Übersichtsarbeiten - OUP 06/2015
Chronischer KnieschmerzHäufigkeit, Ursachen und BehandlungsoptionenFrequency, causes and treatment
Kay Niemier1, Christian. Rauscher2, Karolin von Korn2, Joachim Mallwitz3
Zusammenfassung: Chronische Schmerzen im Knie sind häufig und führen zu signifikanten Einschränkungen in der Lebensgestaltung und -qualität von vielen Betroffenen.
Wie auch bei anderen chronischen Schmerzsyndromen ist der chronische Knieschmerz in seiner Genese multifaktoriell. Funktionelle, morphologische und psychosoziale Faktoren führen zusammen mit neurophysiologischen Veränderungen in der Schmerzverarbeitung zum chronischen Schmerzsyndrom. In der Behandlung müssen alle Einflussfaktoren
berücksichtigt werden, um ein positives Ergebnis erzielen zu können. Multimodale interdisziplinäre Assessments und Behandlungsprogramme könnten die Behandlung von chronischen Knieschmerzen deutlich verbessern.
Schlüsselwörter: Knieschmerz, chronische Schmerzsyndrome, multimodale Schmerztherapie
Zitierweise
Niemier K, Rauscher C, von Korn K, Mallwitz J. Chronischer Knieschmerz. Häufigkeit, Ursachen und Behandlungsoptionen.
OUP 2015; 6: 315–322 DOI 10.3238/oup.2015.0315–0322
Summary: Chronic pain syndromes of the knee are frequent and often responsible for a significant impairment of the quality of life.
As in other chronic pain syndromes, many pathogenetic
factors are responsible for the development of a chronic knee pain. Somatic dysfunction, morphological and psychosocial factors together with neurophysiological changes of pain perception lead to the development of chronic pain syndromes. Assessment and treatment concepts have to take these facts into account. All pathogenetic factors should be evaluated and treated in order to be successful in treatment. Multimodal interdisciplinary programs might be helpful to improve treatment outcome.
Citation
Niemier K, Rauscher C, von Korn K, Mallwitz J. Chronic pain syndromes of the knee. Frequency, causes and therapy.
OUP 2015; 6: 315–322 DOI 10.3238/oup.2015.0315–0322
Einführung
Knieschmerzen treten in den entwickelten Industrieländern häufig auf. In einer finnischen Untersuchung wurden Prävalenzen chronischer Knieschmerzen bei Kindern von 3,9 % und bei Jugendlichen von 18,5 % angegeben [1]. Die Mehrzahl dieser Kniebeschwerden ist auf funktionelle Ursachen zurückzuführen. Knieschmerzen bei Jugendlichen wurden zusätzlich mit vermehrter sportlicher Aktivität und höherer Bildung assoziiert [2].
In Deutschland gaben 2008 54 % der Berufstätigen an, unter Knieschmerzen zu leiden [3]. Circa 53 % der erwachsenen Bevölkerung leidet unter einer Kniearthrose [4]. Chronischer Knieschmerz führt zu häufigen Arbeitsunfähigkeiten (12-Monats-Prävalenz 5–22 %) [5] und medizinischen Interventionen. So stieg die Zahl der implantierten Knieendoprothesen von 2003 bis 2008 um über 50 % [6]. Ungefähr 1,4–5 % der Konsultationen in allgemeinmedizinischen Praxen sind auf Knieschmerzen zurückzuführen. Risikofaktoren für chronische Knieschmerzen sind Übergewicht, höheres Lebensalter, weibliches Geschlecht, andere Schmerzerkrankungen des Bewegungssystems, schwere körperliche Arbeit (tragen großer Lasten, knieende Tätigkeit), psychische Einflussfaktoren und vorhergehende Knietraumen [7, 8, 9, 10, 11].
Chronischer Schmerz
Schmerz ist eine der wichtigsten Sinneswahrnehmungen. Ohne Schmerzen ist ein (gesundes) Überleben nicht möglich. Schmerzen warnen vor potenziellen und bei existierenden Schädigungen und führen so zu einer Verhaltensadaptation, um den schädlichen Einfluss zu verhindern oder zu minimieren. Schmerzen werden nicht einfach über die Nozizeptoren in elektrische Impulse umkodiert, weitergeleitet und im Zentralnervensystem (ZNS) wahrgenommen, sondern der Schmerz wird auf seinem Weg in und durch das ZNS moduliert. Schmerzimpulse können z.B. durch Ablenkung oder Stress unterdrückt werden. Durch Übung sind Menschen in der Lage, selbst extreme Schmerzreize zu unterdrücken (z.B. Fakire). Auf der anderen Seite können dauerhafte Schmerzreize, psychische Erkrankungen oder auch persönliche Dispositionen (z.B. autonome Fehlregulation) zur Verminderung der Schmerzregulationsfähigkeit führen. Bei diesen Patienten findet sich lokal (z.B. Knie) oder generalisiert (z.B. Fibromylagie) eine Schmerzüberempfindlichkeit.
