Übersichtsarbeiten - OUP 02/2014
Leitlinie zur konservativen und rehabilitativen Versorgung bei Bandscheibenvorfällen mit radikulärer Symptomatik1Gekürzte Version der Originalfassung vor Bestätigung der Aktualisierung durch die DGOOC
Voraussetzung für das Auftreten eines Bandscheibenvorfalls ist eine schicksalhafte Bandscheibendegeneration mit Fissuren im Anulus fibrosus. Die traumatische Zerstörung einer nicht degenerativ veränderten Bandscheibe ist extrem selten.
Die klinische Symptomatik bandscheibenbedingter Beschwerden kann vielfältig sein. Vom akuten Hexenschuss, der plötzlich einsetzt und ebenso rasch wieder verschwindet, bis zu chronisch rezidivierenden Schmerzen gibt es alle Übergänge.
Unter einem lokalen Lumbal-, Thorakal- oder Halswirbelsäulensyndrom versteht man alle klinischen Erscheinungen, welche auf degenerative und funktionelle Störungen lumbaler , thorakaler oder zervikaler Bewegungssegmente zurückzuführen sind und in ihrer Symptomatik im Wesentlichen auf die Lumbal-, Thorakal- oder Zervikalregion beschränkt bleiben. In der Regel dominieren im klinischen Erscheinungsbild schmerzhafte Bewegungseinschränkungen und muskuläre Verspannungen ohne radikuläre Reizungen.
Das Facettensyndrom oder Bogengelenkssyndrom beruht auf Folgeerscheinungen der Bandscheibendegeneration. Durch segmentale Instabilitäten kommt es zu degenerativen Folgeveränderungen an den Bogengelenken. Folgen können schmerzhafte Spondylarthrosen, lokale oder regionale spinale Stenosen, Rezessusstenosen sein. Meist bestehen lokale oder pseudoradikuläre Beschwerden.
Radikuläre Reizungen und damit segmental ausstrahlende Schmerzen in die Arme (Brachialgie), den Thorax (Dorsalgie, Intercostalneuralgien) oder die Beine (Ischialgie) werden durch direkten Druck oder räumliche Beengung nervaler Strukturen verursacht. Myelopathien entstehen durch direkten Druck auf das Myelon und können zervikale, brachiale, thorakale und lumbale Nervenwurzelreizungen, Paresen und Gangstörungen verursachen.
Unter einer Ischialgie (Ischias, Lumboischialgie) versteht man ein Lumbalsyndrom mit Beteiligung der Spinalnervenwurzeln L5 und S1, zum Teil L4 und S2, aus denen sich der Ischiasnerv zusammensetzt. Ein Lumbalsyndrom mit Beteiligung der Spinalnervenwurzeln L2, L3 und zum Teil L4 betrifft die Wurzeln des N. femoralis und wird als hohes lumbales Wurzelsyndrom bezeichnet. Ursachen sind meistens Protrusionen oder Prolapse. Die Bedrängung der Nervenwurzeln durch das verlagerte Bandscheibengewebe erfolgt i.d.R. direkt in Höhe der erkrankten Bandscheibe. Extradiskal gelegenes Prolapsgewebe kann die Nervenwurzeln, aber auch hinter dem Wirbelkörper oder im Zwischenwirbelloch (infraforaminal) komprimieren. Als weitere Ursachen auf degenerativer Basis kommen knöcherne Bedrängungen durch appositionelles Wachstum an den Wirbelhinterkanten oder an den Gelenkfacetten im Rahmen der Spinalkanalstenose vor.
An der Halswirbelsäule entstehen ausstrahlende Schmerzen in den Arm als Brachialgie bzw. Zervikobrachialsyndrom. Gravierende Lähmungen und das seltene Zerviko-medulläre-Syndrom stellen eine akute Indikation zur Operation dar.
Thorakale Wurzelsyndrome sind selten und treten oft als sog. Intercostalsyndrome auf. Sie erfordern selten operative Eingriffe.
Segmentale Instabilitäten in der Folge der durch die Bandscheibendegeneration instabilen Segmente können lokale Beschwerden (vor allem belastungsabhängige Beschwerden), aber auch Nervenwurzelreizungen bedingen.
Operationsverfahren (kurz aufgelistet)
Derzeit kommen folgende Methoden zur Anwendung:
- Offene Operationen
Indikationen: Bandscheibenvorfall mit gravierenden Lähmungen wie Fallfuß oder Kaudasyndrom.
- a) Offene konventionelle Technik mit breitem Zugang,
- b) In Mikro-Technik.
- Perkutane Verfahren
- a) Chemonukleolyse,
- b) Perkutane automatisierte Diskotomie und Laserdiskotomie.
