Arzt und Recht - OUP 04/2012

Gelenkersatz-Operation ohne radiologische Planung ein (grober) Behandlungsfehler?

Rechtsanwalt Dr. Christoph Osmialowski, Karlsruhe

Einleitung

Der Arzt hat die ärztlichen „Kunstregeln“, die sich nach dem jeweiligen Stand der medizinischen Wissenschaft zum Zeitpunkt der Behandlung bestimmen, zu beachten. Diese von der Rechtsprechung so bezeichneten „Kunstregeln“ stellen den medizinischen Standard dar. In orthopädischen Fachkreisen ist angesichts nicht einheitlicher Inhalte einschlägiger medizinischer Leitlinien unklar, ob bei jeder Gelenkersatz-Operation präoperativ eine radiologische Planung zum medizinischen Standard gehört. Wäre dies der Fall, würden entsprechende Versäumnisse einen (unter Umständen groben) Behandlungsfehler darstellen, der den Arzt ggf. zu Schadensersatz- und Schmerzensgeldzahlungen verpflichtet. Welche juristischen Aspekte hierbei eine Rolle spielen und wann sich das Risiko der Niederlage in einem Arzthaftungsprozess für den Arzt wegen Beweislastumkehr deutlich erhöht, wird in diesem Artikel klargestellt.

Behandlungsfehler

Die Frage, ob ein Behandlungsfehler vorliegt, ist primär eine medizinische Frage, die das Gericht im Arzthaftungsprozess in der Regel nur mit Hilfe eines medizinischen Sachverständigen entscheiden kann. Der medizinische Standard, den der Arzt bei der Behandlung zu erfüllen hat, verändert sich permanent entsprechend der wissenschaftlichen Entwicklung, sodass nur wenige konstante Orientierungshilfen zur Verfügung stehen.

Unter Medizinern ist die irrige Annahme weit verbreitet, dass der medizinische Standard durch die fachlich einschlägigen Leitlinien definiert wird. Entgegen dieser irrigen Annahme stellt das Abweichen von solchen Leitlinien gerade nicht automatisch einen Behandlungsfehler dar: Leitlinien enthalten lediglich Handlungsempfehlungen in Standardfällen. Hiervon abzugrenzen sind Richtlinien, die nur im Zuständigkeitsbereich der sie erlassenden Institution verbindlich sind; so können beispielsweise die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses nach § 92 SGB V lediglich für eine wirtschaftliche vertragsärztliche Versorgung Mindeststandards festlegen, die wegen ihres wirtschaftlichen Einschlags jedoch in der Regel kürzer als die Arzthaftungsmaßstäbe greifen.

Leit- und Richtlinien sind jedoch im Arzthaftungsprozess auch nicht gänzlich ohne Bedeutung: Das Abweichen kann ein Indiz für einen Behandlungsfehler sein. Das Abweichen von einer Richtlinie kann sogar weitergehende Nachteile bis zur Beweislastumkehr für den Arzt nach sich ziehen.

Nach alledem kann festgehalten werden, dass im Hinblick auf die präoperative radiologische Planung von Gelenkersatz-Operationen von untergeordneter (allenfalls indizieller) Bedeutung ist, dass die Leitlinie „Endoprothese bei Coxarthrose“ der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie als perioperative Maßnahme eine präoperative Planung anhand standardisierter Röntgenbilder vorsieht (Stand: Mai 2008, nächste Überprüfung geplant: Mai 2013), die Leitlinie „Ventrale Instabilität der Schulter“ ebenfalls der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie jedoch keinen Hinweis auf solch eine präoperative radiologische Planung enthält (Stand: 7/2009, nächste Überprüfung geplant: 7/2014). Hieraus kann insbesondere nicht der Schluss gezogen werden, dass das Unterlassen einer präoperativen radiologischen Planung bei einer Hüftgelenks-Operation immer einen Behandlungsfehler darstellt, bei einer Schultergelenks-Operation hingegen nicht.

Entscheidend ist vielmehr, was im konkreten Einzelfall nach dem Stand der in (nicht entlegenen) Fachzeitschriften veröffentlichten wissenschaftlichen Erkenntnisse als medizinischer Standard anzusehen ist. Diese Frage kann nur im Einzelfall durch einen Sachverständigen beurteilt werden.

