Übersichtsarbeiten - OUP 01/2022

Die CHARCOT-Neuroarthropathie (CN)
Eine Facette des neuropathischen FußsyndromsTeil 1: Akute Charcotarthropathie erkennen - Deformation vermeiden

Kaspar Gundlach, Armin Koller, Ralph Springfeld

Zusammenfassung:
Jeder Orthopäde und Unfallchirurg hat „Neuropathen“ innerhalb des Patientenklientels. Eine Facette dieser Erkrankung ist die Charcotarthropathie. Wichtig ist es, diese Erkrankung frühzeitig zu erkennen, um in der Folge knöcherne Deformitäten zu vermeiden. Erst die Deformität der Extremität führt zu den langandauernden Therapien und Komplikationen. Die Behandlung erfolgt über einen multimodalen netzwerkartigen Ansatz und betrifft fast jeden Lebensbereich des betroffenen Patienten. Dennoch bleibt die Charcot-Arthropathie zum Glück eine selten vorkommende Erkrankung.

Schlüsselwörter:
Charcot-Arthropathie, CN, neuropathisches Fußsyndrom, Polyneuropathie, Fußchirurgie

Zitierweise:
Gundlach K, Koller A, Springfeld R: Die CHARCOT-Neuroarthropathie (CN).
Eine Facette des neuropathischen Fußsyndroms.
OUP 2022; 11: 23–27
DOI 10.53180/oup.2022.0023-0027

Summary: Every orthopedic or trauma surgeon sees neuropathic patients in their office. There is great need to be aware of the beginning symptoms/acute Charcot-arthropathy to avoid deformities of the foot. The deformities create the complications. Overall charcot-arthopathy is a rare disease but with rising incidence.

Keywords: Charcot-arthropathy, CN, neuropathic footsyndrome, polyneuropathy, foot and ankle surgery

Citation: Gundlach K, Koller A, Springfeld R: The Charcot-neuroarthropathy (CN). An aspect of the
neuropathic footsyndrome – Part 1: Identify acute charcot-arthropathy to avoid deformities.
OUP 2022; 12: 23–27. DOI 10.53180/oup.2022.0023-0027

Klinik Dr. Guth, Hamburg

Einleitung

Ein Krankheitsbild mit neuropathisch verursachtem Knochen- und Gelenkzerfall an Fuß und Unterschenkel.

Die steigende Inzidenz des Diabetes mellitus (D. m.) weltweit führt auch zu einer dramatischen Zunahme der zahlreichen Komplikationen. Andere periphere neuropathische Erkrankungen nehmen ebenfalls zu und sei es durch sensitivere Diagnostik.

Eines dieser Organsysteme, das durch den D. m. geschädigt wird ist das Nervensystem. Betroffen können Anteile des willkürlichen als auch des autonomen Nervensystems sein. Aus anatomischen Gründen sind die Nerven der Füße von der Neuropathie zuerst betroffen. Klinisch findet sich die typische symmetrische, distale Neuropathie. Diese ist typischerweise ring- oder strumpfförmig. Die autonomen Schäden äußern sich als Störung der Schweißsekretion mit trockener, rissiger Haut. Die Störungen der Durchblutungsregulation sind zunächst nicht augenfällig. Wesentlich ist der schleichende Verlust der Sensibilität. Die Zehen, Fußsohlen und später der gesamte Fuß werden gefühllos (Abb. 1).

Der Verlust der Sensibilität wird von vielen Patienten nicht wahrgenommen und gelegentlich bei der Anamneseerhebung vehement bestritten. Die klinische Untersuchung der Funktion des Nervensystems zeigt oft überraschende Befunde. Für diese Untersuchung braucht man einige wenige Instrumente und wenig Zeit (Abb. 2).