Insbesondere, jedoch nicht ausschließlich bei chronischen Schmerzen, sind die Schmerzursachen vielfältig und komplex. Schmerzauslöser (z.B. Knietrauma, Funktionsstörungen des Kniegelenks) können initial in der Schmerzgenese eine Rolle spielen, die Schmerzchronifizierung wird jedoch durch andere Prozesse bestimmt [12]. Unterschiedliche Faktoren spielen bei der Entstehung von chronischen Schmerzsyndromen in unterschiedlichsten Kombinationen eine zentrale Rolle (Tab. 1 [12, 13,14, 15]).
Über längere Zeiträume bestehende grundlegende Funktionsstörungen des Bewegungssystems führen zu sekundären morphologischen Störungen und einem erhöhten Verletzungsrisiko [18].
Erst das Zusammenspiel der einzelnen Faktoren führt zur Entwicklung von chronischen Schmerzen. Dem muss in der Diagnostik und Therapie Rechnung getragen werden. Patienten mit einem chronischen Schmerz, inklusive der Patienten mit einem chronischen Knieschmerz, benötigen eine interdisziplinäre multimodale Diagnostik, in der funktionelle, morphologische und psychosoziale Einflussfaktoren berücksichtigt werden. Im interdisziplinären Team kann ein dem Störungsbild angemessener Therapieplan (multimodal oder monomodal) entwickelt werden [19]. Einseitige Behandlungen bzw. Überbewertung eines einzelnens Aspekts/Einflussfaktors führen oft zur Fehlbewertung des Schmerzsyndroms, zu therapeutischen Misserfolgen bzw. nur kurzfristigen Verbesserungen, zur Iatrogenisierung und oft zur weiteren Schmerzchronifizierung [20].
Funktionelle Anatomie
des Kniegelenks
Die wesentlichen Aufgaben des Bewegungssystems bestehen in der Gewährleistung von
aufrechter Haltung
Beweglichkeit
Fortbewegung
Hierfür ist die ausreichende Stabilität von Haltung und Bewegung sowie eine ausreichende Flexibilität notwendig.
Die Stabilität des Bewegungssystems wird gewährleistet durch passive Strukturen, aktive Strukturen und die neurogene Steuerung [21, 22].
Die passiven Strukturen (Knochen, Sehnen, Bänder, Faszien, Knorpel) dienen dem Formerhalt, der strukturellen Sicherung von Haltung und Bewegung, als Ansatzpunkt der aktiven Strukturen und als sensorisches Organ der Haltungs- und Bewegungssteuerung. Das Kniegelenk wird von folgenden passiven Strukturen in seiner Haltung und Bewegung gestützt:
Femur mit den Femurkondylen und der Fossa intercondylaris
Tibia mit dem Tibiaplateau und der Eminentia interkondylaris
Seiten- und Kreuzbänder, z.T. verstärkt durch die Sehnen der Kniemuskulatur
Die Gelenkkapsel mit den Retinacula patellae und den Sehnen der Kniemuskulatur
Lateraler und medialer Meniscus
Patella mit dem Ligamentum Patellae und dem M. quadrizeps
Die passiven Strukturen ermöglichen Beugung und Streckung im Kniegelenk sowie eine Rotation im gebeugten Zustand. Diese Bewegung ist begleitet von einer Gleitbewegung der Patella nach proximal/distal (Beugung/Streckung) bzw. einer Lateralbewegung (Rotation). Die große Patellabeweglichkeit wird durch Rezessus in der Gelenkkapsel ermöglicht. In der Streckstellung wird das Kniegelenk durch die Seitenbänder und das hintere Kreuzband stabilisiert. Eine muskuläre Stabilisierung ist nicht notwendig. Eine dauerhafte Streckung/Überstreckung im Kniegelenk führt zur Überlastung der Bänder und zum Genu recurvatum.
