Übersichtsarbeiten - OUP 05/2021
Das lumbale Wurzelreizsyndrom aus neurologischer SichtKlinischer Ansatz und diagnostische Methoden
Nicole König, Patricia Vanda Forras, Julia-Katharina Seybold
Zusammenfassung:
Das lumbale Wurzelreizsyndrom ist ein Schmerzen beinhaltender Symptomkomplex, der gelegentlich auch von einer Fokalneurologie begleitet wird, wobei es zu differenzieren gilt, inwiefern ein Zusammenhang zwischen den neurologischen Ausfällen und Pathologien der Lendenwirbelsäule besteht. Darüber hinaus stellt sich dann die Frage, in welcher Konstellation ein Handlungsbedarf besteht und wie dessen Dringlichkeit einzuschätzen ist. Neben einer ausführlichen Anamnese und klinisch-neurologischen Untersuchung bietet die Ergänzung elektrophysiologischer Diagnostik eine effiziente Möglichkeit, sich diesen Fragestellungen präzise nähern zu können. In Anbetracht der Bandbreite möglicher Differenzialdiagnosen dienen eine ausführliche Anamnese und präzise klinischen Untersuchung bereits zur Erstellung einer Arbeitsdiagnose. Die Ergänzung der sinnvollen apparativen Diagnostik soll letztlich zur Diagnosesicherung beitragen mit nachfolgender Generierung einer Handlungsmaßgabe. Dabei kann auf eine Elektromyographie, Elektroneurographie oder evozierte Potenziale zurückgegriffen werden. Abhängig von der individuellen Fragestellung ist hierdurch eine Lokalisierung, Abschätzung von Art und Ausmaß der Schädigung sowie ggf. auch eine Prognoseabschätzung möglich.
Schlüsselwörter:
Wurzelreizsyndrom, Rückenschmerzen, Neuroorthopädie, Neurophysiologie, Elektroneurographie, Elektromyographie, Lebensqualität
Zitierweise:
König N, Forras PV, Seybold J-K: Das lumbale Wurzelreizsyndrom aus neurologischer Sicht.
Klinischer Ansatz und diagnostische Methoden.
OUP 2021; 10: 207–212
DOI 10.3238/oup.2021.0207–0212
Summary: The lumbar root irritation syndrome is defined by pain and/or various other symptoms occasionaly also including neurological failures. It is a challenging task to differentiate, wether sensomotoric disturbances are associated with pathological findings of the lumbar spine and assessing the urgency of e.g. invasive treatment measures. Beside a detailed medical history and the neurological examination, electrophysiologic diagnostic tools offer an effective approach for these issues. Considering the broad range of possible differential diagnosis, a precise evaluation of medical history and accurate neurological examination are required to develop a hypothesis for a certain diagnosis. The addition of apparative diagnostic measures is supposed to help to secure a certain diagnosis and afterwards supporting the decision towards taking action. Those measures may include electromyography, electroneurography or electrically evoked responses. Depending on the individual question, those methods allow an assessment of quality and quantity of neurological damage, and possibly an evaluation of prognosis.
Keywords: Root irritation syndrome, back pain, neuroorthopadics, neurophysiology, electroneurography,
electromyography
Citation: König N, Forras PV, Seybold J-K: A neurologist’s perspective on the lumbar root irritation syndrome clinical approach and diagnostic methods. OUP 2021; 10: 207–212. DOI 10.3238/oup.2021.0207–0212
Klinik und Poliklinik für Neurologie der Universität Regensburg am Bezirksklinikum Regensburg
Einleitung
Ein dem Orthopäden und auch dem Neurologen gut bekanntes Szenario: Der Patient/die Patientin stellt sich mit Rückenschmerzen vor. Das daraufhin angefertigte MRT der LWS weist manchmal eine neuroforaminale Enge oder eine Myelopathie, aber viel häufiger doch eher unspezifische Auffälligkeiten, wie multisegmentale Protrusionen oder noch unspezifischere Befunde nach. Oft stellt sich dann die Frage, ob und inwiefern ein Zusammenhang der Bildgebung mit den klinischen Beschwerden besteht. Hier kann die neurologische Untersuchung bzw. Zusatzdiagnostik helfen, einen solchen Zusammenhang zu unterstützen oder auch zu widerlegen. Im Folgenden möchten wir Ihnen das lumbale Wurzelreizphänomen aus neurologischer Sicht näherbringen, relevante Differenzialdiagnosen diskutieren und einen möglichst „alltagstauglichen“ Ansatz im Umgang mit dem Phänomen vorschlagen.