Dieser Verlust an Sensibilität, sogenannte Schutzsensibilität der Füße kann fatale Folgen haben. Die Patienten sind nicht in der Lage, schädigende Reize an den Füßen wahrzunehmen. Verletzungen oder Drucküberlastungen mit der Ausbildung von Hyperkeratosen, später Blasen und Ulzerationen führen zu Läsionen, die als Eintrittspforte für Infektionen dienen können. Im Falle einer langdauernden Druckschädigung kommt es über die Bildung einer Schwiele zu den Schäden am Fuß. Die Hornschwiele selbst wird durch die Verdickung und Verhärtung der Haut pathologisch wirksam. Fortdauernder Druck führt zur Unterblutung des Areals und damit ist der Grundstein für die folgende Ulzeration gelegt. Wiederum ist es die Schmerzlosigkeit und das Eindringen von Keimen in die Wunde, was den weiteren Verlauf bestimmt (Abb.3). Durch Entlastung, Wunddebridement, Antibiotikatherapie und Modifikation der Einlagen kann der Defekt zur Abheilung gebracht werden (Abb. 4).

All dies ist kein Charcot-Fuß oder CN. Der Begriff des Charcot-Fußes ist im anglo-amerikanischen Sprachraum gebräuchlich. Dieser Name geht auf den französischen Neurologen J. M. Charcot zurück. Dieser beschrieb den Zerfall des Fußskelettes bei einem Patienten mit Tabes dorsales. Auch dieses Spätstadium der Lues führt zu einer distalen Neuropathie. Heute spielt der D. m. die Hauptrolle in der Entwicklung einer distalen Neuropathie. Andere Neuropathien können aber auch zu einer Charcot-Arthropathie führen: toxische Neuropathie (z.B. Alkohol), Folge einer Chemotherapie (CIN), Vitaminmangel, genetisch aber auch traumatisch.

Die Ursachen für die Entwicklung eines Charcot-Fußes sind umstritten. Eine vaskuläre Hypothese, eine traumatische Hypothese und ein molekularbiologischer Ansatz konkurrieren hinsichtlich ihrer Wertigkeit [1].

Das DRG System zur Abrechnung der Krankenhausleistungen berücksichtigt die Charcot-Arthropathie erst seit 2009 als eigenständiges Krankheitsbild. Aber auch auf Seiten der Ärzte besteht ein erheblicher Nachholbedarf in Hinblick auf das Erkennen des Krankheitsbildes.

Die Neuropathie ist also eine, wenn nicht die Ursache für die Entwicklung des Charcot-Fußes. Auch der Zeitfaktor spielt eine Rolle. Ein mehrjähriger D. m.-Verlauf mit mäßig oder schlecht eingestellten Blutglukosewerten begünstigt sowohl die Entwicklung und Progredienz der Neuropathie als auch die Auslösung einer Charcot-Arthropathie. Gesicherte Zahlen über das Verhältnis von Patienten mit D. m., Patienten mit D. m. und Neuropathie und Patienten mit D. m., distaler symmetrischer Neuropathie und Charcot-Arthropathie gibt es nur ansatzweise [4].

Die akute
Charcotarthropathie

Der Charcot-Fuß (CN) beginnt plötzlich mit Rötung und Schwellung des betroffenen Fußes und/oder Unterschenkels. Diese Schwellung kann erhebliche Ausmaße annehmen. Diese Veränderung des Fußes ist in den meisten Fällen schmerzfrei! Das Ausmaß der klinischen Erscheinung kann sehr variieren. Wegen der Schmerzfreiheit suchen die Patienten in dieser Situation selten einen Arzt auf. Eine wichtige Kontrollaufgabe kommt somit allen zu, die mit der Behandlung der Füße von Diabetikern betraut sind: Hausärzte, Diabetologen, Podologen, Physiotherapeuten und orthopädischen Schuhmachern. Dies gilt sowohl für die Neuropathie als auch für Form und Zustand der Füße und des Schuhwerks.