Die Bänder werden mit zunehmender Beugung entspannt und tragen weniger zur Stabilität bei. Zusätzlich ist die Form der Gelenkpartner für die Stabilität verantwortlich. Die Menisci werden als gleitende Gelenkflächen durch die Gelenkpartner passiv und durch einstrahlende Muskelsehnen aktiv verlagert.
Neben der Gewährleistung der passiven Stabilität sind die passiven Strukturen wichtige Informationsgeber für die neurogene Steuerung von Bewegung und Stabilität. Störungen dieser Strukturen führen zur Veränderung des propriozeptiven Inputs und damit zur Veränderung der Bewegungs- und Haltungssteuerung.
Veränderungen der Gelenkpartner, der Gelenkachsen, der Bandstabilität sowie der Gelenkkapsel führen zur Verminderung der passiven Stabilität und zur Überlastung aktiver Strukturen [23].
Die Kniegelenkmuskulatur spielt die wesentliche Rolle bei der Kniegelenkstabilität. Außer bei der maximalen Kniestreckung wird die Stabilität im physiologischen Bewegungsbereich überwiegend muskulär realisiert. Voraussetzung ist eine exakte muskuläre Steuerung, um eine physiologische Gelenkführung zu gewährleisten.
Die Muskulatur ermöglicht die aktive Streckung, Beugung und Rotation im Kniegelenk bzw. die Stabilisation des Gelenks in der jeweiligen Gegenrichtung. Des Weiteren strahlt die Muskulatur über ihre Sehnen in die Gelenkkapsel und die Bänder ein. Neben der passiven Bewegung der Menisci wird diese auch indirekt, z.B. über die aktive Patellabewegung, vermittelt. Dies ermöglicht eine feine Steuerung von Bewegung und Haltung im Kniegelenk.
Viele der Muskeln des Kniegelenks sind 2-gelenkig (Hüfte-Knie; Knie-Sprunggelenk). Bewegungen in diesen Gelenken beeinflussen die Aktivität und Effektivität der Kniegelenkmuskulatur. Störungen werden z.B. über die Gelenkachsenstellung und die Veränderung der Muskelaktivität an das Kniegelenk vermittelt [23].
Zentraler Bestandteil von Haltung und Bewegung ist die neurogene Steuerung. Priorität hat immer die Stabilität. Bei intendierten Bewegungen werden feste (erlernte) Bewegungsmuster abgerufen. Der muskulären Stabilisierung (Feed forward Aktivierung) folgt die eigentliche Zielbewegung [24]. Störungen dieser Bewegungsabläufe sind z.B. durch Schmerzreize, Zwangshaltungen oder Immobilisierungen in relativ kurzer Zeit möglich [16, 26, 27]. Veränderte Bewegungsmuster führen über muskuläre Dysbalancen zu Fehlbelastungen, unökonomischen Bewegungsabläufen, Schmerzen und einem erhöhten Verletzungsrisiko. Veränderte Bewegungsmuster sind Mitursache von chronischen Schmerzsyndromen [28].
Eine zentrale Rolle für die Funktion des Kniegelenks spielt der Fuß. Funktionsstörungen des Fußes verketten sich insbesondere über die Wadenmuskulatur und die Fibula auf das Kniegelenk [29]. Insbesondere die Aufhebung der Federfunktion des Fußes durch Fußbettung (Schuhversorgung) führt zur direkten Kraftübertragung auf das Knie und bei unzureichender muskulärer Stabilisierung zur Überlastung [30, 31].
Knieschmerzen – funktionelle Ursachen und referred Pain
Das Kniegelenk ist zentral in der Bewegungsachse der unteren Extremität. Um die Funktionalität und funktionelle Schmerzursachen zu eruieren, muss die gesamte untere Extremität inklusive Füße, Sprunggelenke, Knie, Hüfte, Becken und der lumbosakrale Übergang untersucht werden (Tab. 2).
Häufige schmerzhafte Funktionsstörungen des Knies sind Blockierungen des Fibulaköpfchens (meist sekundär zu Funktionsstörungen des Fußes), der Patella und des Kniegelenks selber. Hinzu kommen muskuläre Funktionsstörungen, insbesondere Triggerpunkte (Tab. 3). Muskuläre Triggerpunkte übertragen Schmerzen in die Knieregion auch unabhängig von segmentalen Bezügen [32]. Weitere Ausstrahlungsschmerzen (referred pain) kommen aus dem Wirbelsäulensegment L4 und dem Hüftgelenk.
