Übersichtsarbeiten - OUP 05/2023
Management neuropathischer SchmerzenEin erfahrungs- und evidenzbasierter Behandlungsalgorithmus
Das Spektrum der interventionellen Behandlungsmöglichkeiten bei neuropathischen Schmerzen ist weit gefächert und reicht von Infiltrationstherapien über läsionelle Verfahren bis zu neuromodulativen Therapien. Eine grobe Einteilung dieser Behandlungen nach zu erwartender Wirksamkeit in kurz-, mittel- und langfristig wirksame Therapien ist sinnvoll und hat Implikationen für den Stellenwert im Therapiealgorithmus (Abb. 2).
Infiltrationstherapien wie Plexusanästhesien, Stellatumblockaden, periradikuläre Infiltrationen, periphere Nervenblockaden sind als kurzwirksame Maßnahmen zur Schmerzkontrolle und unter diagnostischen Gesichtspunkten wertvoll. So kann Zeit gewonnen werden bis medikamentöse oder andere Behandlungsstrategien ihre Wirkung entfalten können. Mit Hilfe von Infiltrationen können nicht nur eine neuroanatomische Zuordnung der Schmerzafferenz ermöglicht, sondern auch die Anwendbarkeit einer neuromodulativen Therapiemaßnahme überprüft werden. Beispiele hierfür sind radikuläre Blockaden mit Lokalanästhetika zur Auswahl aussichtsreicher Interventionshöhen für die DRG.
Traditionelle läsionelle Verfahren sind als mittelfristig wirksame Verfahren zwar gegenüber neuromodulativen Interventionen deutlich in den Hintergrund getreten. Thermische Läsionen z.B. beim lumbalen Facettensyndrom, zuletzt in endoskopischer Technik oder bei bestimmten Formen der Trigeminusneuralgie haben jedoch nach wie vor einen Stellenwert in der Behandlung von anderweitig therapieresistenten Schmerzen. Auch Neurotomieprozeduren werden als Rescue-Strategien in der Gelenks- und Allgemeinchirurgie weiterhin angewendet.
Die nicht läsionelle, gepulste Radiofrequenztherapie als jüngstes interventionelles Therapieverfahren zur Behandlung neuropathischer Schmerzen mit ebenfalls mittelfristig anzunehmender Wirkdauer wird sicherlich zukünftig einen größeren Stellenwert einnehmen [27]. Grundsätzlich ähnelt das Radiofrequenzsignal dem der thermischen Läsion. Allerdings wird mit Hilfe eines hochpräzisen Temperaturfühlers eine Gewebserhitzung von mehr als 42 °C unterbunden, um die denaturierenden Effekte hoher Temperaturen und deren Komplikationen zu vermeiden. Neben dem Effekt der Erwärmung werden analog implantatgestützer Neuromodulation elektrische Feldeffekte und immun- sowie genmodulatorische Wirkmechanismen diskutiert [28]. Die Technik ist einfach und risikoarm, die Evidenzlage deutlich verbessert, so dass der andauernde Widerstand der Kostenträger in Deutschland, diese Behandlung zu vergüten, zunehmend fragwürdig erscheint.
Implantatgestützte neuromodulative Therapieverfahren stehen als potenziell langfristig wirksame Methoden in Form der peripheren Nervenstimulation, der Spinalganlienstimulation (DRG), der epiduralen Rückenmarksstimulation (SCS) und letztlich auch der Hirnstimulation zur Verfügung. Seit Einführung und Verfügbarkeit implantierbarer Impulsgeneratoren vor mehr als 50 Jahren hat insbesondere die SCS ihre Effizienz in der Therapie chronisch neuropathischer, aber auch nicht neuropathischer Schmerzen vielfach bewiesen [9]. Stellenwert, Indikationen, Voraussetzungen und Durchführung der SCS zur Therapie chronischer Schmerzen sind für das deutsche Gesundheitswesen in einer interdisziplinären S3-Leitlinie dargestellt [29]. Diese Leitlinie steht aktuell nach Überarbeitung zur Veröffentlichung an, da in den letzten 10 Jahren enorme technologische Fortschritte und eine erhebliche Diversifizierung in Bezug auf Implantate, Stimulationsparadigmen, -targets und resultierend Therapieoptionen stattgefunden haben. Die Einführung hochfrequenter Stimulationsparadigmen wie HF 10 (kontinuierliche Stimulation mit 10 KHz) oder Burst (Stimulation mit 500Hz Salven einer speziellen Waveform) hat nicht nur die Art der Implantation modifiziert, sondern vor allem auch Stimulationskomfort, Therapieeffizienz und wissenschaftliche Überprüfbarkeit verbessert [30]. Die Einführung der DRG-Stimulation hat zu einer erheblichen Verbesserung der Therapierbarkeit vor allem peripherer neuropathischer Schmerzen geführt [30].