Anamnese und klinischer Befund
Relevante anamnestische Punkte und „Red Flags“
Das lumbale Wurzelreizsyndrom bezeichnet im Wesentlichen die Symptomkonstellation aus einem lumbal gelegenen Schmerz mit gegebenenfalls Ausstrahlung in die unteren Extremitäten, bedingt durch eine lokale Kompression und damit einhergehende Reizung einzelner oder mehrerer Spinalnerven des Plexus lumbosacralis. In Abhängigkeit des Ausmaßes der Wurzelkompression können die Schmerzen darüber hinaus von einer sensiblen und/oder motorischen Symptomatik begleitet sein, welche sich auf das betroffene Segment in Lokalisation und Ausdehnung zurückführen lässt [1].
Tatsächlich werden lumbale Bandscheibenvorfälle bei klinisch asymptomatischen Patienten mittels MRT bei 20–30 % der unter 60-Jährigen und bei > 60 % der über 60-Jährigen gefunden [5]. Somit sollte immer ein sicherer Zusammenhang zwischen Beschwerden und Bildgebung hergestellt werden, um zielgerichtet die Beschwerden und nicht nur das Bild zu behandeln.
Eine der Fragestellung gerechte Anamnese des Patienten ist dabei maßgeblich zur Einschätzung eines akuten Handlungsbedarfs und kann bereits zur präzisen Verfassung der Arbeitsdiagnose beitragen. Dabei gilt es als Behandler vor allem hinsichtlich einer zügigen Behandlungskonsequenz, den zeitlichen Verlauf sowie das Ausmaß des Auftretens der Beschwerden aufmerksam zu rekonstruieren. Blasen- und Mastdarmstörungen sowie auch zunehmende Paresen gelten dabei als „Red Flags“ in Zusammenhang mit radikulären Syndromen [1, 5].
Werden lediglich Rückenschmerzen ohne ein fassbares fokalneurologisches Defizit festgestellt, muss an ein „pseudoradikuläres Syndrom“ gedacht werden. Die Schmerzen können in ihrer Ausstrahlung durchaus radikulär erscheinen, sind aber von der lumbalen Radikulopathie durch das Fehlen von fokalneurologischen Defiziten differenzierbar [5].
Zur weiteren differenzialdiagnostischen Einordnung sollten dann Begleiterkrankungen erfragt werden, im näheren Sinne im Hinblick auf mögliche posttraumatische Läsionen, entzündliche Erkrankungen (insbesondere des rheumatoiden Formenkreises oder auch die Multiple Sklerose), allgemeine Erkrankungen des Bewegungsapparats (z.B. Arthrose, Osteoporose), Muskelerkrankungen, das Wissen über Tumorerkrankungen in der Eigen- und Familienanamnese sowie eine komplette Medikamentenanamnese [1, 5].
Darüber hinaus sollte stets eine ausführliche Schmerzanamnese durchgeführt werden, welche neben der bereits genannten Erfassung der Lokalisation mit der Qualität (klassischerweise ziehend-reißend, elektrisierend, kribbelnd), Stärke, Dauer, Auslösemechanismen und Provozierbarkeit, Frequenz des Auftretens sowie etwaigen Begleitsymptomen in Form von sensomotorischen oder vegetativen Defiziten beinhalten sollte [1].
