Übersichtsarbeiten - OUP 05/2021
Das lumbale Wurzelreizsyndrom aus neurologischer SichtKlinischer Ansatz und diagnostische Methoden
Nicole König, Patricia Vanda Forras, Julia-Katharina Seybold
Zusammenfassung:
Das lumbale Wurzelreizsyndrom ist ein Schmerzen beinhaltender Symptomkomplex, der gelegentlich auch von einer Fokalneurologie begleitet wird, wobei es zu differenzieren gilt, inwiefern ein Zusammenhang zwischen den neurologischen Ausfällen und Pathologien der Lendenwirbelsäule besteht. Darüber hinaus stellt sich dann die Frage, in welcher Konstellation ein Handlungsbedarf besteht und wie dessen Dringlichkeit einzuschätzen ist. Neben einer ausführlichen Anamnese und klinisch-neurologischen Untersuchung bietet die Ergänzung elektrophysiologischer Diagnostik eine effiziente Möglichkeit, sich diesen Fragestellungen präzise nähern zu können. In Anbetracht der Bandbreite möglicher Differenzialdiagnosen dienen eine ausführliche Anamnese und präzise klinischen Untersuchung bereits zur Erstellung einer Arbeitsdiagnose. Die Ergänzung der sinnvollen apparativen Diagnostik soll letztlich zur Diagnosesicherung beitragen mit nachfolgender Generierung einer Handlungsmaßgabe. Dabei kann auf eine Elektromyographie, Elektroneurographie oder evozierte Potenziale zurückgegriffen werden. Abhängig von der individuellen Fragestellung ist hierdurch eine Lokalisierung, Abschätzung von Art und Ausmaß der Schädigung sowie ggf. auch eine Prognoseabschätzung möglich.
Schlüsselwörter:
Wurzelreizsyndrom, Rückenschmerzen, Neuroorthopädie, Neurophysiologie, Elektroneurographie, Elektromyographie, Lebensqualität
Zitierweise:
König N, Forras PV, Seybold J-K: Das lumbale Wurzelreizsyndrom aus neurologischer Sicht.
Klinischer Ansatz und diagnostische Methoden.
OUP 2021; 10: 207–212
DOI 10.3238/oup.2021.0207–0212
Summary: The lumbar root irritation syndrome is defined by pain and/or various other symptoms occasionaly also including neurological failures. It is a challenging task to differentiate, wether sensomotoric disturbances are associated with pathological findings of the lumbar spine and assessing the urgency of e.g. invasive treatment measures. Beside a detailed medical history and the neurological examination, electrophysiologic diagnostic tools offer an effective approach for these issues. Considering the broad range of possible differential diagnosis, a precise evaluation of medical history and accurate neurological examination are required to develop a hypothesis for a certain diagnosis. The addition of apparative diagnostic measures is supposed to help to secure a certain diagnosis and afterwards supporting the decision towards taking action. Those measures may include electromyography, electroneurography or electrically evoked responses. Depending on the individual question, those methods allow an assessment of quality and quantity of neurological damage, and possibly an evaluation of prognosis.
Keywords: Root irritation syndrome, back pain, neuroorthopadics, neurophysiology, electroneurography,
electromyography
Citation: König N, Forras PV, Seybold J-K: A neurologist’s perspective on the lumbar root irritation syndrome clinical approach and diagnostic methods. OUP 2021; 10: 207–212. DOI 10.3238/oup.2021.0207–0212
Klinik und Poliklinik für Neurologie der Universität Regensburg am Bezirksklinikum Regensburg
Einleitung
Ein dem Orthopäden und auch dem Neurologen gut bekanntes Szenario: Der Patient/die Patientin stellt sich mit Rückenschmerzen vor. Das daraufhin angefertigte MRT der LWS weist manchmal eine neuroforaminale Enge oder eine Myelopathie, aber viel häufiger doch eher unspezifische Auffälligkeiten, wie multisegmentale Protrusionen oder noch unspezifischere Befunde nach. Oft stellt sich dann die Frage, ob und inwiefern ein Zusammenhang der Bildgebung mit den klinischen Beschwerden besteht. Hier kann die neurologische Untersuchung bzw. Zusatzdiagnostik helfen, einen solchen Zusammenhang zu unterstützen oder auch zu widerlegen. Im Folgenden möchten wir Ihnen das lumbale Wurzelreizphänomen aus neurologischer Sicht näherbringen, relevante Differenzialdiagnosen diskutieren und einen möglichst „alltagstauglichen“ Ansatz im Umgang mit dem Phänomen vorschlagen.