- Fusionen
- Dorsale und ventrale Fusionen.
- Künstliche Bandscheiben
- Interspinöse Interponate
2 Grundlegendes Vorgehen
2.1 Grundlegende Diagnostik
Die Diagnostik beim radikulären Rückenschmerz hat mehrere Ziele:
- a) Erkennen der Beschwerdeursachen (auf somatischem, psychischem oder sozialem Bereich),
- b) Ausschluss schwerwiegender Erkrankungen („red flags“).
Besonderer Beachtung bedürfen dabei die sog. „red flags“. „Red flags“ sind Begleitsymptome und Vorerkrankungen, die als Warnsignal für eine spezifische Ursache mit dringendem Behandlungsbedarf dienen, …
? Originalfassung der Leitlinie mit tabellarischen Übersichten zu: Anamnestische Befunde, Erste orientierende Diagnostik, Psychosoziale Risikofaktoren und Risikofaktoren für Chronifizierung, modifiziert aus der Nationalen Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz.
Studien zur Chronifizierung haben gezeigt, dass psychosoziale Faktoren für den Krankheitsverlauf eine entscheidende Rolle spielen, insbesondere kognitiv, emotional und verhaltensbezogene Merkmale. Diese psychosozialen Risikofaktoren sind für den Übergang von akuten zu chronischen Verläufen von zentraler Bedeutung und sollten daher möglichst frühzeitig erfasst werden. …
Diese psychosozialen Risikofaktoren sollten vorzugsweise während der Anamnese bzw. Verlaufsbeobachtung erhoben werden, können am Anfang durchaus mit Hilfe von Screening-Elementen abgefragt werden. Wichtig ist dabei, dass diese Risikofaktoren innerhalb der ersten 3–4 Wochen erkannt werden, um die über den Zeitverlauf höher werdende Chronifizierungsgefahr möglichst zu beherrschen. Dabei können Merkmale, die primär schmerzunabhängig sind, bereits in der Frühphase erfragt werden (z.B. Depressivität, Zufriedenheit am Arbeitsplatz), andere Merkmale erst im Verlauf (schmerzbezogene Merkmale wie schmerzbezogene Kognitionen oder schmerzspezifisches Verhalten). Je länger die Rückenschmerzen anhalten, umso wichtiger ist die weitergehende auch psychosoziale Anamnese. ...
Es besteht ein hoher Evidenzgrad, dass bei einer Schmerzdauer von mehr als 4 Wochen oder einer Arbeitsunfähigkeit von länger als 2 Wochen psychosoziale Risikofaktoren miterfasst werden müssen.
Andere Risikofaktoren auf psychosozialem Gebiet sind insbesondere berufliche Belastungsfaktoren. …
2.1.1 Klinische Untersuchung
Das Ausmaß der klinischen körperlichen Untersuchung richtet sich immer nach dem Ergebnis der Anamnese. Im Rahmen der körperlichen Untersuchung sollen spezifische Schmerzursachen erkannt werden, zusätzlich akute gefährliche Erkrankungen („red flags“) ausgeschlossen werden.
Als spezifische Tests sind geeignet:
- a. Nervendehnschmerztest (Femoralisdehnschmerztest, Ischiadicusdehnschmerz, Lasègue und Bragard, Nervendehnteste an der oberen Extremität),
- b. Untersuchung der Muskelkraft an entsprechenden Kennmuskeln,
– untere Extremität (Iliopsoas, Quadrizeps, Zehen- und Großzehenheber, Plantarflexion des Fußes)
– obere Extremität (Bizeps- und Trizeps, Kraft der Handgelenke in Extension und Flexion, der Handbinnenmuskulatur). ...
2.1.2 Spezifische zusätzliche
Untersuchung bei segmentalen
Bewegungsstörungen
Im Rahmen der chirotherapeutischen Untersuchung ist bei segmentalen Bewegungsstörungen eine eingehende chirotherapeutische bzw. manualtherapeutische Untersuchung und ein Versuch der stärkeren Eingrenzung der Beschwerden erforderlich.
2.1.3 Bildgebende Verfahren
Wesentlich in der Indikationsstellung zur weiteren bildgebenden Diagnostik ist die Unterscheidung zwischen akuten und chronischen Rückenschmerzen.
a) Akuter Schmerz
Bei fehlendem Hinweis auf gefährliche Risikofaktoren („red flags“) ist eine bildgebende Diagnostik in den ersten 4–6 Wochen nach einem Erstereignis aufgrund der akuten Prognose nicht spezifischer Rückenschmerzen nicht zwingend indiziert [47, 48, 49, 50, 51, 2, 3].