Ergänzend zur ausführlichen Anamnese sowie einer allgemeinen körperlichen Untersuchung inklusive der Prüfung einer Klopfdolenz, ist vor allem die Untersuchung der Motorik (inkl. Tonus, Muskeleigenreflexstatus, Kraft- und Einzelkraftprüfung, Gangbild) sowie Sensibilität aus neurologischer Sicht von besonderer Bedeutung. Zur Prüfung der Sensibilität sollte der Patient/die Patientin entkleidet untersucht werden. Bei der Prüfung der Oberflächensensibilität durch Berührung wird auf die Angabe von ausstrahlenden Missempfindungen entsprechend der unterschiedlichen Dermatome geachtet (Tab. 1). Sollte die angegebene Sensibilitätsstörung nicht zu einem Dermatom passen, kommen noch die Versorgungsgebiete einzelner Nerven oder des Plexus in Frage. Bei Plexusläsionen können die Angaben auch eher diffus sein. Bei zentral bedingten Sensibilitätsstörungen sind sie eher generalisiert und betreffen bspw. eine gesamte Extremität. Im Falle einer Polyneuropathie werden typischerweise symmetrische, „strumpfförmige“ Missempfindungen festgestellt. Zudem kann zur weiteren Differenzialdiagnostik eine orientierende Untersuchung der Koordination sowie der Hirnnerven sinnvoll sein. Letzteres bezieht sich allem voran auf das Szenario einer möglichen zentral-neurologischen Differenzialdiagnose.
Bei anamnestisch im Vordergrund stehenden Schmerzen sollte vor allem ein Augenmerk auf die Lokalisation und Ausdehnung derer gelegt werden, um eine radikuläre Zuordnung zu ermöglichen. Typisch für Wurzelreizphänomene sind die Angabe von Missempfindungen sowie ein ziehender, brennender oder elektrisierender Charakter im Sinne neuropathischer Schmerzen. Eine weitere Näherung erlaubt die Untersuchung radikulärer Reizzeichen wie dem Lasègue-Zeichen (ggf. umgekehrtes und gekreuztes Lasègue-Zeichen) sowie dem Bragard-Zeichen. Letzteres kann auch gut zur Abgrenzung eines Dehnungsschmerzes der ischiokruralen Muskulatur verwendet werden [1].
Ergänzend hierzu kann zur Abgrenzung einer funktionellen Genese das Sitzen mit langgestreckten Beinen beurteilt werden, was im Wesentlichen in Bezug auf die Wurzeldehnung der Prüfung des Lasègue-Zeichens entspricht.
In der Untersuchung sollte zudem auf eine motorische Schwäche, insbesondere der zur Radix gehörenden Kennmuskeln – im Sinne einer schlaffen Parese - mit typischerweise abgeschwächtem Muskeleigenreflex geachtet werden (Tab. 1). In Kenntnis der radikulären Zugehörigkeit der Beinmuskulatur sowie der peripheren Innervation sollte anhand des Musters der erfassten Paresen eine erste Zuordnung der Läsionslokalisation sowie -höhe gelingen. Entsteht beim Untersucher der Eindruck einer über das gewöhnliche Ausmaß hinausgehenden Pathologie, sollte darüber hinaus eine zentrale Genese bedacht werden, welcher sich klinisch durch generalisierte Paresen (z.B. Hemiparese, Parese einer gesamten Extremität, proximal und distal anstatt isolierter Paresen) durch den Nachweis von Pyramidenbahnzeichen und/oder gesteigerten Muskeleigenreflexen genähert werden kann.
Relevante Differenzialdiagnosen
Im Wesentlichen lassen sich die relevanten Differenzialdiagnosen im Hinblick auf die Lokalisierung des Schadens sowie die Ätiologie unterscheiden.
Sicherlich als am häufigsten zu nennen sind degenerative Veränderungen des Wirbelsäulenapparats wie bspw. eine Spinalkanalstenose oder eine Bandscheibenprotrusion bzw. -prolaps. Darüber hinaus sind ferner muskuloskelettale Genesen wie bei einem Facettensyndrom, einem ISG-Syndrom oder muskulären Syndromen (z.B. dem Piriformis-Syndrom) zu bedenken. Mögliche entzündliche Genesen wären im Rahmen rheumatologischer, als auch neurologischer Erkrankungen denkbar. Insbesondere anhand laborchemischer und bildmorphologischer Diagnostik wäre ein M. Bechterew oder eine Spondylodiszitis identifizierbar. Hinsichtlich neurologischer Differenzialdiagnosen sollten einerseits „myelonnahe“ Erkrankungen bedacht werden. Hierzu zählen zum einen Raumforderungen im Sinne von Metastasen (inkl. dem Spezialfall einer Meningeosis neoplastica), spinaler Primärtumoren oder eines epiduralen Abszesses, gefolgt von einer Radikulopathie/Radikulitis sowie einer autoimmun-entzündlichen, erregerbedingten oder metabolischen Genese. Ein ähnliches und oftmals eher diffuseres Beschwerdebild geht in Zusammenhang mit einer Affektion des Plexus lumbosacralis einher, wobei hier allem voran eine Plexusneuritis (erregerbedingt vs. entzündlich) sowie ggf. ein postradiogener Plexusschaden bedacht werden sollte [1].
