Übersichtsarbeiten - OUP 01/2023
Die lumbale Spinalkanalstenose – ein ÜberblickDiagnostik und Therapieoptionen
Insgesamt gilt, dass aufgrund degenerativer Veränderungen die Elastizität des Lig. flavum abnimmt. Dies geht mit dem Verlust von elastischen Fasern und der Zunahme von Kollagenfasern einher. Es ist nicht klar, ob die Verdickung der normalen elastischen Fasern oder die zusätzliche Kollagenschicht die Hypertrophie verursacht [12, 13].
Im Gegensatz zur Theorie der Hypertrophie steht der Ansatz, die Verdickung mit einem reinen Vorwölben des Lig. flavum durch den degenerativen Höhenverlust des Bewegungssegments zu erklären. Dabei ist die Verdickung abhängig von Alter, BMI, LSS betroffene Etage und Bandscheibendegeneration, nicht aber von Geschlecht und Ausprägung des Schmerzes [14]. Eigene Untersuchungen zeigen auch einen wesentlichen Anteil des Lig. flavum an der Entstehung von reinen Rückenschmerzen. Die Dichte an sensorischen Fasern ist bei Patientinnen und Patienten mit einer LSS im Vergleich zu Patientinnen und Patienten mit einem Bandscheibenvorfall signifikant erhöht, zudem haben Frauen im Vergleich zu Männern ebenfalls einen signifikant höheren Anteil an sensorischen Fasern [15].
Die Kombination aus Bandscheibendegeneration, Flavumverdickung und Facettengelenkshypertrophie führt dann radiologisch zu einer LSS, jedoch kann auch jede Veränderung für sich, alleine Auslöser einer klinischen Symptomatik sein (Abb. 1).
Die zunehmende Instabilität der Segmente kann auch zum degenerativen Wirbelgleiten (Spondylolisthesis) führen, was die LSS verstärken kann.
In Abhängigkeit von der biomechanischen Belastung der Lendenwirbelsäule findet sich eine Spinalkanalstenose am häufigsten im Segment LW4/5, gefolgt von LW3/4 und LW5/SW1.
Pathophysiologisch haben alle diese Veränderung die Kompression der nervalen Strukturen sowie der intraspinalen Gefäße im Bereich der Cauda equina gemeinsam. Die Folgen der Nervenkompression sind noch nicht endgültig geklärt. Bekannt ist die Entstehung einer Radikulitis, welche entlang der Nervenwurzel eine Veränderung von Neurotransmittern bewirkt [16].
Außerdem wird diskutiert, dass zum einen eine arterielle Minderdurchblutung für die Entstehung der typischen Beinschmerzen bei Belastung (Claudicatio spinalis) verantwortlich ist und zum anderen der venöse Stau zur Zunahme der Stenose und einer sekundären Minderperfusion führt [17]. Auch wird eine Beteiligung der durch die Radikulopathie gestörten autonomen Innervation an einer sekundären Minderperfusion unter Belastung diskutiert [18].
Klassifikation
Die bekannten Definitionen der LSS basieren meist auf radiologischen Messgrößen. Typischerweise wird zwischen einer relativen und einer absoluten Spinalkanalstenose bezogen auf den a-p Durchmesser des Spinalkanals im CT unterschieden. Dabei spricht man bei 10–14 mm von einer relativen Stenose und unter 10 mm von einer absoluten Stenose [19]. Eine weitere Messmethode ist die Messung der Fläche des Duralschlauchs auf Höhe des Bandscheibenfachs in transversalen Schichtbildern. Sinkt diese Fläche auf Werte unter 100 mm2 , spricht man wiederum von einer relativen Spinalkanalstenose, unter 75 mm2 von einer absoluten Spinalkanalstenose [20]. Obwohl es über 14 ähnliche radiologische Definitionen mit guter Inter- und Intraobserver-Verlässlichkeit gibt, konnte bisher kein Zusammenhang zwischen dem radiologischen Befund und der klinischen Symptomatik gezeigt werden [21].
In der MRT zeigen sich bei 90 % der über 50-Jährigen degenerative Veränderungen an der Bandscheibe, was nicht immer zu einer Symptomatik führen muss [22]. Radiologisch kann bei Patientinnen und Patienten über 60 Jahre in 21 % der Fälle eine LSS nachgewiesen werden. [23].
Eine für den klinischen Alltag einfach zu gebrauchende Einteilung wurde 2010 von Schizas et al. eingeführt. Diese Einteilung beruht auf dem Verhältnis zwischen Nervenfaszikeln und Liquor im T2-gewichteten transversalen MRT-Bild. So ergeben sich 4 Schweregrade von A–D, wobei A nochmals in 4 Untergruppen unterschieden werden kann. Je enger die Faszikel gedrängt werden, desto höher der Grad der Stenose [24].
Klinik
Die Claudicatio spinalis ist das spezifische klinische Symptom der LSS. Darunter versteht man eine Kombination aus Rückenschmerzen und vor allem belastungsabhängigen Beinschmerzen, welche radikulär, gemischt-radikulär oder pseudoradikulär auftreten. Diese entwickeln sich langsam und nehmen über viele Jahre zu. Studien belegen, dass Patientinnen und Patienten sich zunächst zweier Kompensationsmechanismen zum Ausgleich der voranschreitenden LSS beim Gehen bedienen. Eine Strategie ist der Gang in Rumpfbeuge-Haltung, um die Schrittlänge und den Hüftextensionswinkel zu erhöhen, die andere Strategie ist der Gang mit aufrechter Haltung des Rumpfes, um die Schrittlänge und den Hüftextensionswinkel zu verringern [25]. Die unterschiedlichen Symptome können von der betroffenen Etage abhängen [26, 27].
Eher selten können sich diffuse neurologische Defizite wie Hypästhesien und Paresen entwickeln. Blasen-Mastdarmstörungen sind selten und bedürfen der Abklärung anderer Pathologien, z.B. im zervikalen oder thorakalen Bereich.
Da es sich um ein älteres Patientenklientel handelt, müssen neurologische oder internistische Komorbiditäten beachtet werden. Die Herausforderung für den Behandler besteht daher den Anteil der LSS an den multifaktoriellen Beschwerden herauszufinden und die passende Therapie einzuleiten.
Anamnese
Die exakte Anamneseerhebung sollte einen besonderen Stellenwert einnehmen. Klassisch berichten die Patientinnen und Patienten von seit Jahren bekannten Rückenschmerzen mit nun zunehmender Gehstreckeneinschränkung. Die Schmerzen treten nur beim Stehen und Gehen auf, jedoch nicht im Liegen oder Sitzen. Eine Erleichterung tritt beim Fahrradfahren, beim Bergaufgehen oder beim Schieben eines Einkaufswagens aufgrund der vermehrten Kyphosierung der Lendenwirbelsäule auf. Das Bergabgehen und die damit verbundene vermehrte Lordosierung wirkt Schmerz verstärkend. Die Abgrenzung von der vaskulären Claudicatio ist dabei wichtig. Klinisch präsentieren Sie die Patientengruppen ähnlich, jedoch sind bei der Claudicatio intermittens die Beinbeschwerden durch die Oberkörpervorlage, d.h. durch eine Entlordosierung nicht beeinflussbar und führen zu trophischen Störungen der Haut. Hinweisend ist zudem, dass das Stehen bei einer vaskulären Ursache zu einer Erleichterung und bei spinaler Ursache das Stehen alleine schon zu einer Verschlechterung führt [28, 29]. Die wesentlichen klinischen Unterschiede sind in Tabelle 1 dargestellt.