Multimodale interdisziplinäre
Komplexbehandlung
chronischer Knieschmerzen
Die multimodale interdisziplinäre Komplexbehandlung chronischer Knieschmerzen zielt vorrangig darauf ab, den individuellen Umgang des Patienten mit dem Schmerz zu beeinflussen, die Aktivität zu steigern und negative Kompensationsmechanismen zu reduzieren.
Verhalten, Überzeugungen, kulturelle Prägungen sowie frühere Erfahrungen des Patienten im Umgang mit andauernden Schmerzen haben einen maßgeblichen Einfluss auf die Ausprägung der Symptome, den Umgang und die Wahl von Therapiemethoden sowie die Fähigkeiten, den Schmerz selbst zu managen (Selbstwirksamkeit). Negative Kompensationsmechanismen wie z.B. Schonhaltungen, Hinkmechanismen, Bewegungsangst sowie Tendenzen zu einem Überforderungs- oder Vermeidungsverhalten tragen maßgeblich zur Dekonditionierung und Schmerzchronifizierung bei [34].
In Folge dieser Kompensationsversuche resultieren auf der physischen Ebene ein Abbau an Muskulatur, muskuläre Dysbalancen, eine mangelnde Stabilität und eine Reduktion der kardiopulmonalen sowie muskulären Kondition.
Auf der psychosozialen Ebene stehen folgende Punkte im Vordergrund:
Verlust an Vertrauen in das eigene Können und den eigenen Körper
Angst vor bestimmten Haltungen, Belastungen und Tätigkeiten
Depressionen
Antriebslosigkeit
Dis-Stress
Viele chronische Schmerzpatienten berichten ebenfalls von einer verminderten Teilhabe am sozialen und familiären Leben sowie Konflikten am Arbeitsplatz und somit von einem sozialen Rückzug. Diese physischen, psychischen und sozialen Veränderungen führen zu einer Reduktion der Lebensqualität, was den Prozess der Chronifizierung vorantreibt und somit als eine Spirale der Dekonditionierung gesehen werden kann. Besonders eine verstärkte Teilhabe am sozialen Leben und somit eine Verbesserung alltäglicher Aktivitäten wird von vielen chronischen Schmerzpatienten als Therapieziel geäußert.
Um all diese Faktoren berücksichtigen zu können, greift ein Konzept zur Behandlung chronischer Schmerzpatienten auf das biopsychosoziale Modell von Engel zurück, in welchem neben den pathophysiologischen Vorgängen auch kognitive, affektive und sozio-kulturelle Faktoren berücksichtigt werden [35]. Auf diese Weise sollen Ressourcen und Bewältigungsstrategien wiedererworben und somit der oben beschriebene Prozess der Dekonditionierung unterbrochen werden.
Auf Grundlage des Therapieprogramms ESCAPE (Enabling Self-management and Coping with Arthritic knee Pain through Exercise), den Evidence-Based Clinical Practice Guidelines der AAOS (American Academy/Association of Orthopaedic Surgeons) und der Nationalen Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz wurde am Rückenzentrum St. Georg in Hamburg ein Konzept zur Behandlung chronischer Knieschmerzpatienten entwickelt [36, 37, 38].
Kernpunkte der Therapie sind die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Ärzten, Psychologen und Physiotherapeuten, um das zentrale Ziel einer ressourcenorientierten Wiederherstellung der objektiven und subjektiven Funktionsfähigkeit (Functional Restoration) mit Steigerung der Kontrollfähigkeit und des Kompetenzgefühls des Patienten über das eigene Schmerzgeschehen zu erreichen. In dem multimodalen Setting soll der Patient lernen, selbst aktiv gegen seinen Schmerz vorzugehen. Der therapeutische Ansatz zeichnet sich durch eine „Hands-off“-Strategie aus. Die Patienten sollen eigene Problemlösungsansätze erlernen und aktive Langzeitstrategien entwickeln, welche sich positiv auf den momentanen Schmerzlevel auswirken. Somit soll dem Patienten ermöglicht werden, selbst einen Einfluss auf das Schmerzgeschehen zu nehmen.
Von zentraler Bedeutung ist die gemeinsame Erarbeitung von patientenindividuellen realistischen Therapiezielen (kurz-, mittel- und langfristig). Die Schmerzreduktion steht nicht primär im Mittelpunkt der Behandlung. Es geht vielmehr um Aktivitätssteigerung zur Verbesserung von Funktion und Belastungsfähigkeit [36]. Die Therapiesteuerung erfolgt daher nicht auf Grundlage von Schmerzäußerungen, sondern basiert auf dem subjektiven Anstrengungsempfinden (Abb. 1).