Inwieweit kann nun die neurologische Zusatzdiagnostik bei der weiteren Einordnung helfen? Welche Faktoren sprechen neben dem klinischen Befund für einen höhergradigen Wurzelschaden und welche eher dagegen? Wie kann man sich den relevanten Differenzialdiagnosen nähern? Dies wird im Folgenden erläutert.
Die Bedeutung der
Elektrophysiologie für die Interpretation der
klinischen Befunde
Methoden
Neurographien
Mittels der Elektroneurographie wird das elektrische Antwortpotenzial sensibler und/oder motorischer peripherer Nerven erfasst. Vom Prinzip her erfolgt bei der motorischen Neurographie eine supramaximale, elektrische Stimulation eines motorischen oder gemischten Nervens. Abgeleitet wird sodann die dabei ausgelöste elektrische Antwort des von diesem Nerven innervierten Muskels, das sogenannte Muskelsummenaktionspotenzial (MSAP) [2, 3].
Die Auswertung umfasst die Bestimmung der distal-motorischen Leitungszeit (DML, motorische Neurographie) sowie der Latenz (sensible Neurographie), der Nervenleitgeschwindigkeit (NLG), welche sich im Wesentlichen im Sinne einer Nervenabschnittsgeschwindigkeit berechnet, sowie der Amplitude des MSAPs sowie des sensiblen Nervenaktionspotentials. Ergänzend hierzu wird die Bestimmung der sogenannten „F-Wellen“ durchgeführt, welche Spätantworten nach peripherer Stimulation darstellen und darauf beruhen, dass nach jeder peripheren Stimulation sowohl eine ortho- als auch antidrome Erregungsfortleitung entsteht, welche durch die Alphamotoneurone am Axonhügel gespiegelt werden und somit eine zusätzliche, wenn auch eher unspezifische Aussagekraft hinsichtlich einer proximalen Pathologie, wie etwa auch bei einem Prozess mit Wurzelaffektion, geben [2, 3].
Der Nutzen neurographischer Untersuchungen umfasst die Lokalisation von Läsionsorten, die bessere Klassifizierung der zugrundeliegenden Pathophysiologie, die Aussagekraft hinsichtlich der betroffenen Nervenfasern, die Einschätzung des Schweregrades, sowie die Erstellung einer Befunddynamik mit ggf. prognostischer Einschätzung.
Hierbei ist ergänzend die Tatsache zu nennen, dass eine Pathologie der sensiblen Neurographien für eine postganglionäre Schädigung spricht, während eine Läsion der Nervenwurzeln bzw. eine präganglionäre Schädigung anatomisch bedingt, trotz klinisch vorhandener Sensibilitätsstörung lediglich mit Auffälligkeiten einzelner motorischer Neurographien einhergehen kann. Eine Affektion der sensiblen Neurographien spricht somit eher gegen eine radikuläre Genese der Symptomatik und zum Beispiel für eine Schädigung eines peripheren Nervens oder des Plexus [3].
EMG
Bei der Elektromyographie handelt es sich um eine Nadelmyographie, welche fragestellungsspezifisch einzusetzen ist, um einen pathologischen neuromuskulären Prozess zu lokalisieren, zu spezifizieren sowie dessen Dynamik zu erfassen, um daraus unter anderem Schlüsse in Bezug auf die Prognose ziehen zu können. Dies setzt eine Auseinandersetzung des Untersuchers mit dem Beschwerdebild des jeweiligen Patienten voraus, um alle zur diagnostischen Eingrenzung notwendigen Untersuchungsschritte falladaptiert festlegen zu können. Ein standardisiertes Untersuchungsprotokoll gibt es im EMG folglich nicht [2, 3].
Wichtig ist vor Untersuchungsbeginn die Frage nach einer erhöhten Blutungsneigung bzw. einer bestehenden oralen Antikoagulation, da es sich hierbei um (relative) Kontraindikationen handelt. Die Untersuchung sollte in diesem Fall so kurz wie möglich sein und die Punktionsstelle im Anschluss gut komprimiert werden [3]. Wir verzichten in unserer Klinik unter einer oralen Antikoagulation auf eine Untersuchung von Muskeln mit erhöhtem Risiko für Komplikationen. So werden die Unterschenkel auf Grund der Gefahr eines Kompartmentsyndroms in diesem Fall nicht untersucht.
Die Untersuchung der Muskulatur erfolgt in Ruhe, bei leichter (und dann idealerweise sukzessive zunehmender) Aktivierung sowie bei Maximalaktivierung. In Ruhe wird dabei insbesondere auf pathologische Spontanaktivität geachtet. Unter Muskelaktivierung erfolgt die Analyse der Potenziale motorischer Einheiten (PME), sowie die Beurteilung der Rekrutierung motorischer Einheiten und dem Interferenzmuster [2, 3].
Der Nachweis von pathologischer Spontanaktivität bei Fragestellung eines Nerven- bzw. Nervenwurzelschadens ist gleichzusetzen mit einem aktiven bzw. rasch progredienten axonalen Schadensprozess und steht für eine floride Denervation eines Muskels. Bei sehr langsam progredienten aktiven Schädigungsprozessen kann Spontanaktivität aber auch fehlen [2].
Der Nachweis pathologischer Spontanaktivität bei einer radikulären Kompression sollte im Umkehrschluss mit der zeitnahen Evaluation interventioneller/operativer Handlungsmöglichkeiten einhergehen, da sonst mit einem Funktionsverlust der betroffenen Muskulatur zu rechnen ist. Dies gilt insbesondere in Zusammenhang mit rasch progredienten Paresen und Mobilitätseinschränkung.
Vor Terminierung einer neurophysiologischen Diagnostik sollte hierbei unbedingt bedacht werden, dass genannte pathologische Veränderungen (im Sinne von Spontanaktivität) erst nach einem Intervall von 14–21 Tagen nach dem Akutereignis aufgrund der zeitlich versetzten Waller’schen Degeneration nachzuweisen sind [2, 3, 5]. Um eine akute periphere Störung von einer zentralen/psychogenen Parese zu unterscheiden, kann aber bereits in den ersten Tagen der Nachweis einer erhöhten Entladungsrate im EMG helfen [5].
Im Rahmen der Einzelpotenzialanalyse erfolgt die Auswertung des Summenpotenzials einer motorischen Einheit, welche bei Willküraktivität erfasst wird. Im Wesentlichen geben die Potenzialamplitude, -morphologie, Entladungsrate sowie Interferenz Hinweise auf (chronisch) neurogene oder myopathische Erkrankungsentitäten und erweitern die Aussagekraft um die zeitliche Dynamik [2, 3]. Sie sind insbesondere hilfreich bei differenzialdiagnostischen Überlegungen.
Chronisch-neurogene Veränderungen sind hierbei für den Neurologen ebenfalls relevante Untersuchungsbefunde. In Bezug auf einen akuten Wurzelschaden und zur Frage einer OP-Indikation jedoch deutlich weniger aussagekräftig, da diese altersabhängig, bei degenerativen Wirbelsäulenveränderungen oder Polyneuropathien vorhanden sein können und nicht zwingend für eine klinisch bzw. akut relevante Schädigung hinweisend sind.
Evozierte Potenziale
Bei den evozierten Potenzialen geht es um die Ableitung elektrischer Aktivität im Sinne einer „evozierten Antwort“ auf einen gesetzten Reiz. Im Hinblick auf lumbale Wurzelreizphänomene können insbesondere somatosensorisch sowie motorisch evozierte Potenziale zur diagnostischen Erweiterung beitragen [5].
Die somatosensorisch evozierten Potenziale (SEP) erfassen die sensorische Leitungsbahn zwischen Kortex und den freien Nervenendigungen in der Peripherie. Klassischerweise wird als Referenz für die obere Extremität das Medianus-SEP, als Referenz für die untere Extremität das Tibialis-SEP mit jeweils peripherer Stimulation der Nerven gewählt. Die SEPs erlauben es, Rückschlüsse auf eine Afferenzstörung und somit auf eine relevante Affektion der sensiblen Bahnen bei einem spinalen Prozess zu geben. Auch können sie helfen, eine somatische von einer psychosomatischen Genese abzugrenzen [4, 5].
