Übersichtsarbeiten - OUP 02/2014

Leitlinie zur konservativen und rehabilitativen Versorgung bei Bandscheibenvorfällen mit radikulärer Symptomatik1
Gekürzte Version der Originalfassung vor Bestätigung der Aktualisierung durch die DGOOC

Die Ergebnisse der bislang vorliegenden Studien weisen auf eine starke Beteiligung psychologischer Faktoren an der Chronifzierung von Rückenschmerzen hin (s. Kap. 2.1 Grundlegende Diagnostik). Darüber hinaus können psychologische Parameter wie Depression und schmerzbezogenes Coping auf einem hohen Evidenzlevel als bedeutende Parameter für ein langfristig negatives Outcome nach Wirbelsäulenoperationen angesehen werden [LoE 1b: 67; 132; 133; LoE 1a 134]. Das Risiko eines „Failed Back Surgery-Syndroms“ kann dadurch erhöht sein [135]. …

Entspannungsverfahren

(Progressive Muskelrelaxation)

Unter den Entspannungsverfahren wird die Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson bei der Behandlung von Schmerzzuständen am häufigsten angewendet. Die Technik hat das Erlernen einer willentlichen, stufenweisen Entspannung muskulärer Strukturen zum Ziel und kann durch autosuggestive Verfahren ergänzt werden. Die Patienten können auf diese Weise eine muskuläre und mentale Entspannung eigenständig herbeiführen. Die Methode der Progressiven Muskelrelaxation wird häufig im Rahmen eines multimodalen Behandlungsprogramms in Kombination mit kognitiv-verhaltenstherapeutischen Maßnahmen eingesetzt.

Es gibt bisher keine Studien, die Entspannungsverfahren (Progressive Muskelrelaxation) zur Behandlung akuter bandscheibenbedingter Schmerzen untersucht haben. …

Auch bei anhaltenden radikulären Schmerzen liegen keine Studien zur Effektivität der Progressiven Muskelrelaxation vor.

2.2.2 Gesundheitsbildung und
Information

Gesundheitsbildung ist ein zentrales Element der Patientenedukation. Diese umfasst unterschiedliche Maßnahmen. Übergeordnetes Ziel der Patientenedukation in der Therapie bandscheibenbedingter Beschwerden ist die Vermittlung von Kompetenzen für eine verbesserte Schmerz- und Krankheitsbewältigung. Hierzu werden im Rahmen der Gesundheitsbildung unter Berücksichtigung von didaktisch-methodischen Aspekten und der Anwendung von Techniken der Verhaltensänderung systematisch individuelle Erfahrungen, Einstellungen und das Wissen von Betroffenen über ihre Erkrankung sowie ihr Gesundheitsverhalten beeinflusst [140; 141]. Zentrale Inhalte in der Therapie bandscheibenbedingter Beschwerden sind u.a. die Vermittlung von Informationen bzw. Wissen zu

  • – Ursachen und Risikofaktoren für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Rückenschmerzen, …
  • – Darstellung eines positiven Funktionsbilds des Rückens (Wirbelsäule, Muskulatur, Bewegungsmöglichkeiten, Stabilisationsmöglichkeiten), …
  • – Bedeutung einer zügigen Wiederaufnahme normaler Alltagsaktivitäten für den Heilungsprozess,
  • – Aufklärung über die Unbedenklichkeit der Durchführung normaler Alltagsaktivitäten und Ermutigung zur Wiederaufnahme normaler Alltagsaktivitäten, …
  • – Bedeutung von Nachsorgeleistungen für die Intensivierung und Stabilisierung erreichter Effekte in der Rehabilitation; Steigerung der Motivation zur Teilnahme an nachsorgenden Leistungen.

Derzeit liegen kaum Studien zur Wirksamkeit von edukativen Maßnahmen in der Akutphase von Bandscheibenvorfällen vor. Ein aktuelles Cochrane-Review belegt, dass Personen mit akuten Rückenschmerzen ohne radikuläre Anzeichen mehr von der Empfehlung, aktiv zu bleiben, profitieren, als von der Empfehlung zur Bettruhe, während für Personen mit Rückenschmerzen und radikulärer Symptomatik moderate Evidenz vorliegt, dass hinsichtlich der Reduktion von Schmerz und Funktionsbeeinträchtigung keine Unterschiede zwischen beiden Empfehlungen bestehen [142]. …

Basierend auf Erkenntnissen zu biopsychosozialen Wirkmechanismen in der Chronifizierung von Rückenschmerz, sollten Personen mit spezifischen Rückenschmerzen und einem hohen Chronifizierungsrisiko bzw. chronifizierten Rückenschmerzen im Rahmen interdisziplinärer Rehabilitationsprogramme mit einem aktiven Behandlungsansatz behandelt werden [181]. …

Rückenschule

Für die Versorgung von Personen mit Bandscheibenvorfall mit Rückenschule liegen bislang keine Studien vor.

