Übersichtsarbeiten - OUP 05/2020
Interventionelle Schmerztherapie in der Behandlung chronischer SchmerzenEin „no go“ oder Option in der Komplexbehandlung?
Jens Adermann, Jan Holger Holtschmit
Zusammenfassung:
Der Einsatz interventioneller Verfahren in der Behandlung chronischer Schmerzen ist umstritten. Zum einen bieten interventionelle Therapieverfahren die Möglichkeit einer genauen Differentialdiagnostik und einer gezielten Schmerzausschaltung, zum anderen bergen sie die Gefahren einer weiteren Chronifizierung und Bestätigung des Patienten in seinem somatischen Krankheitsverständnis. Der Schlüssel zum erfolgreichen Einsatz interventioneller Verfahren in der Therapie chronischer Schmerzen liegt dabei in der kritischen und interdisziplinären Indikationsstellung. Eingebettet in eine Komplexbehandlung, können interventionelle Therapieverfahren ein wichtiger Baustein einer effizienten Therapie sein. Der vorliegende Artikel beleuchtet die Evidenz der zum Einsatz kommenden Verfahren als Grundlage für alle an der Komplexbehandlung beteiligten Berufsgruppen und gibt praktische Hinweise für deren Umsetzung.
Schlüsselwörter:
Multimodale Schmerztherapie, epidurale Injektion, Facettengelenksblockade, Osteochondrose
Zitierweise:
Adermann J, Holtschmit JH: Interventionelle Schmerztherapie in der Behandlung chronischer Schmerzen. Ein „no go“ oder Option in der Komplexbehandlung.
OUP 2020; 9: 320–325 DOI 10.3238/oup.2020.0320–0325
Summary: The use of interventional procedures in the treatment of chronic pain is controversial. On the one hand, interventional therapy methods offer the possibility of an accurate differential diagnosis and targeted pain elimination, on the other hand, they contain the dangers of further chronicity and confirmation of the patient in his somatic understanding of disease. The key to the successful use of interventional procedures in the treatment of chronic pain lies in the critical and interdisciplinary diagnostic evaluation. Embedded in a multidisciplinary pain management program, interventional therapy can be an important component of an efficient therapy. This article examines the evidence of the methods used as a basis for all professional groups involved in multidisciplinary treatment and provides practical information for their implementation.
Keywords: multimodal pain therapy, epidural injection, facet joint blockade, osteochondrosis
Citation: Adermann J, Holtschmit JH: Interventional pain therapy in the treatment of chronic pain. A „no go“ or option in complex treatment. OUP 2020; 9: 320–325 DOI 10.3238/oup.2020.0320–0325
Jens Adermann: Klinik für Manuelle Therapie, Hamm
Jan Holger Holtschmit: Marienhauskrankenhaus St. Wendel
Einleitung
Im Rahmen der interventionellen Schmerztherapie kann nahezu jede anatomische Struktur des menschlichen Körpers mit oder ohne Zuhilfenahme bildgebender Verfahren mittels in den Körper eingebrachter Kanülen erreicht werden. Dabei können verschiedene flüssige oder gasförmige Substanzen aber auch thermische Energie, elektromagnetische Wellen oder Radionuklide im Zielort appliziert werden. Durch immer bessere Technik der Computertomographie, Röntgendurchleuchtung und Magnetresonanztomographie geschieht dies mit immer geringerer Strahlenbelastung für den Patienten. Vor allem die Weiterentwicklung der Sonographie hinsichtlich Bildqualität, immer kompakterer Abmessung der Geräte und immer geringerer Anschaffungskosten führte zu neuen strahlungsfreien Anwendungsmethoden. Während früher bildgestützte interventionelle Verfahren vor allem an Kliniken oder in radiologischen Praxen etabliert waren, können diese Methoden heute flächendeckend auch in kleinen Behandlungseinheiten angeboten werden.
Neben der Technik der Bildgebung hat sich auch die zur Verfügung stehende Auswahl an applizierbaren Substanzen stetig weiterentwickelt. Während früher vor allem Kortikoide und Lokalanästhetika zum Einsatz kamen, hat sich das Spektrum heute in Richtung plättchenreiches Plasma, Hyaluronsäure und Botulinumtoxin erweitert. Auch im Bereich der Neurostimulation wurden die eingesetzten Geräte hinsichtlich Abmessung, Bedienbarkeit und Akkulaufzeit stetig weiterentwickelt.
Diese Entwicklungen führen dazu, dass interventionelle Verfahren in der Behandlung von Schmerzen einen immer größeren Stellenwert haben. Eine verlässliche Statistik über die Mengenzunahme interventioneller Verfahren in der Schmerztherapie in Deutschland ist nicht verfügbar, da unter dem Oberbegriff „interventionelle Verfahren“ verschiedene Prozeduren unterschiedlicher Leistungserbringer zusammengefasst werden. Sicher ist jedoch, dass die Zahl der Interventionen stetig steigt. Eine amerikanische Studie aus dem Jahr 2016 zeigte für Interventionen an den lumbalen Facettengelenken und Iliosacralgelenken eine jährliche Steigerung von ca. 10 % über den Beobachtungszeitraum von 2000 bis 2014 [15].
Gleichzeit ist jedoch der Einsatz interventioneller Techniken bei chronischen Schmerzpatienten umstritten. Im angloamerikanischen Sprachraum tauchen interventionelle Verfahren unter dem Begriff des „interdisciplinary chronic pain management“ kaum auf [9]. Hier versteht sich die multimodale Schmerztherapie vor allem als verhaltenstherapeutische Therapie, welche sich an die im Vorfeld unter Umständen schon zahlreich durchgeführten interventionellen Therapieversuche anschließt.
Eine solch klare Trennung zwischen einem verhaltenstherapeutisch basierten, auf das biopsychosoziale Modell aufbauende multimodale Konzept und einem interventionell geprägten unimodalen Konzept findet sich außerhalb der USA in der Literatur nicht. So werden bereits in Kanada [17] interventionelle Verfahren als Bestandteil der multimodalen Schmerztherapie genannt.
In Deutschland muss zwischen den Empfehlungen für die multimodale Schmerztherapie (OPS 8–918) und der multimodal-nichtoperativen Komplextherapie des Bewegungssystems (OPS 8–977) unterschieden werden. Die ad-hoc-Kommission „Multimodale Schmerztherapie“ der Deutschen Schmerzgesellschaft sieht interventionelle Verfahren nicht als regelhaften Bestandteil einer multimodalen Therapie. Sie lässt den Einsatz dieser Verfahren zwar zu, mahnt aber eine sorgfältige Indikationsstellung und Integration in das biopsychosoziale Gesamtkonzept an [3]. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang das in weiten Teilen interventionell ausgerichtete Weiterbildungs-Curriculum zur Erlangung der Zusatzbezeichnung „Spezielle Schmerztherapie“.
Im Gegensatz zur multimodalen Schmerztherapie werden interventionelle Techniken in der multimodal-nichtoperativen Komplextherapie des Bewegungssystems nicht nur als eingeschränkt mögliche Option, sondern als regulärer Bestandteil angesehen [20]. Da beide Komplexbehandlungen bei chronischen Schmerzpatienten angewandt werden, stellt sich die Frage, warum interventionelle Verfahren offensichtlich in verschiedenen Konzepten unterschiedlich beurteilt werden. Im Folgenden sollen 3 Thesen zum Einsatz interventioneller Verfahren bei chronischen Schmerzpatienten aufgestellt und begründet werden: