Übersichtsarbeiten - OUP 05/2021

Das lumbale Wurzelreizsyndrom aus neurologischer Sicht
Klinischer Ansatz und diagnostische Methoden

Ergänzend zur ausführlichen Anamnese sowie einer allgemeinen körperlichen Untersuchung inklusive der Prüfung einer Klopfdolenz, ist vor allem die Untersuchung der Motorik (inkl. Tonus, Muskeleigenreflexstatus, Kraft- und Einzelkraftprüfung, Gangbild) sowie Sensibilität aus neurologischer Sicht von besonderer Bedeutung. Zur Prüfung der Sensibilität sollte der Patient/die Patientin entkleidet untersucht werden. Bei der Prüfung der Oberflächensensibilität durch Berührung wird auf die Angabe von ausstrahlenden Missempfindungen entsprechend der unterschiedlichen Dermatome geachtet (Tab. 1). Sollte die angegebene Sensibilitätsstörung nicht zu einem Dermatom passen, kommen noch die Versorgungsgebiete einzelner Nerven oder des Plexus in Frage. Bei Plexusläsionen können die Angaben auch eher diffus sein. Bei zentral bedingten Sensibilitätsstörungen sind sie eher generalisiert und betreffen bspw. eine gesamte Extremität. Im Falle einer Polyneuropathie werden typischerweise symmetrische, „strumpfförmige“ Missempfindungen festgestellt. Zudem kann zur weiteren Differenzialdiagnostik eine orientierende Untersuchung der Koordination sowie der Hirnnerven sinnvoll sein. Letzteres bezieht sich allem voran auf das Szenario einer möglichen zentral-neurologischen Differenzialdiagnose.

Bei anamnestisch im Vordergrund stehenden Schmerzen sollte vor allem ein Augenmerk auf die Lokalisation und Ausdehnung derer gelegt werden, um eine radikuläre Zuordnung zu ermöglichen. Typisch für Wurzelreizphänomene sind die Angabe von Missempfindungen sowie ein ziehender, brennender oder elektrisierender Charakter im Sinne neuropathischer Schmerzen. Eine weitere Näherung erlaubt die Untersuchung radikulärer Reizzeichen wie dem Lasègue-Zeichen (ggf. umgekehrtes und gekreuztes Lasègue-Zeichen) sowie dem Bragard-Zeichen. Letzteres kann auch gut zur Abgrenzung eines Dehnungsschmerzes der ischiokruralen Muskulatur verwendet werden [1].

Ergänzend hierzu kann zur Abgrenzung einer funktionellen Genese das Sitzen mit langgestreckten Beinen beurteilt werden, was im Wesentlichen in Bezug auf die Wurzeldehnung der Prüfung des Lasègue-Zeichens entspricht.

In der Untersuchung sollte zudem auf eine motorische Schwäche, insbesondere der zur Radix gehörenden Kennmuskeln – im Sinne einer schlaffen Parese - mit typischerweise abgeschwächtem Muskeleigenreflex geachtet werden (Tab. 1). In Kenntnis der radikulären Zugehörigkeit der Beinmuskulatur sowie der peripheren Innervation sollte anhand des Musters der erfassten Paresen eine erste Zuordnung der Läsionslokalisation sowie -höhe gelingen. Entsteht beim Untersucher der Eindruck einer über das gewöhnliche Ausmaß hinausgehenden Pathologie, sollte darüber hinaus eine zentrale Genese bedacht werden, welcher sich klinisch durch generalisierte Paresen (z.B. Hemiparese, Parese einer gesamten Extremität, proximal und distal anstatt isolierter Paresen) durch den Nachweis von Pyramidenbahnzeichen und/oder gesteigerten Muskeleigenreflexen genähert werden kann.

Relevante Differenzialdiagnosen

Im Wesentlichen lassen sich die relevanten Differenzialdiagnosen im Hinblick auf die Lokalisierung des Schadens sowie die Ätiologie unterscheiden.

