Übersichtsarbeiten - OUP 05/2023

Management neuropathischer Schmerzen
Ein erfahrungs- und evidenzbasierter Behandlungsalgorithmus

Carolin Meyer, Christian Wille

Zusammenfassung:
Schmerzen sind Leitsymptom zahlreicher Erkrankungen. Patientinnen und Patienten mit chronischen Schmerzen weisen ein besonders hohes Risiko für individuelle, aber auch soziale und gesellschaftliche Folgebelastungen auf. Bewusstsein und Wissen über die Pathomechanismen chronischer Schmerzverläufe, die Bedeutung neuropathischer Schmerzen als Folge einer Chronifizierung sowohl für die Patientin/den Patienten selbst als auch für die Gesellschaft und deren Therapieresistenz sind in der ärztlichen Profession weiterhin erstaunlich unterentwickelt. Dies führt in der Praxis zu Unterversorgung und jahrelangen Leidenswegen einerseits und zu ineffizienter Positivsymptome und Übertherapie andererseits.
Aus pathophysiologischer Sicht gilt, dass jeder Schmerzzustand – unabhängig von der Ursache – je nach Dauer und Intensität strukturelle und funktionelle Veränderungen in schmerzleitenden, -verarbeitenden und -kontrollierenden Nervensystemanteilen nach sich ziehen kann. Es resultieren Schmerzsyndrome, die mit fortschreitender Chronifizierung neuropathische Komponenten erwerben und sich zunehmend therapieresistent gegenüber konventionellen Therapiemaßnahmen verhalten. Die erste große Herausforderung besteht darin, neuropathische Schmerzkomponenten zu erkennen, um eine adäquate Diagnostik zu veranlassen. Die zweite beinhaltet, zeitgerecht eine aussichtsreiche Therapie einzuleiten und weiterer Chronifizierung entgegenzuwirken. Allenfalls jede/r dritte Betroffene mit chronisch neuropathischen Schmerzen ist mit konservativen Therapiemaßnahmen wie medikamentöser Therapie, psycho-, physio- und ergotherapeutischer Behandlung langfristig zufriedenstellend behandelbar. Verschiedene interventionelle Ansätze haben nachgewiesen kurz-, mittel- aber auch langfristig effektive Behandlungsergebnisse gezeigt. Methoden der modernen minimalinvasiven, neuromodulativen Schmerztherapie wie die Spinal Cord Stimulation (SCS) und die Neurostimulation des Spinalganglions (DRG) stellen zusätzliche effektive Optionen dar, sowohl in Bezug auf die individuelle Schmerzlinderung, Verbesserung der Lebensqualität als auch hinsichtlich der (Folge-)Kosten.

Schlüsselwörter:
Chronischer Schmerz, neuropathischer Schmerz, Dysästhesie, Neuromodulation

Zitierweise:
Meyer C, Will C: Management neuropathischer Schmerzen. Ein erfahrungs- und evidenzbasierter
Behandlungsalgorithmus
OUP 2023; 12: 193–199
DOI 10.53180/oup.2023.0193-0199

Summary: Pain appears to be a leading symptom of many diseases. Patients suffering from chronic pain are of high risk to develop comorbidities coming along with profound personal- and social disadvantages. Knowledge and awareness about pathomechanisms leading to chronic pain, the individual and social consequences of neuropathic pain as result of chronification as well as its high prevalence of therapy resistance are still not common amoung medical professionals. In daily practice patients are either subject to medical neglect in years of suffering or over-diagnosed and -treated.
Pathophysiologically every pain condition depending on duration und intensity and independent from origin will provoke ongoing structural and functional changes in pain-conducting, -processing and -controlling parts of the nervous system. The resulting pain syndromes, which acquire neuropathic features along the chronification process, exhibit increasing resistance to conventional therapies.
To recognize neuropathic pain components, in order to initiate correct diagnostics appears to be the first challenge. The second challenge includes the timely initiation of the correct therapy, in order to prevent further chronification. Only a third of the patients suffering from chronic neuropathic pain can be treated sufficiently using conservative strategies as medicated therapy, psycho-, physio- or occupational therapy in the long run. Different interventional treatment strategies have proven to be effective on short-, middle- or long-term outcome. Modern, minimally invasive methods of neuromodulation as spinal cord stimulation (SCS) and dorsal root ganglion stimulation (DRG) represent additional and effective options for pain management regarding individual improvement of pain and quality of life as well as the entailing costs.

Keywords: Chronic pain, neuropathic pain, pain management, dysaesthesia, neuromodulation

Citation: Meyer C, Wille C: Management of neuropathic pain. An experience- and evidence-based
treatment algorithm
OUP 2023; 12: 193–199. DOI 10.53180/oup.2023.0193-0199

Carolin Meyer: Helios-Klinikum Bonn/Rhein-Sieg, Abteilung für Orthopädie, Unfall- und Wirbelsäulenchirurgie

Christian Wille: Neurochirurgische Praxis Neuss

Einleitung

Schmerzen sind Leitsymptom zahlreicher Erkrankungen. Bewusstsein und Wissen über die Pathomechanismen chronischer Schmerzverläufe, die Bedeutung neuropathischer Schmerzen als Folge einer Chronifizierung sowohl für die Patientin/den Patienten selbst als auch für die Gesellschaft und deren Therapieresistenz sind in der ärztlichen Profession weiterhin erstaunlich unterentwickelt. Dies führt in der Praxis zu Unterversorgung und jahrelangen Leidenswegen einerseits und zu ineffizienter Überdiagnostik und Übertherapie andererseits.

Als chronische Schmerzen gelten Schmerzen, die länger als 6 Monate anhalten. In Europa sind etwa 95 Millionen Menschen von chronischen Schmerzen betroffen, deutschlandweit etwa 12 Millionen Menschen. Die Prävalenz neuropathischer Schmerzen in der Gesamtpopulation beträgt 3,3–10 % [1, 2].

Laut aktueller Definition der Neuropathic Pain Special Interest Group der International Association for the Study of Pain (NeuPSIG der IASP) sind neuropathische Schmerzen die direkte Folge einer Schädigung oder Erkrankung somatosensorischer Nervenstrukturen im peripheren oder zentralen Nervensystem [3]. Entsprechend des Läsionsortes wird zwischen peripheren und zentralen neuropathischen Schmerzen unterschieden, wobei im chronischen Schmerzverlauf nicht selten Mischformen anzutreffen sind.

Aus pathophysiologischer Sicht gilt, dass jeder Schmerzzustand – unabhängig von der Ursache – je nach Dauer und Intensität strukturelle und funktionelle Veränderungen in schmerzleitenden, -verarbeitenden und -kontrollierenden Nervensystemanteilen nach sich ziehen kann. Diese Phänomene peripherer und zentraler Sensibilisierung werden unter dem Begriff „Wind-up“ zusammengefasst [4]. Es resultieren Schmerzsyndrome, die mit fortschreitender Chronifizierung neuropathische Komponenten erwerben und sich zunehmend therapieresistent gegenüber konventionellen Therapiemaßnahmen verhalten. Diesem Umstand wurde mit der Einführung des Mixed-Pain-Konzeptes und mit einer mehrfachen Überarbeitung der Definition und des Grading-Systems neuropathischer Schmerzen Rechnung getragen [5].

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