Multimodales
interdisziplinäres Assessment
Vor der Aufnahme in die Therapie erfolgt ein multimodales interdisziplinäres Assessment. Alle an der Behandlung beteiligten Berufsgruppen (Arzt, Psychotherapeut, Physiotherapeut) nehmen eine individuelle Einschätzung des Patienten vor dem Hintergrund ihres spezifischen professionellen Backgrounds vor.
Der ärztliche Kontakt beinhaltet eine fundierte Erhebung der Anamnese, die gründliche körperliche Untersuchung (neuroorthopädisch, funktionell), die Bewertung der Vorbefunde (z.B. Bildgebung, Neurophysiologie) sowie der Vor- und aktuellen Behandlungen.
Das Augenmerk der psychologischen Basisdiagnostik ist die Identifikation der aus psychosozialer Sicht auslösenden oder aufrechterhaltenden Faktoren des Schmerzerlebens mit dem Ziel der Abschätzung, ob spezifische psychologische Aspekte im Behandlungssetting speziell berücksichtigt werden müssen und ob eine erfolgreiche Behandlung aufgrund komorbider psychischer Störungen realistisch erscheint.
Im physiotherapeutischen Eingangs-Assessment stehen die Funktionen und die Aktivitäten des täglichen Lebens des Patienten im Vordergrund. Ein funktioneller Befund wird erstellt, um Auffälligkeiten auf artikulärer, muskulärer und neuraler Ebene zu identifizieren und in das Therapieprogramm zu integrieren. Bei der körperlichen Untersuchung ist zwingend zu beachten, dass die Chronifizierung eine veränderte Interpretation der Schmerzprovokationsbefunde erfordert [40].
Unterstützt wird die Diagnostik durch standardisierte Fragebögen, z.B. Deutscher Schmerzfragebogen, und eine standardisierte Funktionstestung, z.B. mit dem AFPT (Aggregated Functional Performance Test [36]), oder dem 6-Minuten-Gehtest [41].
Von zentraler Bedeutung ist die Abklärung der Therapiemotivation. Nur durch die Bereitschaft des Patienten zur aktiven Verhaltensänderung kann ein langfristiger Erfolg durch die multimodale Schmerztherapie erreicht werden. Da es bislang noch kein evaluiertes und standardisiertes Erfassungsinstrument für Veränderungsmotivationen gibt, dienen die subjektiven Eindrücke des Arztes und von Psychologen und Physiotherapeuten als Beurteilungskriterium.
Die erhobenen Befunde werden in einer Teambesprechung zu einem strukturellen, funktionellen und psychosozialen Befund zusammengetragen, diskutiert und in ihrer Relevanz für das Schmerzgeschehen gewichtet.
Multimodale
interdisziplinäre Therapie
Die multimodale interdisziplinäre Komplexbehandlung von Patienten mit chronischen Knieschmerzen findet in Kleingruppen von maximal 8 Patienten in einem 4-Wochen-Programm statt. Ziel des Gruppensettings ist, dass die Patienten voneinander lernen, ihre Beschwerden differenzierter bewerten und Austauschmöglichkeiten mit Menschen haben, die unter ähnlichen Beschwerden leiden, und somit aus ihrem sozialen Rückzug geholt werden. Zudem führt die Gruppendynamik zu einem offenen Umgang mit dem Thema Schmerz und zu einer Reduktion des Vermeidungsverhaltens.
In den mehrmals pro Woche stattfindenden Teambesprechungen wird aus allen Berufsgruppen der aktuelle körperliche und psychische Status der Patienten zurückgekoppelt und das weitere Vorgehen besprochen. Bei Schmerzverstärkungen wird gemeinschaftlich im Team über eine Änderung der Herangehensweise oder der Medikation diskutiert. Des Weiteren werden „obstacles to return to work“ besprochen.
Themen und Inhalte aller Gruppenbehandlungen sind festgelegt und dem gesamten Therapeuten-Team bekannt. Dies führt zu einem übereinstimmenden interdisziplinären Informationsfluss und fördert das Vertrauen der Patienten in das Team (Abb. 2).
