Übersichtsarbeiten - OUP 01/2023

Lumbaler Bandscheibenvorfall

Grundsätzlich bedarf ein monoradikuläres Syndrom mit passender Bildgebung und entsprechendem Kompressionsnachweis keiner elektrophysiologischen Bestätigung. In besonderen Fällen kann diese jedoch die Beurteilung von Verlauf und Prognose erleichtern. Die wichtigste Bedeutung bei Radikulopathien kommt der Nadelmyographie zu. Axonale Schädigungszeichen sind bei einer klinisch vorliegenden Radikulopathie jedoch nur bei 50 % der Patienten nachweisbar [1, 17]. In der Regel sollte an den unteren Extremitäten 2–4 Wochen nach Schädigungseintritt untersucht werden.

Die Rolle der somatosensibel und motorisch evozierten Potenziale in der Routinediagnostik von Radikulopathien liegt vorwiegend im Nachweis proximal peripherer Leitungsverzögerungen bei entzündlicher Genese (z.B. Guillain-Barré-Syndrom, Chronic Inflammatory Demyelinating Polyneuropathy). Bei Wurzelläsionen infolge eines BSV sind sie von untergeordneter Bedeutung. Ein pathologischer Befund kann dann weiterhelfen, wenn Zweifel an der somatischen Genese der Beschwerden bestanden haben [1].

Die motorisch evozierten Potenziale (MEP) können bei der häufig vorkommenden polysegmentalen lumbalen Spinalstenose diagnostisch weiterhelfen [1, 25]. Beim Vorliegen mehrerer morphologisch gleichwertiger Engstellen (Stenose, BSV) können im Einzelfall MEP dazu beitragen, die klinisch relevante Stenose zu identifizieren [1].

Bei sog. pseudoradikulären Beschwerden sind die neurologischen und elektrophysiologischen Untersuchungsbefunde unauffällig, Differenzialdiagnosen sind immer auszuschließen (Tab. 3).

Therapie

In zumeist älteren Arbeiten wird darauf verwiesen, dass eine gute spontane Erholung nach einem BSV in den meisten Fällen erfolgt, sodass eine operative Therapie nur selten notwendig ist [4–5, 23]. Die gute spontane klinische Erholung basiert auf den morphologischen Veränderungen des BSV. In einer systematischen Analyse der Literatur wurde untersucht, welche MRT-Veränderungen nach 1 Jahr gefunden wurden. Es zeigte sich, dass sich der BSV in 15–93 % verkleinert oder sogar verschwindet. Die Kompression der Nervenwurzel verringert sich oder verschwindet in 17–91 % [18].

In einem ausführlichen Review aus dem Jahr 2018 stellen Czabanka et al. basierend auf einer Literaturrecherche fest, dass sowohl konservative als auch operative Behandlungsmöglichkeiten für den lumbalen Bandscheibenvorfall effizient sind. Eine individuell abgestimmte Kombination beider Methoden bringt dieser Recherche zufolge die besten Ergebnisse [5, 23].