Auch die vorhandene Rechtsprechung kann in der Regel nur grundsätzlich weiterhelfen, da die Ergebnisse auf den wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Zeitpunkt der zu beurteilenden Behandlung basieren und in erster Linie im zugrunde liegenden Einzelfall gelten. „Ständige Rechtsprechung“, die besagt, dass das Unterlassen einer präoperativen radiologischen Planung bei Gelenkersatz-Operationen (immer) einen Behandlungsfehler darstellt, gibt es nicht.

Grober Behandlungsfehler

Grob ist ein Behandlungsfehler, wenn er aus objektiver ärztlicher Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der Arzt grundlos auf Standardmethoden verzichtet und den Patient hierdurch vermeidbaren Risiken aussetzt.

Gehört die präoperative radiologische Planung von Gelenkersatz-Operationen im Zeitpunkt der Behandlung zum medizinischen Standard (Unterlassen = Behandlungsfehler) und kommt ein Sachverständiger darüber hinaus zu dem Ergebnis, dass es sich sogar um eine Standardmethode handelt, durch deren grundlosen Verzicht der Patient vermeidbaren Risiken ausgesetzt wurde, wird ein Gericht sehr wahrscheinlich einen groben Behandlungsfehler annehmen. Aber auch in anderen Konstellationen kann der Sachverständige zu dem Ergebnis kommen, dass eine solche Planung schlechterdings nicht hätte unterlassen werden dürfen.

Bei Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers kehrt sich die Beweislast zu Ungunsten des Arztes um. Es muss nicht mehr (wie eigentlich dem Grundsatz nach) der Patient den seine Ansprüche begründenden und somit für ihn „günstigen“ Kausalzusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem bei ihm eingetretenen Schaden beweisen, sondern der Arzt hat zu beweisen, dass dieser grobe Behandlungsfehler nicht ursächlich für den beim Patienten eingetretenen Schaden war. Ein solcher Beweis ist höchst schwierig, sodass in Juristenkreisen leider der Grundsatz „Beweislastumkehr = halber Prozessverlust“ Bestand hat.

Ob die präoperative radiologische Planung bei jeder Gelenkersatz-Operation eine Maßnahme des medizinischen Standards ist, die der Arzt schlechterdings nicht unterlassen hätte dürfen, hat der Sachverständige im Einzelfall zu entscheiden. Die Indizienwirkung der Leitlinien greift hier zugunsten des Arztes, sodass die oben beschriebenen Unterschiede der einzelnen Richtlinien gegen die grundsätzliche Annahme eines groben Behandlungsfehlers sprechen.

Dokumentation

Die Dokumentation dient zur Information während der Behandlung. Tritt ein neuer Behandler in den Behandlungsverlauf ein, muss er sich auf Grundlage der Dokumentation über die bisherigen Behandlungsmaßnahmen informieren können. Letztendlich soll hierdurch der Patient geschützt werden. Auch wenn viele Arzthaftungsprozesse von der Dokumentation abhängen, dient sie nicht der Vorbereitung solcher Prozesse.

Hieraus ergibt sich, dass „nur“ sämtliche medizinisch indizierten Maßnahmen zu dokumentieren sind. Dementsprechend sieht § 10 der Musterberufsordnung vor, dass der Arzt grundsätzlich das medizinisch Notwendige und Wichtige zu dokumentieren hat. Auch die präoperative radiologische Planung ist zu dokumentieren, wenn eine entsprechende medizinische Indikation besteht. Ob im Einzelfall diese medizinische Indikation gegeben und die Planung demnach dokumentationspflichtig war, beurteilt wieder ein Sachverständiger.