Die ärztlichen Basis-Informationseinheiten werden in 2 Blöcken pro Woche abgehalten. Wesentliche Schwerpunkte liegen in den Bereichen Edukation und Aufklärung:
Zentrale Schmerzverarbeitungsmechanismen
Anatomie und muskuläre Ansteuerungsmechanismen des Kniegelenks
Operative und konservative Therapieverfahren und deren Evidenz
Bildgebung und die Relevanz der Befunde
Medikamentöse Schmerz-Therapieoptionen
Sozialmedizin
Hierdurch wird es den Patienten ermöglicht, sich ein Bild über die Komplexität der Kniegelenkfunktion und ihrer individuellen Problematik zu machen. Ziel ist es, ein besseres Eigen-Management zu erreicht und die iatrogene Fixierung aufzulösen.
In den wöchentlich stattfindenden Visiten liegt das Hauptaugenmerk auf der 100 %-igen aktiven Teilnahme der Patienten an allen Therapiemaßnahmen (Verhinderung von Vermeidung). Zusätzlich wird eine wertschätzende regelmäßige Bestätigung oder ggf. Modifikation der gemeinsam definierten Ziele vorgenommen, damit sowohl der Patient als auch das Therapeuten-Team gezielt hierauf hinarbeiten können.
Eine wesentliche Grundlage ist eine von Empathie getragene vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung. Klassische ärztliche Interventionen wie z.B. die Änderungen der Medikation, Infiltrationen oder manualmedizinische Interventionen sowie die Anordnung passiver physiotherapeutischer/physikalischer Maßnahmen werden funktionskontingent und ausschließlich nach Rücksprache im Behandlungsteam durchgeführt. Zwingend erforderlich ist, dass der Arzt für das gesamte Therapeuten-Team jederzeit für Fragen zur Verfügung steht. Nur so ist die erforderliche Behandlungsintensität und Kontinuität zu realisieren [40].
Die psychotherapeutische Gruppenbehandlung wird in 2 Einheiten je 90 Minuten (Schmerzbewältigungstherapie) und in 2 Einheiten je 45 bzw. 30 Minuten (Entspannungstherapie) pro Woche abgehalten. Zusätzlich zu den Gruppenbehandlungen werden bei Bedarf psychotherapeutische Einzelgespräche angeboten. Während dieser Einzelsitzungen wird gemeinsam eruiert, ob über das Gruppenprogramm hinaus eine längerfristige, ambulante psychotherapeutische Behandlung indiziert ist.
Die psychotherapeutische Behandlung im Rahmen der interdisziplinären multimodalen Schmerztherapie basiert auf Prinzipien der kognitiven Verhaltenstherapie. Grundlage der Therapie ist, dass neben der Nozizeption die emotionale Bewertung des Schmerzes und das Schmerzverhalten maßgeblich am Schmerzerleben und der Schmerzchronifizierung beteiligt sind. Das primär oft somatisch geprägte Krankheitsmodell der Patienten wird im Rahmen der Therapie zu einem biopsychosozialen Krankheitsmodell ausgebaut und das Kontroll- und Kompetenzerleben gesteigert.
Dysfunktionale Kognitionen, z.B. das sogenannte Katastrophisieren („ich werde nie wieder richtig gehen können“ etc.) werden im Rahmen der Therapie bearbeitet. Gezielte kognitive Umstrukturierungsmaßnahmen werden genutzt, um einer unrealistischen und exzessiven gedanklichen Verschlimmerung der eigenen Situation entgegenzuwirken. Hierzu wird der Zusammenhang zwischen Gedanken, Gefühlen und Verhalten erläutert und neue angemessene Sichtweisen erarbeitet.
Bei einer Mehrzahl der chronischen Schmerzpatienten sind psychosoziale Belastungsfaktoren, wie z.B. Konflikte am Arbeitsplatz oder sozialer Rückzug vorhanden. Dieses hohe soziale Belastungsniveau, gepaart mit depressiven Symptomen und ausgeprägtem Angstvermeidungsverhalten, führt häufig zu einer Überforderung der Patienten und zu einem deutlich erhöhten Stresslevel. Zur Stressbewältigung werden die Auswirkungen von chronischem Stress auf den Körper erarbeitet und in der Gruppe diskutiert. Die verschiedenen Ebenen von Stress (Stressoren, Stressverstärkung und Stressreaktion) werden individuell herausgearbeitet und entsprechende Ansatzpunkte und erste Lösungswege in der Gruppe erarbeitet.