Die magnetisch evozierten motorischen Potenziale (MEP, oder auch transkranielle Magnetstiumlation) können Pathologien der zentral motorischen Bahnen aufzeigen. Dabei erfolgt die Stimulation des motorischen Kortex sowie eine zervikale bzw. lumbale Stimulation mit Ableitung der Reizantwort am entsprechenden Zielmuskel, wobei typischerweise der M. abductor digiti minimi bei der Messung zur oberen Extremität sowie der M. tibialis anterior bei der Messung zur unteren Extremität gewählt wird. Letztlich wird die periphere Leitungszeit nach lumbaler Stimulation von der Leitungszeit nach kortikaler Stimulation abgezogen, um somit über den Parameter der zentralmotorischen Leitungszeit Rückschlüsse auf eine mögliche Läsion der Pyramidenbahn ziehen zu können [4].
Quantifizierung, Lokalisierung und differenzialdiagnostische Überlegungen mithilfe elektrophysiologischer Methoden
Zunächst kann festgehalten werden, dass je nach Fragestellung eine umschriebene oder auch erweiterte elektrophysiologische Diagnostik Aufschluss über Art und Ausmaß einer Schädigung geben kann. So kann z.B. bei der Frage nach einer axonalen Schädigung der Wurzel L5 die Untersuchung des M. tibialis anterior mittels EMG ausreichend sein. Wenn hier kein Nachweis pathologischer Spontanaktivität gelingen sollte (bei Untersuchungszeitpunkt 14–21 Tage nach Auftreten der Symptomatik, s.o.), ist nicht von einer floriden axonalen Schädigung der Wurzel L5 als Ursache der Beschwerden des Patienten auszugehen. Ebenso ist eine floride axonale Schädigung des N. peroneus hiermit ausgeschlossen. Bei klinisch evidenter Fußheberparese ist nun differenzialdiagnostisch noch ein Leitungsblock des N. peroneus oder auch eine zentrale Schädigung (z.B. durch eine zerebrale Ischämie) in Erwägung zu ziehen, so dass eine Neurographie des N. Peroneus (motorisch und sensibel) sowie auch motorisch evozierte Potentiale diagnostisch wegweisend sein können. Kann bspw. mittels Neurographie ein Leitungsblock des N. peroneus nachgewiesen werden, ist eine cMRT-Untersuchung nicht mehr zwingend erforderlich, die jedoch bei einer verzögerten zentralmotorischen Leitungszeit im MEP veranlasst werden sollte.
Fallbeispiele
Fuß-und Zehenheberparese
Anbei stellen wir 2 Patienten mit führender Symptomatik im Sinne einer Fußheberparese vor.
Bei dem ersten Patienten, einem 45-jährigen Fliesenleger, bestand eine schmerzlose Schwäche der Fußhebung sowie der Pronation seit 2 Tagen. In den durchgeführten Neurographien des N. peroneus zeigte sich eine Abnahme der Amplitude nach Stimulation proximal des Fibulaköpfchens, vereinbar mit einem Leitungsblock des N. peroneus (Abb. 1). Bei klinisch sowie elektrophysiologisch eindeutigem Befund sowie zum Nachweis einer axonalen Schädigung zu frühem Untersuchungszeitpunkt wurde in diesem Fall auf eine EMG-Untersuchung verzichtet. In der geplanten Verlaufskontrolle nach 4 Wochen war die Symptomatik vollständig regredient.
Bei dem zweiten Patienten, 50 Jahre, mit chronischen Rückenschmerzen bestand die Schwäche der Fußhebung seit ca. 6 Wochen. In seinem Fall erbrachten die Neurographien (sensible und motorische Neurographien des N. peroneus) keinen Hinweis auf eine Schädigung des N. peroneus. Die zur weiteren ätiologischen Einordung durchgeführte elektromyographische Untersuchung des M. gluteus medius sowie des M. tibialis anterior wies pathologische Spontanaktivitäten in beiden untersuchten Muskeln auf (Abb. 2), sodass in der Gesamtkonstellation die Fußheberparese im Rahmen einer L5-Radikulopathie mit florider Schädigung einzuordnen war.