Sicherlich als am häufigsten zu nennen sind degenerative Veränderungen des Wirbelsäulenapparats wie bspw. eine Spinalkanalstenose oder eine Bandscheibenprotrusion bzw. -prolaps. Darüber hinaus sind ferner muskuloskelettale Genesen wie bei einem Facettensyndrom, einem ISG-Syndrom oder muskulären Syndromen (z.B. dem Piriformis-Syndrom) zu bedenken. Mögliche entzündliche Genesen wären im Rahmen rheumatologischer, als auch neurologischer Erkrankungen denkbar. Insbesondere anhand laborchemischer und bildmorphologischer Diagnostik wäre ein M. Bechterew oder eine Spondylodiszitis identifizierbar. Hinsichtlich neurologischer Differenzialdiagnosen sollten einerseits „myelonnahe“ Erkrankungen bedacht werden. Hierzu zählen zum einen Raumforderungen im Sinne von Metastasen (inkl. dem Spezialfall einer Meningeosis neoplastica), spinaler Primärtumoren oder eines epiduralen Abszesses, gefolgt von einer Radikulopathie/Radikulitis sowie einer autoimmun-entzündlichen, erregerbedingten oder metabolischen Genese. Ein ähnliches und oftmals eher diffuseres Beschwerdebild geht in Zusammenhang mit einer Affektion des Plexus lumbosacralis einher, wobei hier allem voran eine Plexusneuritis (erregerbedingt vs. entzündlich) sowie ggf. ein postradiogener Plexusschaden bedacht werden sollte [1].

Inwieweit kann nun die neurologische Zusatzdiagnostik bei der weiteren Einordnung helfen? Welche Faktoren sprechen neben dem klinischen Befund für einen höhergradigen Wurzelschaden und welche eher dagegen? Wie kann man sich den relevanten Differenzialdiagnosen nähern? Dies wird im Folgenden erläutert.

Die Bedeutung der
Elektrophysiologie für die Interpretation der
klinischen Befunde

Methoden

Neurographien

Mittels der Elektroneurographie wird das elektrische Antwortpotenzial sensibler und/oder motorischer peripherer Nerven erfasst. Vom Prinzip her erfolgt bei der motorischen Neurographie eine supramaximale, elektrische Stimulation eines motorischen oder gemischten Nervens. Abgeleitet wird sodann die dabei ausgelöste elektrische Antwort des von diesem Nerven innervierten Muskels, das sogenannte Muskelsummenaktionspotenzial (MSAP) [2, 3].

Die Auswertung umfasst die Bestimmung der distal-motorischen Leitungszeit (DML, motorische Neurographie) sowie der Latenz (sensible Neurographie), der Nervenleitgeschwindigkeit (NLG), welche sich im Wesentlichen im Sinne einer Nervenabschnittsgeschwindigkeit berechnet, sowie der Amplitude des MSAPs sowie des sensiblen Nervenaktionspotentials. Ergänzend hierzu wird die Bestimmung der sogenannten „F-Wellen“ durchgeführt, welche Spätantworten nach peripherer Stimulation darstellen und darauf beruhen, dass nach jeder peripheren Stimulation sowohl eine ortho- als auch antidrome Erregungsfortleitung entsteht, welche durch die Alphamotoneurone am Axonhügel gespiegelt werden und somit eine zusätzliche, wenn auch eher unspezifische Aussagekraft hinsichtlich einer proximalen Pathologie, wie etwa auch bei einem Prozess mit Wurzelaffektion, geben [2, 3].

Der Nutzen neurographischer Untersuchungen umfasst die Lokalisation von Läsionsorten, die bessere Klassifizierung der zugrundeliegenden Pathophysiologie, die Aussagekraft hinsichtlich der betroffenen Nervenfasern, die Einschätzung des Schweregrades, sowie die Erstellung einer Befunddynamik mit ggf. prognostischer Einschätzung.

Hierbei ist ergänzend die Tatsache zu nennen, dass eine Pathologie der sensiblen Neurographien für eine postganglionäre Schädigung spricht, während eine Läsion der Nervenwurzeln bzw. eine präganglionäre Schädigung anatomisch bedingt, trotz klinisch vorhandener Sensibilitätsstörung lediglich mit Auffälligkeiten einzelner motorischer Neurographien einhergehen kann. Eine Affektion der sensiblen Neurographien spricht somit eher gegen eine radikuläre Genese der Symptomatik und zum Beispiel für eine Schädigung eines peripheren Nervens oder des Plexus [3].

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