Anamnese und klinischer Befund
Relevante anamnestische Punkte und „Red Flags“
Das lumbale Wurzelreizsyndrom bezeichnet im Wesentlichen die Symptomkonstellation aus einem lumbal gelegenen Schmerz mit gegebenenfalls Ausstrahlung in die unteren Extremitäten, bedingt durch eine lokale Kompression und damit einhergehende Reizung einzelner oder mehrerer Spinalnerven des Plexus lumbosacralis. In Abhängigkeit des Ausmaßes der Wurzelkompression können die Schmerzen darüber hinaus von einer sensiblen und/oder motorischen Symptomatik begleitet sein, welche sich auf das betroffene Segment in Lokalisation und Ausdehnung zurückführen lässt [1].
Tatsächlich werden lumbale Bandscheibenvorfälle bei klinisch asymptomatischen Patienten mittels MRT bei 20–30 % der unter 60-Jährigen und bei > 60 % der über 60-Jährigen gefunden [5]. Somit sollte immer ein sicherer Zusammenhang zwischen Beschwerden und Bildgebung hergestellt werden, um zielgerichtet die Beschwerden und nicht nur das Bild zu behandeln.
Eine der Fragestellung gerechte Anamnese des Patienten ist dabei maßgeblich zur Einschätzung eines akuten Handlungsbedarfs und kann bereits zur präzisen Verfassung der Arbeitsdiagnose beitragen. Dabei gilt es als Behandler vor allem hinsichtlich einer zügigen Behandlungskonsequenz, den zeitlichen Verlauf sowie das Ausmaß des Auftretens der Beschwerden aufmerksam zu rekonstruieren. Blasen- und Mastdarmstörungen sowie auch zunehmende Paresen gelten dabei als „Red Flags“ in Zusammenhang mit radikulären Syndromen [1, 5].
Werden lediglich Rückenschmerzen ohne ein fassbares fokalneurologisches Defizit festgestellt, muss an ein „pseudoradikuläres Syndrom“ gedacht werden. Die Schmerzen können in ihrer Ausstrahlung durchaus radikulär erscheinen, sind aber von der lumbalen Radikulopathie durch das Fehlen von fokalneurologischen Defiziten differenzierbar [5].
Zur weiteren differenzialdiagnostischen Einordnung sollten dann Begleiterkrankungen erfragt werden, im näheren Sinne im Hinblick auf mögliche posttraumatische Läsionen, entzündliche Erkrankungen (insbesondere des rheumatoiden Formenkreises oder auch die Multiple Sklerose), allgemeine Erkrankungen des Bewegungsapparats (z.B. Arthrose, Osteoporose), Muskelerkrankungen, das Wissen über Tumorerkrankungen in der Eigen- und Familienanamnese sowie eine komplette Medikamentenanamnese [1, 5].
Darüber hinaus sollte stets eine ausführliche Schmerzanamnese durchgeführt werden, welche neben der bereits genannten Erfassung der Lokalisation mit der Qualität (klassischerweise ziehend-reißend, elektrisierend, kribbelnd), Stärke, Dauer, Auslösemechanismen und Provozierbarkeit, Frequenz des Auftretens sowie etwaigen Begleitsymptomen in Form von sensomotorischen oder vegetativen Defiziten beinhalten sollte [1].