Schwäche der Hüftbeugung bei Schmerzen der Innen- und Vorderseite des Oberschenkels
Die Vorstellung der 63-jährigen Patientin erfolgte nach Sturzereignis bei einer schmerzhaften Parese der Hüftbeugung sowie der Kniestreckung. Ferner berichtete sie über Dysästhesien der Innen- und Vorderseite des Oberschenkels. Klinisch-neurologisch auffällig zeigte sich zudem ein ausgefallener Patellasehnenreflex. Das EMG hatte (bei frühem Untersuchungszeitpunkt < 10 Tage) keine Spontanaktivität ergeben. Neben einer L3/4-Radikulopathie wurde insbesondere bei unauffälliger MRT-Untersuchung der Lendenwirbelsäule differenzialdiagnostisch eine mögliche Läsion des N. femoralis erwogen und in den Neurographien (Abb. 3) auch bestätigt. Bei auch im Verlauf weiterhin fehlendem Nachweis von Spontanaktivität wäre von einer lediglich funktionellen Schädigung ohne relevante Affektion des Axons auszugehen und ein zuwartendes Procedere mit Krankengymnastik anzustreben. Wir würden wiederum bei Nachweis von Spontanaktivität in jedem Fall eine Kompression des N. femoralis (z.B. durch ein Hämatom) ausschließen wollen, da in diesem Fall ggf. die Konsequenz einer Hämatomentlastung folgen würde.
Rückenschmerzen mit
Ausstrahlung in die Beine
Der 73-jährige Patient stellte sich bei bereits seit einigen Jahren bestehenden Lumboischalgien mit mittlerweile in beiden Unterschenkelrückseiten ausstrahlenden Schmerzen vor. Eine subjektive Schwäche der unteren Extremitäten wurde verneint, klinisch konnten ebenfalls keine Paresen festgestellt werden, auffällig zeigte sich allerdings ein ausgefallener Achillessehnenreflex. Neurographisch ergab sich keine Befunderweiterung. Bei einer bildmorphologisch nachgewiesenen lumbalen Spinalkanalstenose erfolgte einerseits zur Höhenlokalisation, andererseits zum Ausschluss bzw. Nachweis einer floriden axonalen Schädigung die Elektromyographie. Bei Fehlen pathologischer Spontanaktivität aber gleichzeitigem Nachweis von erhöhten Amplituden der Muskelsummenaktionspotenzialen im M. tibialis anterior und M. gastrocnemius sowie der paravertebralen Muskulatur beidseits (Abb. 4) konnte eine wohl seit Längerem bestehende und offenbar langsam progrediente chronisch neurogene Schädigung im Sinne einer multisegmentalen Radikulopathie (L5-S1) festgestellt werden.
Fazit für die Klinik
Beim Wurzelreizsyndrom geht es für den Neurologen zuallererst um einen klinischen Eindruck und um anamnestische Angaben zur Dynamik der Beschwerden. Eine elektrophysiologische Zusatzdiagnostik kann helfen, das klinische Bild einzuordnen und einen bestimmten Verdacht zu bestätigen oder auch zu widerlegen. So kann insbesondere bei nicht eindeutigem klinischen Bild mit z. B. Überlagerung durch Schmerzen oder auch anderen Nebenbefunden, welche die Diagnosestellung erschweren, eine Festlegung erleichtert und ein bestimmtes Vorgehen unterstützt werden. Gerade wenn es um invasive Maßnahmen geht, sollte daher bei Unklarheiten neben einer adäquaten Bildgebung auch an eine suffiziente neurologische Diagnostik inklusive elektrophysiologischer Maßnahmen gedacht werden. Das EMG dient hierbei zum Nachweis und zur Lokalisation einer floriden Schädigung, die Neurographien und evozierten Potenziale können die Differenzialdiagnostik erweitern. Hierbei sollte in jedem Fall die klinische Präsentation führen und den Limitationen von Messwerten durch eine pragmatische Herangehensweise begegnet werden.
Interessenkonflikte:
Keine angegeben.
Das Literaturverzeichnis zu
diesem Beitrag finden Sie auf:
www.online-oup.de.
Korrespondenzadresse
Dr. med. Nicole König
Klinik und Poliklinik für Neurologie
der Universität Regensburg
am Bezirksklinikum Regensburg
Universitätsstraße 84
93053 Regensburg
nicole.koenig@medbo.de