Übersichtsarbeiten - OUP 05/2016
Chronische Rückenschmerzen – entzündlich, funktionell, psychosomatisch?
Fachärzte, Physiotherapeuten, Sportwissenschaftler und psychologische Psychotherapeuten arbeiten Hand in Hand in einem interdisziplinären Setting in einer Einrichtung. Durch die räumliche Nähe entsteht, gefördert durch mehrere wöchentliche Teamsitzungen, eine gemeinsame Sprache und Vorgehensweise. Diese ist essenziell für den Erfolg der Rückenzentren in der Multimodalität.
Vor einer Therapie steht grundsätzlich ein interdisziplinäres Assessment. Es dient der Steuerung der Patienten zum Teil in die Tageskliniken, zum Teil aber auch zurück in der ambulanten und stationären Regelversorgung.
Chronische oder chronifizierungsgefährdete Patienten werden von den gesetzlichen Krankenkassen im Wesentlichen anhand von ICD-Codes und Dauer der Arbeitsunfähigkeit identifiziert und den Rückenzentren zum Assessment zugewiesen. So besteht eine Zusammenarbeit mit den Krankenkassen bezüglich deren Fallsteuerung.
Darüber hinaus besteht für die niedergelassenen Ärzte eine Zuweisungsoption, die jedoch vergleichsweise weniger genutzt wird.
Standardisierte Schmerzfragebögen werden eingangs ausgefüllt. Anschließend erfolgt eine manualtherapeutische und neurologische Diagnostik, eine psychotherapeutische Exploration sowie Sonografie und bildgestützte Stufendiagnostik bei unklaren Beschwerden. Psychosoziale Faktoren werden gezielt von allen 3 diagnostizierenden Professionen berücksichtigt.
Die Tageskliniken der Rückenzentren, die mehrere integrierte Versorgungsprojekte umsetzen, bestehen aus 3 Bereichen: Der körperlich-aktivierende Bereich, der psychologische und ärztliche. Allen 3 Bereichen ist die Edukation mit dem Ziel der Übertragung von Eigenverantwortung und positiven Bewegungserleben gemein.
Diese Multimodalität erfolgt entlang von 2 streng strukturierten Behandlungsplänen in einer geschlossenen Gruppe von 8 Patienten über 4 Wochen, 5 Tage pro Woche und 6 Stunden täglich. Dabei gibt es 2 Behandlungsintensitäten:
Das „Kleine Therapieprogramm“ zielt auf eine Steigerung der funktionellen Leistungsfähigkeit, der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit und der Durchbrechung bzw. Verhinderung einer Chronifizierung ab. Das Versorgungskonzept unterteilt sich in ein individuelles intensitätsgeleitetes Rumpfmuskelprogramm und in eine Schulung über psychosomatische Abhängigkeiten. Hier werden dem Teilnehmer Informationen über die Schmerzphysiologie, Schmerzpsychologie, Psychosomatik und über Stress- und Schmerzbewältigung übermittelt.
Das „Große Therapieprogramm“ dient der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit mit ärztlicher Intervention wie beispielsweise der Schmerztherapie oder der Belastungssteuerung. Dazu erhält der Patient eine Trainingstherapie, die u.a. als befundorientierte Einzeltherapie oder als aerobes Training abgehalten werden kann. Des Weiteren wird der Patient in Form von Verhaltenstraining psychologisch betreut. Das Verhaltenstraining dient der Kenntnisgewinnung im Bereich soziales Lernen und Schmerzbewältigung. Der letzte Punkt in dem „Großen Therapieprogramm“ ist das „Work-Hardening“ bzw. Alltagstraining, das als berufsspezifisches Training angesehen wird und bei der Optimierung der Arbeitsplatzgestaltung helfen.
Das Leistungsspektrum umfasst grundsätzlich in dieser Zeit aktivierende manualmedizinische und interventionelle Behandlungsmethoden sowie psychotherapeutische Behandlungen, in Ausnahmen nur als Einzeltherapie.