Einteilung

Die Einteilung der Charcot-Arthropathie erfolgt zum einen über den zeitlichen Verlauf. Die zweite wesentliche Ordnung erfährt das Krankheitsbild über den Ort der Skelettdestruktion. Der zeitliche Ablauf wurde von Eichenholtz 1966 beschrieben [2]. Es werden 3 Stadien unterschieden: 1. Entwicklungsstadium; 2. Koaleszenz- Stadium; 3. Rekonstruktionsstadium.

Das Entwicklungsstadium (Abb. 5) ist durch Knorpel- und Knochenfragmentation, Hyperämie, Ödem und Überwärmung gekennzeichnet.

Das Koaleszenz-Stadium führt zum Umbau und der Knochenfragmente in Dislokation und langsamem Rückgang der Entzündungsreaktion. Dieses Stadium kann monatelang anhalten.

Im Rekonstruktionsstadium (Abb. 6–7) kommt es zu Normalisierung des Knochenstoffwechsels und zum Umbau des Knochens in eine weitgehend normale Knochenarchitektur. Wesentlich ist hierbei, dass die eingetretenen Deformationen des Fußskeletts erhalten bleiben.

In neuerer Zeit wurde ein Stadium 0 ergänzt [6]. Die Möglichkeit der MRT-Untersuchung gestattet es heute bei entsprechendem Verdacht, das dem Knochen- und Gelenkzerfall vorausgehende Knochenödem (Abb. 8–9) darzustellen.

In der akuten Situation ist die Abgrenzung zur Weichteil- und Knocheninfektion (akute Osteomyelitis) nicht immer einfach. Allgemeinsymptome und laborchemische Infektionsparameter helfen nur bedingt bei der Differentialdiagnose. Schmerzzunahme kann ein Hinweis auf ein infektiöses Geschehen sein. Ein einfacher praktischer Test hilft ebenfalls: der Charcot-Fuß blasst bei Hochlagerung des Beines relativ schnell ab. Auch die Schwellung nimmt innerhalb von Stunden bei Hochlagerung und Ruhigstellung rapide ab. Ein Fuß mit Infektion hingegen bleibt hochrot und geschwollen.

Die zweite wesentliche Einteilung erfährt der Charcot- Fuß nach dem Ort des Zerfalls. Hier gibt es verschiedene Vorschläge zur Klassifikation. Am gebräuchlichsten ist die von Sanders und Frykberg (1993) vorgeschlagene Zuordnung nach den 5 Gelenkreihen des Fußes: Typ I Zehen und Metatarsalia; Typ II Lisfranc-Gelenkreihe; Typ III Chopart-Gelenkreihe; Typ IV OSG inkl. USG; Typ V Fersenbein. Der Befall der Lisfranc- und Chopart-Gelenkreihe sind klinisch am häufigsten zu beobachten: Sanders II (Abb. 6) und III (Abb. 9–10) [5].

Wichtig für die Beurteilung eines Charcot-Fußes sind also der Ort der Destruktion Sanders I–V und das vermutliche Stadium des zeitlichen Verlaufs der Erkrankung Eichenholtz I–III. Oftmals werden erst die Spätschäden zur Behandlung vorgestellt. Die während des Ablaufs der Erkrankung stattgehabte Deformation führt zum Einbruch des Fußgewölbes, möglicherweise bis zur typischen, sogenannten „Tintenlöscher oder Schaukelfuß“-Form des Fußes, im Englischen „rocker bottom“ genannt (Abb. 11).

Klinische Erscheinung und Therapie

Wichtig ist in dieser Situation, dass durch den Druck der nach fußsohlenseitig luxierten oder deformierten Knochen pathologische Druckspitzen entstehen können. Diese verursachen unbehandelt, eine Hyperkeratose, Einblutung und dann eine Ulzeration. Mit der Ulzeration ist die Gefahr der Infektion gegeben. Die Behandlung richtet sich dann zunächst gegen die Infektion und entspricht damit den Regeln der septischen Chirurgie.