Gemäß § 10 Abs. 5 der Musterberufsordnung reicht grundsätzlich auch die elektronische Datenspeicherung, um die Dokumentationspflichten zu erfüllen. Der Arzt hat jedoch Sicherungs- und Schutzmaßnahmen zu ergreifen, um Vernichtung, nachträgliche Veränderungen und Missbrauch zu verhindern. Unterlässt er solche Schutzmaßnahmen, droht ihm abgesehen von berufsrechtlichen Konsequenzen, dass die Beweiskraft solcher Dokumentationen in einem Arzthaftpflichtprozess gemindert ist, sodass er unter Umständen nicht die behandlungsfehlerfreie Durchführung der Operation bzw. die fehlende Kausalität für den beim Patienten eingetretenen Schaden nachweisen kann.

Grundsätzlich können Mängel in der Dokumentation selbst keinen Behandlungsfehler begründen, der Schadensersatz- oder Schmerzensgeldansprüche gegen den Arzt nach sich ziehen könnte. Lediglich in dem Fall, dass der Dokumentationsmangel eine falsche (Weiter-)Behandlung verursacht, kann ein Dokumentationsmangel haftungsbegründend sein.

Im Übrigen gilt eine Maßnahme, die nicht dokumentiert ist, zunächst als nicht durchgeführt. Ebenso kann die Tatsache, dass nicht dokumentiert wurde, wie eine Maßnahme durchgeführt wurde, die Annahme einer behandlungsfehlerhaften Durchführung nach sich ziehen. Der Arzt müsste dann beweisen, dass die Maßnahme doch (behandlungsfehlerfrei) erfolgt ist. Mangels entsprechender Dokumentation müsste er auf andere Beweismittel (z.B. Zeugen) zurückgreifen.

Fazit

Das Unterlassen einer präoperativen radiologischen Planung bei Gelenkersatz-Operationen stellt nur dann einen Behandlungsfehler dar, wenn ein Sachverständiger auf Grundlage der (nicht entlegenen) Fachliteratur im konkreten Einzelfall zu dem Ergebnis kommt, dass eine solche Planung medizinischer Standard im Zeitpunkt der Behandlung ist. Die Ausführungen in den einschlägigen fachlichen Leitlinien stellen lediglich Indizien dar.

Der Behandlungsfehler ist im Einzelfall lediglich dann als grob einzustufen, wenn die Durchführung der präoperativen radiologischen Planung eine Standardmaßnahme darstellt, die der Arzt schlechterdings nicht unterlassen durfte. Dies würde zu einer Beweislastumkehr führen, sodass der Arzt beweisen müsste, dass das Unterlassen der präoperativen radiologischen Planung nicht ursächlich für den beim Patienten eingetretenen Schaden war.

Die präoperative radiologische Planung ist zu dokumentieren, wenn sie medizinisch notwendig und wichtig ist. Hierbei reicht die elektronische Speicherung aus, wenn der Arzt Sicherungsmaßnahmen ergreift. Fehlen solche Sicherungsmaßnahmen, ist die elektronische Dokumentation im Arzthaftungsprozess weniger beweiskräftig.

Wie auch im Arzthaftungsprozess, hängt es vom Stand der Wissenschaft und dem sich hieraus ergebenden medizinischen Standard ab, ob das Unterlassen einer präoperativen radiologischen Planung bei einer Gelenkersatz-Operation einen (groben) Behandlungsfehler darstellt. Das Gericht wird in einem Arzthaftungsprozess sein Augenmerk darauf richten, ob der Gelenkersatz behandlungsfehlerfrei eingesetzt ist. Ob der unsachgerechte Einsatz eines Gelenkersatzes auf dem Unterlassen einer präoperativen radiologischen Planung oder unzureichender Durchführung der Operation beruht, ist eine Frage der im Einzelfall bei der Behandlung zu erfüllenden Sorgfaltspflichten. In jedem Fall sollte sich der Arzt jedoch nicht ausschließlich auf die Ausführungen in einschlägigen Leitlinien verlassen, sondern Zweifel durch Ermittlung des medizinischen Standards anhand des in den gängigen Fachzeitschriften veröffentlichten Stands der Wissenschaft ausräumen.

Korrespondenzadresse

RA Dr. Christoph Osmialowski

Kanzlei für ArztRecht

Fiduciastraße 2

76227 Karlsruhe

E-Mail: kanzlei@arztrecht.org

Internet: www.arztrecht.org

SEITE: 1 | 2