Das Ziel der Versorgung im Rückenzentrum ist die Besserung des körperlichen und psychischen Wohlbefindens des Patienten mit Erhöhung der allgemeinen Leistungsfähigkeit und der Lebensqualität. Der Fokus liegt hier in der fachübergreifenden Behandlung und der Orientierung an aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Zielsetzung wird gemeinsam durch das interdisziplinäre Team und dem Patienten entwickelt. Daraus resultiert der wesentliche Behandlungsansatz von Aktivität und Hilfe zur Selbsthilfe. Dem Patienten soll es so gelingen seine Funktionsfähigkeit wieder zu erlangen und nachhaltig in den Alltag zu integrieren.
Stationäre multimodale inter
disziplinäre Diagnostik und Therapie des Bewegungssystems (ANOA-Konzept, [8, 17])
Die Krankenhausbehandlung von Patienten mit Schmerzerkrankungen des Bewegungssystems, insbesondere von Rückenschmerzen, hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Während im Jahre 2006 je 1000 Einwohner 203,8 Krankenhausfälle zu verzeichnen waren, waren es im Jahr 2014 schon 218,6 Fälle. Im Jahr 2014 wurden insgesamt 415.000 Patienten mit Rückenschmerzen im Krankenhaus versorgt [18].
Erhielten alle Patienten eine leitliniengerechte und gezielte Behandlung? Ist bei multifakto-rieller Genese das biopsychosoziale Krankheitsverständnis berücksichtigt worden?
Eine aktuelle Antwort gibt der BARMER GEK-Report 2015. Von den 415.000 Patienten im Jahre 2014 wurden 30 % operiert, 30 % erhielten eine interventionelle Schmerztherapie, 5,4 % eine multimodale Schmerzbehandlung (OPS 8–918, DRG I42.Z, B47.Z, U42.Z). Mehr als 34 % der Patienten sind nach dieser Statistik nicht eindeutig einer gezielten Behandlung zugeführt worden.
In den Kliniken der Arbeitsgemeinschaft für nicht operativ-orthopädisch-manualmedizinische Akutkrankenhäuser (ANOA e.V.) werden Patienten mit chronifizierungsgefährdeten und chronischen Schmerzerkrankungen bei multifaktorieller Genese behandelt. Kennzeichen ist neben der Berücksichtigung von Strukturerkrankungen, psychologischen und sozialen Einflussfaktoren (wie bei der multimodalen Schmerztherapie) die zusätzliche Berücksichtigung somatisch funktioneller Befunde [8, 1].
In den ANOA-Klinken wurden im Jahre 2014 (deutschlandweit) ca. 7.200 Patienten im Rahmen der multimodalen Schmerztherapie betreut. Diese wurden in der Erhebung der BARMER GEK erfasst. Nicht explizit erfasst wurden ca. 12.000 Patienten, welche im Rahmen einer befundgerechten multimodalen nichtoperativen Komplexbehandlung (DRG I68, B71 mit Berechnung eines Zusatzentgeltes über den OPS 8–977) mit zusätzlicher Berücksichtigung der Funktionspathologie versorgt wurden.
Das über mehr als 10 Jahre erarbeitete, auf Praktikabilität und klinische Anwendbarkeit überprüfte Konzept der ANOA ermöglicht die gezielte, wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechende und leitliniengerechte Krankenhausbehandlung.
Stationäre multimodale interdisziplinäre Diagnostik des Bewegungssystems
Die multifaktorielle Genese von Rückenerkrankungen erfordert ein Diagnostiksetting im Team von qualifizierten Ärzten, Psychologen, Mitarbeitern der Pflege und Therapeuten unterschiedlicher Berufsgruppen. Entscheidend für die erfolgreiche Umsetzung ist die Einhaltung der Kriterien der „echten“ Interdisziplinarität (nach Loeser et al.):
Gemeinsame Untersuchung
Gemeinsame Erhebung und Wertung von aktuellen und Vorbefunden
Transparenz in der Kommunikation und Integration aller Informationen in die Teamarbeit
Keine Auftragsarbeiten.
Die gezielte Behandlung ist nur möglich bei Untersuchung aller Ursachen und der Wertung des jeweils aktuellen Einflusses auf das Krankheitsbild. Auf dieser Basis ergeben sich Störungsmuster mit unterschiedlicher Wichtung der einzelnen Einflussebenen. Die Patienten können gezielt und individuell in Subgruppen behandelt werden.