Ein wesentlicher psychotherapeutischer Behandlungsansatz ist die Schmerzdefokussierung. Im Genusstraining geht es um Übungen zur Reaktivierung der Genussfähigkeit und der Förderung angenehmer Körpererfahrungen mit dem Ziel, den Schmerz durch die Freude, das Lachen und die Konzentration auf positive Aspekte den Alltags bewusst in den Hintergrund zu drängen. Dies kann in unterschiedlicher Art und Weise geschehen, zum Beispiel Entspannung unter emotional positiven Vorstellungen oder auch Aufmerksamkeitslenkung über wenig genutzte sensorische Kanäle (z.B. Geruchs- oder Tastsinn). Auch sich selbst zu belohnen und sich lange Gewünschtes zu erfüllen oder einfach nur die kleinen Freuden des Alltags zu entdecken, sind Bausteine dieser positiven Aufmerksamkeitslenkung.
Entspannungstherapien werden regelmäßig im Rahmen von multimodalen Schmerztherapien angewandt. Bei der Progressiven Muskelentspannung nach Jacobson (PME) handelt es sich um ein Verfahren, bei dem durch die willentliche und bewusste An- und Entspannung bestimmter Muskelgruppen ein Zustand tiefer Entspannung des ganzen Körpers erreicht werden soll. Dieses Training dient der Unterbrechung des Teufelskreislaufs aus Schmerz-Anspannung-Stress, indem erhöhte Muskelaktivität gezielt reduziert wird.
Die funktionelle Behandlung im multimodalen interdisziplinären Behandlungsprogramm setzt sich aus der medizinischen Trainingstherapie, physiotherapeutischen Gruppenbehandlungen und dem Work Hardening zusammen.
Die Trainingssteuerung in der Medizinischen Trainingstherapie (MTT) erfolgt nicht schmerzorientiert, sondern leistungskontingent. Dies bedeutet, dass der unter Belastung auftretende Schmerz weder ein Abbruchkriterium darstellt, noch die Trainingssteuerung bestimmt. Hauptkriterium für die Trainingssteuerung ist die individuelle Leistungsfähigkeit des Patienten mit dem Ziel der Funktionsverbesserung. Häufig liegt die Schmerzgrenze der Patienten unterhalb der Reizschwelle der Muskulatur und muss zur Erreichung adäquater Trainingsreize überschritten werden. Die individuelle Trainingssteuerung orientiert sich nicht am pathophysiologischen Befund des Patienten, sondern am Zustand der oft dekonditionierten Muskulatur mit dem Ziel der Wiederherstellung/Verbesserung von Stabilität und Belastbarkeit [42].
Durch zahlreiche Studien konnte bei Patienten mit chronischem Knieschmerz eine Schwäche der Glutealmuskulatur [43, 44], sowie eine Atrophie des M. quadriceps vastus medialis [45, 46, 47] gezeigt werden. Sowohl der abduktorischen Hüftmuskulatur als auch dem M. quadriceps vastus medialis werden wichtige stabilisierende Funktionen für das Kniegelenk zugesprochen. 53 % der medialen Stabilisation der Patella erfolgen z.B. durch die horizontalen Fasern des M. quadriceps vastus medialis [47].
Ein regelmäßiges kardiopulmonales Ausdauertraining ist Bestandteil der multimodalen interdisziplinären Schmerztherapie. Viele Patienten haben aufgrund langer Phasen der Schonung an kardiopulmonaler und muskulärer Ausdauerleistungsfähigkeit eingebüßt. Häufig wird von Patienten mit chronischen Knieschmerzen das klare Ziel formuliert, wieder längere Distanzen Fahrrad fahren zu können sowie die Geh- oder Joggingstrecke zu vergrößern. Des Weiteren wirkt sich die Verbesserung der allgemeinen Ausdauerfähigkeit positiv auf Depressionen und die allgemeine Stimmungslage aus [48, 49].