Für die Behandlung akuter und subakuter Kreuzschmerzen gibt es widersprüchliche Evidenz zur Wirksamkeit von Rückenschulen im Vergleich mit anderen Therapiemaßnahmen (Outcomes: Schmerz, funktionelle körperliche Einschränkung, Rezidive, Rückkehr zum Arbeitsplatz) [14; 130; 144; 148]. Bei rezidivierend auftretenden Kreuzschmerzen finden sich Hinweise für eine kurz- bis mittelfristige Besserung von Schmerz und Funktionsfähigkeit [144]. Dabei scheint die Rückenschule vor allem in einem berufsbezogenen Setting effektiver zu sein als andere konservative Therapieverfahren (z.B. TENS, Krankengymnastik, Hochfrequenztherapie, Massage) [12; 130; 144; 148]. …

2.2.3 Bewegungstherapie

Bewegung ist ein wesentlicher und zentraler therapeutischer Faktor in der Behandlung bandscheibenbedingter Beschwerden. Bewegungstherapie wird in der Sporttherapie, Krankengymnastik und einzelnen Elementen der Ergotherapie angewandt. Sie ist definiert als „ärztlich indizierte und verordnete Bewegung, die vom Fachtherapeuten bzw. der Fachtherapeutin geplant, dosiert, gemeinsam mit dem Arzt/der Ärztin kontrolliert und mit dem Patienten/der Patientin alleine oder in der Gruppe durchgeführt wird“ [146].

Bewegungstherapie ist eine therapeutische Maßnahme, die bei Personen mit Einschränkungen der funktionalen Gesundheit im Sinne der ICF sowohl auf die Initiierung biologischer Adaptationsmechanismen ausgerichtet ist, als auch einen expliziten Verhaltensbezug aufweist. Ziel ist die Vermittlung gesundheitsorientierter Verhaltensweisen und der Aufbau einer dauerhaften Gesundheitskompetenz. Hierzu werden edukative Elemente der Patientenschulung sowie verhaltenstherapeutisch-fundierte Techniken der Verhaltensänderung systematisch miteinander verknüpft [146].

Für bewegungs- und sporttherapeutische Interventionen in der Behandlung von Bandscheibenvorfällen mit radikulärer Symptomatik lassen sich im Sinne der ICF 3 Zielbereiche differenzieren:

  • a) die Wiederherstellung der physischen Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit (Funktionen),
  • b) der Aufbau von individuellen Handlungskompetenzen im Umgang mit Rückenschmerzepisoden und weiteren Beeinträchtigungen der funktionalen Gesundheit, sowie
  • c) die Hinführung zu einem körperlich aktiven Lebensstil, Wiederaufnahme von Berufstätigkeit und sozialen Aktivitäten (Aktivitäten und Teilhabe) (Arbeitsgruppe Bewegungstherapie, 2009; [144]).

In der Rehabilitation nach Bandscheibenoperationen zeigt ein Cochrane-Review von Ostelo et al. (2011) in der Zusammenfassung, dass Bewegungstherapie, die 4–6 Wochen nach der Operation beginnt, schneller zur Reduzierung von Schmerz und Funktionsbeeinträchtigung führt als keine Behandlung [148]. Darüber hinaus scheinen Bewegungsprogramme hoher Intensität schneller zur Reduktion von Schmerz und Funktionsbeeinträchtigung zu führen als Programme geringer Intensität. Es liegt postoperativ keine Evidenz für ein erhöhtes Risiko einer erneuten Operation durch aktive Behandlungsansätze oder die Beibehaltung bzw. Wiederaufnahme normaler Alltagsaktivitäten vor. Zu dieser Feststellung kommen auch Choi et al. [89]. Sie plädieren für ein frühes Krafttraining (6 Wochen nach OP) mit der medizinischen Trainingstherapie. Beide Studien konnten signifikante Verbesserungen in Bezug auf Schmerzen und Funktion nachweisen. Ein weiteres systematisches Review belegt moderate Evidenz, dass Stabilisierungsübungen bei Personen mit einer durchschnittlichen Symptomdauer von 4 Monaten zur kurzfristigen Reduktion der Schmerzintensität effektiver sind als keine Behandlung [147]. …

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