Therapiealgorithmus
Jeder Therapiealgorithmus muss von einem diagnostischen Algorithmus begleitet werden (Abb. 1). Der diagnostische Algorithmus beinhaltet ein Assessment der Wahrscheinlichkeit neuropathischer Schmerzen (Grading), eine Erhebung zur schmerzbedingten individuellen Beeinträchtigung auf physischer, psychischer und sozialer Ebene und die Klärung der Frage zur Kausalität. Eine regelmäßige Evaluation sollte nicht nur die Effektivität therapeutischer Maßnahmen, sondern auch immer wieder die Frage nach der Kausalität beinhalten. Chronische Schmerzzustände, die vordergründig als nicht neuropathisch klassifiziert wurden, sollten vor allem bei Therapieresistenz einer Reevaluation bezüglich neuropathischer Schmerzkomponenten unterworfen werden.
Abbildung 2 stellt den empfohlenen erfahrungs- und evidenzbasierten Algorithmus zur Therapie neuropathischer Schmerzen dar. Dieser skizziert ein Ideal und ist in der aktuellen Versorgungsrealität schwierig umsetzbar. Vor allem um sozialen und psychischen Komplikationen zuvorzukommen, spielt die Zeit eine wichtige Rolle. Bei der Tiefen-Hirnstimulation (DBS) zur Therapie des Idiopathischen M. Parkinson wurde der Begriff des sekundären Therapieversagens so interpretiert, dass bei zu spätem Einsatz, wenn der Betroffene bereits zu weit im krankheitsbedingten sozialen Rückzug fortgeschritten ist, zwar die primären Therapieziele wie Verbesserung der motorischen Symptomkontrolle und Medikamentenreduktion erreicht, sekundäre Ziele wie Verbesserung der Lebensqualität jedoch verfehlt werden. Gleiches ist für chronische Schmerzpatientinnen/-patienten anzunehmen. Zu fordern ist bei Vorliegen einer der etablierten Hauptindikationen der epiduralen Rückenmarksstimulation, dass unter Ausschöpfung des konservativen, kausalen und kurz- bzw. mittelfristig wirksamen interventionellen Therapiespektrums spätestens nach 1 Jahr die Eignung geprüft und die neuromodulative Therapie angeboten wird. Wichtig ist, dass diese Patientinnen und Patienten auch nach erfolgreicher Intervention weiterhin in multimodale Versorgungsstrukturen eingebunden bleiben müssen, nicht zuletzt, da die Nachsorge entscheidend für die langfristig stabile und erfolgreiche neuromodulative Therapieführung ist.
Auch die ärztliche Zuständigkeit sollte entlang der genannten Zeitachse eine Evolution durchlaufen. Während anfänglich für erste medikamentöse Therapieversuche die Betreuung durch Haus- oder Facharzt als adäquat angesehen werden kann, sollte zwischen 6. und 12. Monat eine Schmerztherapeutin/ein Schmerztherapeut in die Behandlungskoordination einbezogen werden. Idealerweise sollten diese Schmerztherapeutinnen/Schmerztherapeuten das interventionelle und neuromodulative Therapiespektrum kennen und geeignete Patientinnen/Patienten selektieren, um eine Indikation interdisziplinär zu prüfen. Dies würde voraussetzen, dass die Schmerztherapeutin/der Schmerztherapeut entweder zur Anwenderin/zum Anwender wird oder eng mit einer Anwenderin/einem Anwender zusammenarbeitet. Aktuell dürfte dies nur für eine Minderheit der in Deutschland tätigen Schmerztherapeutinnen/Schmerztherapeuten zutreffen. Eine erfolgreiche Therapie chronischer Schmerzen und vor allem chronischer neuropathischer Schmerzen wird immer den Perspektivwechsel einer interdisziplinären Behandlung erfordern.