Konservativ

Das Ziel der konservativen Therapie ist es, die Beschwerden des Patienten zu lindern und dadurch Zeit zu gewinnen, den häufig positiven Spontanverlauf mit Rückbildungstendenz des BSV abzuwarten [14]. Empfohlen werden in den Leitlinien u.a. eine frühe Mobilisierung, nicht steroidale Antirheumatika und Physiotherapie sowie bei chronischen Schmerzen psychotherapeutische Verfahren. Die medikamentöse Therapie radikulärer Schmerzen ist eine rein symptomatische Behandlung. Sie unterstützt im akuten Stadium die nicht-medikamentösen Maßnahmen. In Anlehnung an das WHO-Stufenschema zur medikamentösen Schmerztherapie werden die angewendeten Substanzen in 3 Gruppen nach ihrer analgetischen Potenz eingeteilt. Dabei ist zu betonen, dass die Schmerztherapie heute nicht mehr streng aufbauend nach den einzelnen Stufen gesteigert wird, sondern es kann je nach individueller Situation auch ein primär stärker wirkendes Präparat angewendet werden [1–2]. Zur Verfügung stehen Paracetamol, NSAR und COX-2 Hemmer, Metamizol o.ä. Bei hochgradigen, akuten Beschwerden kann der kurzfristige parenterale Einsatz von Medikamenten gerechtfertigt sein. Die Wirkung der oralen Kortikoidgabe, z.B. Prednisolon 50 mg/d für 3–5 Tage, ist nicht belegt [1]. Bei Therapieresistenz können Opioide bei akuten Schmerzen nach der Leitlinie zur lumbalen Radikulopathie der DGN 2018 [1], für maximal 2–3 Wochen eingesetzt werden, bei chronischen Schmerzen unter Kontrolle der Wirksamkeit auch länger, da bei chronischen Kreuzschmerzen für schwach wirksame Opioide eine Schmerzreduktion belegt ist. Eine Gefahr stellt die zu lange Verschreibung von Opioiden beim lumboradikulären Syndrom dar, da mit der Dauer der Einnahme sich auf längere Sicht das Outcome verschlechtert [3, 6].

Physiotherapie soll zur Schmerzreduktion und segmentalen Entlastung, der Verhinderung immobilisationsbedingter Muskelatrophien, zur Stabilisierung des betroffenen Bewegungssegmentes und zur Wiederherstellung bzw. Optimierung komplexer Bewegungsabläufe bei Patienten mit akuten radikulären Symptomen eingesetzt werden [1–3]. Chirotherapeutische Manipulationen sind bei einem BSV kontraindiziert [1]. Die Traktionsbehandlung sollte bei der konservativen Behandlung von Patienten mit akuter radikulärer Symptomatik des BSV nicht zur Entlastung des betroffenen Bewegungssegmentes und zur Schmerzlinderung eingesetzt werden, jedoch bei subakuten Beschwerden [1–3]. Dieselbe Empfehlung wurde im Hinblick auf die Massage-/Elektrotherapie und Ultraschallbehandlung ausgesprochen [1–2]. Dagegen kann eine Thermotherapie, hydro- bzw. balneotherapeutische Verfahren bei Patienten mit akuter radikulärer Symptomatik angewandt werden [1–2]. Orthesen sollte nur in Einzelfällen mit akuter radikulärer Symptomatik erwogen werden [1, 3]. Ein wichtiger Baustein in der konservativen Therapie von BSV stellen interventionelle Verfahren dar. Bei der interventionellen Therapie wird durch lokale Injektion schmerzstillender und entzündungshemmender Mittel an den Schmerzausgangspunkt der Nozizeption die Primärstörung direkt beeinflusst. Es erfolgt eine CT- bzw. Bildwandler gesteuerte transforaminale Injektion von Medikamenten an die Nervenwurzel (periradikuläre Therapie, PRT). In der klinischen Routine finden Lokalanästhetika, nichtkristalloide und kristalloide Glukokortikoide Anwendung. Ein Vorteil kristalloider Glukokortikoide liegt in ihrer hohen lokalen Wirkkonzentration bei geringer Abflutungstendenz, wodurch auch entsprechend geringere systemische Nebenwirkungen erreicht werden können. Trotz langjähriger Erfahrung in der epiduralen Anwendung von kristalloiden Glukokortikoiden besitzen diese für diesen Anwendungsbereich keine Zulassung („off-label use“). Wird die PRT korrekt durchgeführt, kann eine Besserung der Symptomatik herbeigeführt werden. Dann kann auch die konservative Therapie fortgesetzt werden. Somit ist es schließlich möglich, die idealen Patienten für eine Operation herauszufiltern, indem nur diejenigen operiert werden, bei denen die PRT nicht -dauerhaft- gewirkt hat. Auch diagnostische Injektionen zur Evaluation der symptomatischen Nervenwurzel sind hilfreich. Zahlreiche Studien konnten zeigen, dass die Ergebnisse besser sind, wenn das Medikament die Nervenwurzel (präganglionär) erreicht [3, 8–9, 14].

Operativ

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