Ein Kernstück der multimodalen interdisziplinären Schmerztherapie stellt das Work Hardening dar. Work Hardening ist eine intensive funktionelle, körperlich aktivierende Maßnahme mit dem Ziel den Patienten auf berufsspezifische und private Alltagssituationen, -abläufe und -belastungen vorzubereiten und diese somit zu rekonditionieren [42, 50, 51]. Durch einen Fragebogen wird erhoben, welche alltags- und berufsspezifischen Tätigkeiten die Patienten wieder besser und mit mehr Selbstvertrauen ausführen wollen und welche Belastungen die Knieschmerzen hervorrufen oder momentan gar nicht ausgeführt werden können. Die Patienten sollen ihr aktuelles Aktivitätslevel sowie das Ausmaß, mit dem der Knieschmerz ihr alltägliches Leben beeinflusst, einschätzen. Durch eine stufenweise Steigerung der Belastung im Sinne des Pacings werden diese Tätigkeiten gemeinsam mit dem Patienten geübt. Vielfache Wiederholungen über einen festgelegten Zeitraum sollen eine Bewusstseinserweiterung für das eigene Körpergefühl hervorrufen und die Angst vor bestimmten Belastungen reduzieren (Abb. 3).
Durch das Erkennen und Steuern kognitiver Leistungsmodelle (Überforderer, Vermeider) wird eine progressive, individuell angepasste Belastungssteigerung ermöglicht, welche im Work Hardening nicht nur durch Erhöhung der Gewichte erfolgt, sondern auch durch Veränderungen der Körperhaltungen, der Komplexität von Bewegungsmustern sowie eine Erhöhung der Belastungsdauer. Das Work Hardening stellt besondere Anforderungen an Therapeut und Patient. Aufgabe des Therapeuten ist es, Defizite und Ressourcen des Patienten zu erkennen, zu analysieren und gezielt individuell zu nutzen und zu therapieren. Hierfür muss eine intensive Vertrauensbasis zwischen Therapeut und Patient hergestellt werden, da vermeintlich verbotene oder angstbesetzte Haltungen und Belastungen von dem Patienten gefordert werden [42, 50].
In der physiotherapeutischen Behandlung geht es um die Verbesserung der muskulären Stabilität von Haltung und Bewegung sowie um die Verbesserung der Bewegungsabläufe (inter- und intramuskuläre Koordination). Unter anderem wird durch eine EMS (Elektrische Muskelstimmulation)-getriggerte Aktivierung das Onset des M. Quadriceps vastus medialis sowie die Intensität der Aktivierung unter Belastung gesteigert und bei mangelnder Rekrutierbarkeit geschult [52]. Darüber hinaus soll durch spielerische Einheiten mit verschiedenen Trainingsgegenständen eine Steigerung der Freude an Bewegung erreicht werden. Besonders der Koordination wird eine wichtige Rolle zugeschrieben, da sie die Grundlage bildet, „um neue Bewegungen rasch zu erlernen, ungewohnte Bewegungen kontrolliert und effektiv durchzuführen sowie notwendige Änderungen im Bewegungsablauf adäquat umsetzen zu können“ [42].
Zum Ende des Programms erfolgt ein gemeinsamer Rückblick zur Evaluation des Erreichten. Die Patienten werden ermutigt den eigenen Zustand selbst zu managen und einen aktiveren Lebensstil anzunehmen, um so die erreichte Stabilität, Flexibilität und Funktion des Knies zu erhalten und weiter auszubauen. Ebenso ist es von großer Bedeutung, weitere langfristige physische und psychosoziale Ziele sowie den weiteren Verlauf mit den Patienten zu besprechen und sie zu einer selbständigen Fortsetzung aller individuell relevanten Therapiekomponenten zu motivieren.
Da dieses deutschlandweit einzigartige Pilotprojekt im Rückenzentrum St. Georg erst seit circa 4 Monaten besteht, kann noch keine Aussage über die langfristige Effektivität gemacht werden. Die ersten Erfahrungen zeigen jedoch positive Ergebnisse. Vergleichbare multimodale Komplexbehandlungen, z.B. bei chronischem Rückenschmerz, liefern aber in zahlreichen randomisierten, kontrollierten Studien sehr beachtliche Ergebnisse. So wird eine signifikante Verbesserung der schmerzbezogenen Beeinträchtigung, eine hohe Rückkehrquote an den Arbeitsplatz sowie eine signifikante Verbesserung der psychosozialen Beeinträchtigungsmaße wie Depressivität, Angst und schmerzbezogene Kognitionen auch über einen Zeitraum von 6 und 12 Monaten postuliert [40, 53].
Interessenkonflikt: Keine angegeben
Korrespondenzadresse
Dr. med. Kay Niemier
Klinik für Manuelle Therapie
Ostenallee 83
59063 Hamm
kay.niemier@kmt-hamm.de
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Fussnoten
1 Klinik für Manuelle Therapie, Hamm
2 Rückenzentrum St. Georg, Hamburg
3 Rückenzentrum am Michel, Hamburg