Der infizierte Charcot- Fuß (Abb. 12) ist eine schwerwiegende Komplikation. Nicht selten besteht Amputationsgefahr für das betroffene Bein. Es handelt sich um einen chirurgischen Notfall, der unverzügliche Behandlung erfordert.

Behandlung des Charcot-Fußes

Die Behandlung des Charcot-Fußes richtet sich nach dem Stadium und der Lokalisation der Deformität. Wichtig ist die generelle Feststellung, dass die Behandlung des akuten Charcot-Fußes zunächst konservativ erfolgt. Alle Akutstadien werden mit sofortiger Entlastung des Fußes behandelt. Hierzu kann eine stationäre Behandlung sinnvoll sein, oft allein wegen der notwendigen Diagnostik. Bettruhe, Rollstuhl und Ruhigstellung des Beines in einem speziellen Gips sind die ersten Maßnahmen.

Ausnahme stellen akute Frakturen und/oder Luxationen dar. Diese stellen oftmals eine unmittelbare Operationsindikation dar.

Der Total Contact Cast (TCC) erfüllt die Forderung nach Ruhigstellung von Fuß- und Unterschenkel gut und ist seit mehreren Jahrzehnten etabliert. Die Anwendung ist für Patient und Behandler arbeitsaufwendig und arbeitsintensiv. Deshalb wird heute je nach Ausmaß der Deformität auf vorgefertigte Walker oder eine 2-Schalenorthese übergegangen. Vorteil sind schnelle Verfügbarkeit und ein relativ günstiges Preisniveau. Nachteilig ist die weniger exakte Passform bei Walkern, die schnelle Volumenabnahme des Fußes bei Ruhigstellung und damit auch Abnahme der Passform bei allen Hilfsmitteln.

Für die konsequente Entlastung sind nichtabnehmbare
Orthesen notwendig.

Ziele dieser Ruhigstellung sind die sofortige Reduktion der Krankheitsaktivität und die Vermeidung der Deformation des Fußes. Die Krankheit muss vom Stadium Eichenholtz I in das Stadium III überführt werden. Dies kann mehrere Monate dauern. Dies bringt für den Patienten, die Familie und den Arbeitsplatz erhebliche Probleme mit sich. In Abhängigkeit von der Aktivität des Prozesses kann nach einiger Zeit auf Teilbelastung des Fußes im Hilfsmittel übergegangen werden.

Gelingt es Form und Stabilität des Fußes zu erhalten und insbesondere plantare Knochenvorsprünge zu vermeiden, kann eine orthopädische Maßstiefelversorgung erfolgen. Diese ist seit Erneuerung der Praxisempfehlung der DDG zur Versorgung des diabetischen Fußsyndroms 2021 verpflichtend [3]. Die Behandlung in der skizzierten Form wäre der ideale Verlauf, der eine chirurgische Intervention unnötig macht (Abb. 14). In der Mehrzahl der Fälle kommt es zu einem Formverlust, der durch die Kunst der orthopädischen Schuhtechnik kompensiert werden kann (Abb. 13).

Eine regelmäßige Kontrolle der Füße, der orthopädischen Maßschuhe und der Bettungen sind erforderlich. Ein Wiederkehren der Charcot-Erkrankung ist jederzeit möglich, leider auch auf der Gegenseite. An der Gefühllosigkeit und damit der Verletzungsgefahr hat sich nichts geändert.

Ein Charcot-Patient ist chronisch krank!

Interessenkonflikte:

Keine angegeben.

Das Literaturverzeichnis
zu diesem Beitrag finden Sie auf:
www.online-oup.de.

Korrespondenzadresse

Dr. med. Kaspar Gundlach

Klinik Dr. Guth

Jürgensallee 46–48

22609 Hamburg

dr.gundlach@drguth.de

SEITE: 1 | 2 | 3