Übersichtsarbeiten - OUP 01/2023
Lumbaler Bandscheibenvorfall
Alexander Schuh, Philipp Koehl, Nanette Maué, Inge Unterpaintner
Zusammenfassung:
Lumbale Bandscheibenvorfälle finden sich bei Gesunden kernspintomographisch bei 20–30 % der unter 60-Jährigen und bei > 60 % der über 60-Jährigen. Je nach Lokalisation kann der lumbale Bandscheibenvorfall Kreuzschmerzen und/oder Beinschmerzen verursachen. Eine subtile Anamnese und körperliche bzw. neurologische Untersuchung führt häufig zur korrekten Verdachtsdiagnose, die im MRT bestätigt wird. Wichtig ist das Beachten von Differenzialdiagnosen, red flags und die Korrelation des MRT-Bildes mit den klinischen Befunden. Stadiengerecht kann zunächst eine konservative Therapie durchgeführt werden. Ein wichtiger Baustein ist die CT- bzw. Bildwandler gesteuerte transforaminale Injektion von Medikamenten an die Nervenwurzel (periradikuläre Therapie, PRT). Leitliniengerecht stellt das Kaudasyndrom mit Paraparese, Blasen- und Mastdarmstörungen, die auf eine Kaudakompression zurückzuführen sind, progrediente und akut aufgetretene funktionell relevante Paresen vom Kraftgrad ? 3/5 eine OP-Indikation dar.
Schlüsselwörter:
Lendenwirbelsäule, Bandscheibenvorfall, Schmerztherapie, Injektion, Operationsindikation
Zitierweise:
Schuh A, Koehl P, Maué N, Unterpaintner I: Lumbaler Bandscheibenvorfall
OUP 2023; 12: 11–16. DOI 10.53180/oup.2023.0011-0016
Summary: Lumbar disc herniations are found in healthy people in 20–30 % of the under 60 year olds and in > 60 % of the over 60 year old population. Depending on the location, lumbar disc herniation can cause lower back pain and/or leg pain. A subtle medical history and physical or neurological examination often lead to the correct suspected diagnosis, which is confirmed by MRI. It is important to consider differential diagnoses, red flags and the correlation of the MRI image with the clinical findings. Depending on the stage, conservative therapy can be carried out first. An important component is the CT or X-ray image-guided transforaminal injection of medication to the nerve root (periradicular therapy, PRT). In accordance with the guidelines, caudae syndrome with paraparesis, bladder and rectum disorders that can be traced back to caudate compression, progressive and acute functionally relevant pareses with a severity level of ? 3/5 represent an indication for surgery.
Keywords: Lumbar spine, disc herniation, pain management, injection, surgical indication
Citation: Schuh A, Koehl P, Maué N, Unterpaintner I: Lumbar disc herniation
OUP 2023; 12: 11–16. DOI 10.53180/oup.2023.0011-0016
A. Schuh: Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, Sektion für Muskuloskelettale Forschung, Klinikum Fichtelgebirge, Marktredwitz
P. Koehl: Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, Klinikum Fichtelgebirge, Marktredwitz
N. Maué: Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, Sektion für Orthopädie, Klinikum Fichtelgebirge, Marktredwitz
I. Unterpaintner: Orth.med Weiden
* Aus Platzgründen wird bei Personenbezeichnungen & personenbezogenen Wörtern die männliche Form genutzt. Diese Begriffe gelten für alle Geschlechter.
Allgemeines
Lumbale Bandscheibenvorfälle (BSV) finden sich bei Gesunden kernspintomographisch bei 20–30 % der unter 60 Jahre alten Personen und bei > 60 % der über 60 Jahre alten Bevölkerung [1, 13], d.h. die Patienten sind beschwerdefrei, wenngleich im MRT ein BSV erkennbar ist. Das ist eine der wichtigsten Informationen für den täglichen klinischen Alltag, die unser weiteres Handeln bestimmen. Der klinische Alltag ist, dass häufig der aufgeklärte Patient* in die Praxis kommt und auf die Frage, was er für Beschwerden hat, antwortet, dass er einen BSV, gelegentlich sogar 3–4 Bandscheibenvorfälle hätte, MRT-Filme und häufiger nur ausgedruckte Befunde des Radiologen vorlegt! Im idealen Fall antwortet der Patient, dass er Kreuzschmerzen hat, die nicht oder zusätzlich in die Beine ausstrahlen.
Andererseits ist der lumbale BSV mit der kompressionsbedingten Irritation der neuralen Strukturen eine der Ursachen für eine unter Umständen lang andauernde Arbeitsunfähigkeit und führt zu einer Einbuße an Lebensqualität beim Betroffenen [3, 23]. Bei der Lumbalgie handelt es sich um einen Schmerz in der unteren Lumbalregion. Dieser kann mit einer Beweglichkeitseinschränkung und Steifigkeit verbunden sein. Bei der Lumboischialgie strahlen die Schmerzen vom Rücken in die untere Extremität aus. Kann man keine bestimmte Ursache für die Lumbalgie feststellen, spricht man von unspezifischer Lumbalgie (ca. 85 %). Dauern die Beschwerden weniger als einen Monat, spricht man von akuter, andernfalls von chronischer Lumbalgie. 50–85 % der Bevölkerung leiden zumindest einmal im Laufe ihres Lebens an Rückenschmerzen. Die Prävalenz der akuten Lumbalgie liegt zwischen 20 % und 45 % pro Jahr und die akute Lumbalgie ist die zweithäufigste Klage, deretwegen Patienten einen Arzt aufsuchen. Das Leiden nimmt in der Regel einen günstigen Verlauf und ist innerhalb von 6–12 Wochen geheilt [24].
Rückenschmerzen stellen nach Kopfschmerzen das häufigste Schmerzsyndrom mit einer Punktprävalenz von 37 %, einer 1-Jahres-Prävalenz von 76 % und einer Lebenszeitprävalenz von 87 % dar [22]. In Deutschland verursachen Rückenschmerzen unterschiedlichen Berechnungen zufolge 15–30 % der Arbeitsunfähigkeitstage und 18 % aller Frühberentungen. Die direkten und indirekten Kosten betrugen dabei im Jahr 2005 ca. 49 Mrd. Euro, bzw. bis zu 2,2 % des Bruttosozialproduktes [1, 21, 26]. Der lokale Kreuzschmerz wird bei einem medianen BSV durch Dehnung des Anulus
fibrosus und Ausschüttung inflammatorischer Substanzen und/oder Druck auf das hintere Längsband ausgelöst und kann isoliert ohne Beinschmerz vorhanden sein. Der Beinschmerz entsteht durch die Kompression und die entzündliche Reaktion der Nervenwurzel, wenn der BSV mediolateral, intraforaminal oder extraforaminal liegt [1–3]. Davon abzugrenzen sind pseudoradikuläre Beschwerden (vgl. u.). Die Diagnose einer lumbalen Radikulopathie beruht auf der Anamnese und der körperlichen/neurologischen Untersuchung.