergenz heißt, dass Afferenzen über die rezeptiven Felder eines einzelnen Neurons hinaus und aus verschiedenen Geweben, sowie verschiedene Reizqualitäten (Nozizeption, Propriozeption, etc.) im WDR-Neuron verarbeitet werden [14].

Wiederholte und/oder dauerhafte Reizung von WDR-Neuronen führt zu einer veränderten Genexpression und damit Proteinproduktion in den Neuronen (Neuroplastizität). Diese neuroplastischen Veränderungen sind verantwortlich für spontane Entladungen von sekundären Neuronen (Spontanschmerz), für die Verminderung der Schmerzschwelle (Hyperalgesie) sowie die Schmerzausbreitung und sind kennzeichnend für chronische Schmerzsyndrome.

Durch die Konvergenz der WDR-Neurone kann es zur Ausbreitung von Schmerzen über verschiedenen Körperregionen und Gewebeschichten kommen [15].

Diagnostik und Therapie
von chronischen
Rückenschmerzen

Es ist sinnvoll, bei allen Patienten mit Rückenschmerzen eine strukturierte Diagnostik- und Therapiestrategie anzuwenden (Abb. 1). Viele Patienten, die sich mit akuten Rückenschmerzen präsentieren, haben schon eine längere Schmerzkarriere hinter sich oder bringen Risikofaktoren für Schmerzrezidive bzw. für die Entwicklung eines chronischen Rückenschmerzes mit. Somit sollte schon in der akuten Phase, neben dem Ausschluss von red flags und dem Erkennen von akuten schmerzrelevanten Befunden, auf entsprechende Risikofaktoren untersucht werden:

Somatisch funktionell auf

primäre Funktionsstörungen

kardiopulmonale Dekonditionierung

muskuläre Dekonditionierung

Psychosozial auf

dysfunktionale Kognitionen und Verhaltensweisen (Vermeidungs-, Durchhaltestrategien, externale Attributionen)

Hinweise für Somatisierung (z.B. multiple funktionelle Beschwerden/Erkrankungen, multiple Allergien/Unverträglichkeiten)

Hinweise für affektive Störungen (z.B. Angst, Depression)

sekundäre Einflüsse (z.B. Arbeitsunfähigkeitszeiten, Rentenanträge, Grad der Behinderung)

Patienten ohne relevante Risikofaktoren sollten entsprechend der aktuellen Befundlage therapiert werden. In einer erneuten Evaluation nach Abschluss der akuten Schmerzbehandlung sollten funktionelle Risikofaktoren für Schmerzrezidive erhoben und ggf. therapiert werden (Eigenübungen, Physiotherapie, Trainingstherapie)

Patienten mit einem chronischen, chronifizierungsgefährdeten oder rezidivierenden Rückenschmerz sollten einer multimodalen interdisziplinären Diagnostik zugeführt werden. Diese beinhaltet die gleichzeitige klinische, apparative und mit Hilfe von Fragebögen durchgeführte Diagnostik unter Beteiligung verschiedener Berufsgruppen (Arzt, Psychotherapeut, Physiotherapeut). Des Weiteren werden relevante Vorbefunde gesichtet und einbezogen. Die Diagnostik ist zeitlich und räumlich koordiniert und mündet in eine gemeinsame interdisziplinäre Befundauswertung und die Bewertung der Relevanz der einzelnen Befunde für das individuelle Schmerzbild. Im Ergebnis können in Abhängigkeit von der Befundlage verschiedene monomodale oder auch multimodale Behandlungskonzepte stehen.

Multimodale interdisziplinäre

Diagnostik und Therapie am Beispiel der Rückenzentren

Inhaltlich orientieren sich die Rückenzentren an den Nationalen Versorgungsleitlinien Kreuzschmerz und unter besonderer Berücksichtigung des Curriculums des Göttinger Rücken-intensiv Programm (GRIP) [16].

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